Tambara. Heike M. Major
Читать онлайн книгу.doch alles wie geplant. Das Thema der Ausstellung scheint auf Interesse zu stoßen, und wenn wir Glück haben, beschäftigen sich wieder einige Bürger mehr mit unserer nebulösen Vergangenheit.“
Erschrocken über den fast provozierenden Unterton, mit dem sie die letzten Worte ausgesprochen hatte, stockte Soul und sandte ein paar unsichere Blicke in die Umgebung hinaus. Mit gedämpfter Stimme sprach sie weiter.
„Was wohl die Presse über unsere Ausstellung schreiben wird?“
„Schwesterchen, du machst dir zu viele Sorgen. Vergiss nicht: Die Presse – das sind wir.“
Soul runzelte die Stirn.
„Sind deine Kollegen verlässlich?“
„Die, die den Artikel schreiben, schon. Und da die Ausstellung ein Kind des Medienkonzerns ist – wenn auch gefärbt durch unsere persönliche Sichtweise –, wird schon niemand wagen, sie zu zerreißen.“
Die beiden schwiegen, als ein Angestelltenpaar des Sicherheitsdienstes an ihnen vorbeischlenderte.
„Tambara-Hallo“, grüßte der Mann, „alles in Ordnung?“
„Aber sicher doch“, erwiderte Reb souverän, „und bei euch?“
„Wie immer“, antwortete die Frau freundlich und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Menge zu.
Im Veranstaltungssaal verstummte das Orchester. Durch die Rundbögen hindurch sah Soul, wie sich der Dirigent an das Publikum wandte.
„Meine Damen und Herren“, sprach er in das Mikrofon, „im Rahmen unseres heutigen Konzertes haben wir für Sie einen ganz besonderen Leckerbissen vorbereitet. Wie manche von Ihnen vielleicht wissen, wurde der Jazz in damaligen Zeiten nicht von allen Bevölkerungsschichten gleichermaßen verstanden und geliebt. Den Künstler aber, den wir Ihnen nun präsentieren, kannte man auf der ganzen Welt. Seine sympathische Stimme war in jenen Tagen ebenso populär wie sein Trompetenspiel. Ladys and Gentlemen, begrüßen Sie mit mir“, er hob den Arm und deutete zum Bühnenaufgang hinüber, „Louis Armstrong – the legendary Satchmo!“
Das Publikum klatschte höflich, als ein älterer Farbiger die Bühne erklomm. Die Lichter erloschen, und während das Orchester in der Dunkelheit nur noch schemenhaft zu erkennen war, suchte ein einziger greller Scheinwerfer das winzige Stückchen Bühne, auf dem sich der Sänger postiert hatte. Als der Spot sein Gesicht erhellte, ging ein Raunen durch den Saal.
„Louis Armstrong …, Armstrong, Louis …“, flüsterten die Gäste in ihr Technikarmband und betrachteten erstaunt das Gesicht, das sich auf dem kleinen Bildschirm an ihrem Handgelenk formte.
Anerkennend stellten sie fest, dass Visagisten, Kostümbilder und Beleuchter hier wieder einmal ganze Arbeit geleistet hatten, denn der Mann auf der Bühne sah dem verstorbenen Sänger zum Verwechseln ähnlich. Während das Orchester nun den Song live vom Blatt spielte, erklang aus den Lautsprechern die historische Originalstimme, und Musiker und Schauspieler stellten eine alte Filmszene nach. Nur wenige Minuten dauerte es, und der künstliche Satchmo hatte die Besucher vollkommen in seinen Bann gezogen. Berührt lauschten sie den fremdartigen Rhythmen, ließen sich umgarnen vom warmen Timbre dieser rauchigen Stimme und verfolgten befremdet und fasziniert zugleich den Auftritt eines mit sich und der Welt zufriedenen Menschen, dessen einziger Wunsch es zu sein schien, seine Zuhörer glücklich zu machen und von ihnen geliebt zu werden.
Für einen Moment vergaß selbst Soul, dass es sich um eine Attrappe handelte. Sie lehnte entspannt in ihrem Kunststoffsofa und schaute verträumt zur Bühne hinüber.
„I see trees of green, red roses too, I see them bloom for me and you …”, drang die Stimme aus dem Lautsprecher.
Ein leichtes Unbehagen bemächtigte sich ihrer, als sie jetzt den Worten des Liedes lauschte.
„I see skies of blue and clouds of white, the bright blessed day, the dark sacred night …”
Plötzlich erschien es ihr wie eine Provokation, in einem Zeitalter, in dem Tiere und Pflanzen nur noch in Reservaten lebten, jegliche natürliche Erde unter Hightech-Kunststoff verschwunden war und selbst das allgegenwärtige kosmische Staubkorn sich anstrengen musste, einen Platz in der Wohnung zu finden, von so etwas Verrücktem wie Bäumen und Rosen zu singen.
„The colors of the rainbow so pretty in the sky are also on the faces of people going by …”
„Ob es damals wirklich so schön war auf unserer Erde?“, wandte sie sich an ihren Bruder.
„Ich weiß nicht“, antwortete Reb. „Jedenfalls fühlt es sich verdammt gut an.“
Die Arme hinter dem Kopf verschränkt und seine Beine weit von sich gestreckt, so lauschte auch er den verführerischen Klängen.
Die Gäste im Mittelraum schienen genauso zu empfinden. Sie lehnten entspannt in ihren Sitzgruppen, verfolgten gebannt das Spektakel auf der Bühne oder konzentrieren sich mit geschlossenen Augen ganz auf die Musik. Andere schlenderten an Rebs Fotografien vorbei, blieben hier und da stehen, vertieften sich in eines seiner Bilder oder diskutierten mit verhaltener Stimme über das Für und Wider vergangener Visualisierungspraktiken. Alles wirkte so elegant, so perfekt und unendlich friedlich, als hätte es nie irgendwelche Irritationen gegeben.
„I hear babies cry, I watch them grow, they’ll learn much more than I’ll ever know – yes, I think to myself what a wonderful world …”
Reb hatte noch einige Repräsentationspflichten zu erfüllen und begab sich wieder an seine Arbeit. Soul betrachtete die Leute vor der Bildergalerie. Die ausschließlich in schwarz-weiß gehaltenen Fotografien schienen eine ungewöhnliche Anziehungskraft auf die Besucher auszuüben. Erstaunlich lange begutachteten sie die Ausstellungsstücke.
Soul stand auf und tat es ihnen nach. Mit verschränkten Armen wanderte sie die Bildreihe entlang. Es war schon irgendwie merkwürdig. Diese historischen Fotos hatten so wenig gemein mit dem Material aus dem Medienkonzern. An ihnen war nichts perfekt. Die stimulierende Farbe fehlte, das Ursprungspapier ließ keine absolute Bildschärfe zu und es waren keine professionell hergerichteten Studiogesichter zu sehen, sondern ausschließlich Menschen in ihrer alltäglichen Umgebung, die ganz ungezwungen miteinander lachten, tanzten, musizierten, so als wäre die Kamera gar nicht zugegen. Doch trotz oder vielleicht gerade wegen dieser aus moderner Sicht eindeutig kompositorischen Fehler verströmten diese Aufnahmen eine fast fühlbare physische Nähe.
Vor der Fotografie eines Saxofonisten blieb sie stehen. Der farbige Musiker hatte die Augen geschlossen und blies voller Hingabe in sein Instrument. Soul hörte den Blues, der aus dem Innenraum herüberdrang, und für einen Moment war ihr, als würde dieses Bild vor ihren Augen lebendig. Das Saxofon schien sich zu bewegen, und die Hände, die es hielten, wiegten es behutsam im Takt der Musik.
„Ist es nicht wunderschön?“
Jemand war an sie herangetreten und stand nun dicht hinter ihr. In der Reflexion des Glases erkannte sie den eleganten Fremden, der kurz zuvor an einem der Rundbögen gelehnt hatte.
„Wunderschön, ja …“
Soul überlegte, ob sie sich einem gänzlich Unbekannten anvertrauen durfte.
„Sie wollten etwas sagen?“, ermutigte sie dieser.
„Ich finde …, es hat Gefühl“, platzte sie heraus.
„Sollte uns das beunruhigen? Es ist doch nicht verboten, sich beim Betrachten eines Bildes berührt zu fühlen.“
„Verboten nicht, nein.“
Soul wagte einen Blick zur Seite.
„Trotzdem ist es Ihnen unangenehm.“
„Nun ja, in einer Welt, in der fast jeder nach Perfektion strebt und unser Alltagsleben strengen wirtschaftlichen Optimierungsprozessen unterliegt, ist es schon irgendwie merkwürdig, wenn jemand auf einer offiziellen Veranstaltung von so etwas … Unkalkulierbarem wie Gefühlen spricht. Finden Sie nicht?“
Für einen kurzen Moment standen