Tambara. Heike M. Major
Читать онлайн книгу.dem Labor, die die ersten Befruchtungsversuche außerhalb des menschlichen Körpers zeigten, Vergrößerungen von historischen Zeitungsartikeln mit Informationen, Kommentaren und kontroversen Diskussionen, grafische Darstellungen wissenschaftlicher Versuchsreihen zur Entwicklung gentechnisch optimierter Nahrungsmittel und Fotografien geschichtlich bedeutender, systematisch gezüchteter Klonreihen, angefangen bei den ersten Tierversuchen, über die späteren Experimente am Menschen, bis hin zu den wenigen erwachsen gewordenen Klonen des Homo sapiens.
Besonderen Respekt zollte man in jenen Tagen einer Gruppe von hochintelligenten geklonten Persönlichkeiten, die maßgeblich an der Entwicklung und Züchtung von Labororganen beteiligt gewesen waren. Und hier kam schon der erste kritische Punkt. Reb hatte nämlich nicht nur Material über die Forschungsergebnisse zusammengestellt, sondern auch gewagt, die Entwicklung dieser wissenschaftlich phänomenalen Leistung mithilfe von Tagebuchnotizen eines ihrer Mitglieder zu dokumentieren.
Geduldige Leser konnten so zum Beispiel erfahren, dass viele Wissenschaftler ihre Bestimmung als Klon ihr Leben lang als unwürdig, wenn nicht gar demütigend empfunden und sich der Forschergruppe nur angeschlossen hatten, um ihren Nachkommen ein eben solches – gesellschaftlich isoliertes – Dasein, das vornehmlich durch die vergleichsweise bescheidenen Vorgaben seines jeweiligen Erfindergeistes geprägt worden war, zu ersparen. Selbst die Klügsten unter diesen im Computer entworfenen Menschen hatten nie ein Leben in Freiheit führen können. Von Geburt an gezwungen, ihren vorprogrammierten Neigungen nachzugehen, war ihnen die Erforschung ihrer eigenen Person verwehrt geblieben. Hatte ein Klon doch einmal eine Begabung außerhalb des geplanten Programms entwickelt – wahrscheinlich ein Resultat des nie ganz risikofreien Bausteins „Kreativität“ –, fristete sein Talent meist ein unverdientes Schattendasein. Da die Entwicklung dieser Menschenart in jedem Einzelfall penibel dokumentiert und von jedermann in der Fachliteratur nachzulesen war, begegnete man den geklonten Persönlichkeiten fast immer mit Vorurteilen. Die Mitbürger brachten ihnen zwar uneingeschränkte Bewunderung entgegen, zeigten aber an privaten, nicht wissenschaftlich fundierten Neigungen wenig Interesse.
Natürlich war jeder Einwohner der Stadt Tambara irgendwann einmal in seinem Leben mit diesem unerfreulichen Aspekt der menschlichen Forschungsgeschichte in Berührung gekommen, doch sprach man nicht gern über die Irrwege vergangener Jahrhunderte. Lieber betonte man, dass die Erzeugung von Klonmenschen schlichtweg zu langwierig und damit wirtschaftlich unrentabel gewesen war, während die Züchtung von nachwachsenden Organen im Labor sich recht schnell zu einem profitablen Unternehmen entwickelt hatte und auch für den Normalbürger nicht zu übersehende Vorteile mit sich brachte.
Reb beobachtete die Gäste, wie sie sich noch ein wenig zögernd von Bild zu Bild bewegten und offensichtlich froh waren, mit den Inhalten des Eingangsbereiches etwas anfangen zu können. Die Tagebuchnotizen wurden registriert, doch nach einem kurzen Blick auf das vergrößerte Werk wanderten die Besucher weiter. Hatten sie die Bedeutung der Texte nicht erkannt? Oder trauten sie sich noch nicht an das Thema heran?
Neben dem Durchgang zum zweiten Raum prangte ein zwei Meter großes Bild des Schafes Dolly. Eine Mutter stand mit ihrem knapp fünfjährigen Sohn davor und versuchte ihrem Kind die Bedeutung des Wortes „Schaf“ zu erklären.
„D…, D…, Do…, Dol…, Dolllllly“, juchzte der Kleine triumphierend, während er die Schrift neben dem Foto entzifferte.
Die Mutter wirkte merkwürdig unzufrieden.
Als Reb an ihr vorüberging, hörte er sie sprechen.
„Das ist kein Dolly, das ist ein Schaf, hörst du? Ein Schaf!“
Ihr Sohn blickte sie ungläubig an.
„Ein Schaf ist ein Tier“, erklärte die Frau weiter. „Was ein Tier ist, weißt du doch, oder?“
Der Junge nickte verunsichert.
„Siehst du. Dieses Tier ist ein Schaf. Und das Schaf hat einen Namen. Der Name dieses Schafes ist Dolly.“
Vorsichtshalber hielt der Kleine den Mund. Er wollte seine Mutter nicht noch mehr erzürnen. Die Frau warf einen forschenden Blick durch den Türbogen zu den nachfolgenden Fotografien hinüber und entschied sich, ihrem Sohn die weiteren Ausstellungsräumlichkeiten vorzuenthalten. Mit ihrem verdutzten Sprössling an der Hand spazierte sie zum Eingang zurück.
Im nächsten Raum kämpfte eine junge Dame mit einem Anflug von Übelkeit. Sie hatte sich in ein Foto vertieft, auf dem eine Organtransplantation gezeigt wurde. Viele vermummte Gestalten in grünen Kitteln beugten sich über einen Patienten, von dem nur die bloß gelegte Operationsstelle zu sehen war. Ein Chirurg tauchte gerade sein Skalpell in die Wunde.
Der Freund der Frau suchte nach beruhigenden Worten.
„Bei der Operation deines Vaters warst du doch auch dabei. Damals hat dich nur eine Glaswand vom OP-Tisch getrennt.“
„Ja, schon“, erklärte die Frau, „aber da operierten Roboter. Hier sind es Menschen.“
Ihre Magengegend mit beiden Armen umschlingend, schielte sie, den Körper halb abgewandt, zu den Personen auf dem Bild hinüber.
„Wenn diese Hände nun anfangen zu zittern?“
„Du machst dir zu viele Gedanken“, tröstete der Freund. „Die Chirurgen von damals verstanden ihr Handwerk. Außerdem handelt es sich um ein Stück Geschichte. Der Patient auf dem Foto ist doch längst …“
Bestürzt hielt er inne und schaute seine Freundin an.
„Eben“, konterte diese, drehte sich um und spazierte davon.
Der junge Mann folgte ihr seufzend.
Reb setzte seinen Ausstellungsführer auf und vertiefte sich selbst noch einmal in das Bild von der Operation.
„Stichwort ‚Organspende’“, sprach er in das Mikrofon.
Auf dem Bildschirm erschien eine Filmszene, die zwei Chirurgen bei einer Herztransplantation zeigte. Eine angenehme weibliche Stimme sprach dazu: „Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts standen noch keine nachwachsenden Organe aus dem Labor zur Verfügung. Ein Patient mit einem kranken Herzen zum Beispiel musste warten, bis ein Mitglied der Gesellschaft starb, um sich das Organ dieses Menschen einpflanzen zu lassen. Es gab regelrechte Wartelisten. Der Eingriff war mit etlichen Risiken verbunden. Nicht alle Patienten wachten aus der Narkose wieder auf. Gelang die Operation, war der Patient noch lange nicht gerettet. Manchmal stieß der Körper das neue Organ ab …“
Reb verzog das Gesicht und klappte den Bildschirm hoch.
Nach und nach füllte sich der Raum. Mit zunehmender Zuschauerdichte schien auch das Interesse an den Fotos zu wachsen. Vor dem Bild eines Klonkindes, das gerade sechs Kerzen auf einem Geburtstagskuchen ausblies, stand ein Mann Mitte vierzig und befragte sein Mikrofon.
„In welchem Alter erfuhr ein Klonkind von seinen Zieheltern, dass es nicht auf natürlichem Wege geboren worden war?“
„Nicht geboren – gezeugt“, mischte sich Reb ein.
„Wie bitte?“
Der Besucher blickte sich nach dem Störenfried um.
„Entschuldigung, ich wollte nur helfen. Auf den Begriff ‚geboren’ reagiert der Computer nicht. Benutzen Sie ‚gezeugt’.“
„Ach so, ja danke.“
Der Mann wiederholte die Frage. An seinem Gesicht konnte Reb ablesen, dass er die richtige Stelle gefunden hatte.
Im selben Raum hing auch die Fotografie eines Hochzeitspaares. Zwei Mitglieder der Wissenschaftsgruppe hatten geheiratet. Reb horchte auf die Fragen, die die Zuschauer im Glauben sicherer Anonymität ihrem Ausstellungsführer stellten.
„Wie viele Klonmenschen ließen ihre eigenen Kinder klonen?“
„Wie viel Prozent bevorzugten den natürlichen Zeugungsvorgang?“
„Gab es Klone, die normale Menschen heirateten, oder beschränkte sich diese Spezies bei der Partnerwahl auf ihresgleichen?“
„Na,