Tambara. Heike M. Major
Читать онлайн книгу.Fliege, wo bist du?“
„Puttputt, puttputtputtputt!“, lockte jemand.
„Fliege? Hallo, bitte melde dich!“
„Lecker, lecker, lecker!“
„Nun seid doch mal still, schschschsch!“
Es wurde ruhig im Saal.
Alle horchten.
„Sie sitzt bestimmt irgendwo und lacht sich schief.“
„Eine Fliege kann nicht lachen.“
„Schschsch …“
Da …, da war er wieder, dieser Summton!
„Da ist sie!“
Aus allen Ecken des Raumes stürzten die mutigen Männer auf die Fliege zu. Einige sprangen in die Höhe und schnappten mit den bloßen Händen nach ihr. Andere warfen ihre Anzugjacken in die Luft in der Hoffnung, das Tier möge sich darunter verfangen. Eine dieser Jacken landete auf dem Tisch zweier vornehmer Herrschaften. Statt des Insektes beugte sich ein Champagnerglas dem Gewicht des schweren Stoffes, und der Inhalt ergoss sich über das Abendkleid des weiblichen Gastes. Während die überraschte Dame noch fassungslos auf ihren sektdurchtränkten Stoff starrte, ergriff der Begleiter der Lady den Schleier des ramponierten Kleides und schloss sich den Jägern an.
Plötzlich übertönte die Stimme einer älteren Dame alle Schreie.
„Ich hab’ sie, ich hab’ sie mit meinen bloßen Händen gefangen!“
Ihre Arme so weit wie möglich von sich streckend, presste sie beide Hände fest aufeinander. Dabei formte sie mit den Fingern eine Höhle, in der das Insekt nun unruhig hin und her krabbelte.
Das Publikum hielt den Atem an.
„Festhalten, Madame“, beschwor der Mann, der für die Fliege tausend Tambas geboten hatte, die Dame und näherte sich ihr auf Zehenspitzen.
Während er im Zeitlupentempo auf die Frau zu schlich, wandte er keinen Blick von den Händen, die seinen Schatz bargen.
„Ein Behälter muss her“, raunzte er in die Menge. „Los, los, besorgt mir einen Behälter!“
Seine Mitstreiter blickten sich forschend um. Das Model, das mit der künstlichen Rose um sich geschlagen hatte, reichte sein Abendtäschchen vom Laufsteg herunter. Ein Gast nahm es in Empfang und drückte es dem Fliegenfänger in die Hand.
Die Dame mit der Fliege wurde zunehmend unruhiger.
„Es fühlt sich irgendwie komisch an“, beklagte sie sich.
„Halten Sie durch, Madame“, zischte der Jäger. „Ich bin gleich bei Ihnen.“
„Aber es kribbelt so entsetzlich. Sind Sie sicher, dass es nicht gefährlich ist?“
„Ganz sicher, Madame.“
„Bitte beeilen Sie sich!“
„Ja doch, es ist ja gleich geschafft.“
Der Fliegenliebhaber öffnete das Abendtäschchen und wollte es gerade über die Hände der Lady stülpen, als deren Finger verrutschten und das Insekt entschlüpfte.
„Oohhh …“
Die Menge war enttäuscht.
„Tut mir leid, ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten“, entschuldigte sich die Dame.
Der Fliegenfänger unterdrückte einen Fluch.
Verärgert schaute er sich um.
„Sieht sie jemand?“
„Ihr müsst auf das Summen achten!“
„Ruhe, nun seid doch mal still!“
Die Besucher stellten ihre Gespräche ein. Immer leiser wurde es im Saal. Und tatsächlich, laut und deutlich war der erwartete Summton zu hören.
„Dort …, dort fliegt sie!“
Etliche Finger zeigten in die Höhe. Als würde sie die Aufregung genießen, flog die Fliege über den Köpfen der Besucher einige großzügige Runden. Unzählige Augenpaare bewegten sich dazu im Takt. Mehrere Male verringerte sie ihre Flughöhe, und es sah aus, als würde sie sich irgendwo niederlassen, doch die abwehrenden Gesten der erschreckten Gäste verscheuchten sie jedes Mal aufs Neue. Schließlich wählte sie einen Tisch in der Menge aus. Von einer Sekunde zur anderen war der Summton verschwunden.
Der Fliegenjäger hatte ihren Flug verfolgt und wollte sich gerade auf sie stürzen, als jemand mit einer einzigen Handbewegung und einem umgestülpten Wasserglas das Unternehmen beendete.
„Klack“, machte es – das Glas fiel über das Tier, und die Fliege war gefangen.
Soul registrierte ein teures Technikarmband an einem schlanken Handgelenk. Dahinter blitzte eine weiße Hemdmanschette.
Die Hand stellte eine gläserne Streichholzschachtel auf den Tisch, schob den Deckel zurück, führte ein Programmheft vorsichtig unter das Trinkglas, hob das Glas damit hoch, hielt es über die Schachtel, zog das Heftchen ein winziges Stück zurück, sodass das Insekt durch den entstandenen Spalt in den Behälter rutschte, schob den Deckel wieder zu, ergriff das Schächtelchen und steckte es in die Jackentasche. Das Publikum war sprachlos ob solcher Geschicklichkeit und schaute den Helden neugierig an. Dieser stand auf und wandte sich an die Gäste.
„Meine Damen und Herren, es tut mir leid, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet habe. Mein Name ist Sir W.I.T.“
„Ooohh …, nein …, tatsächlich?“
Ausrufe des Erstaunens und Entzückens füllten den Raum.
„Dieses Insekt ist einem Angestellten meines Instituts aus dem Labor entwischt. Ich war hier, um es zurückzuholen. Ich bedanke mich für Ihr Verständnis und wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend.“
Kaum hatte er seine Ansprache beendet, setzte er sich in Bewegung, ein paar Schritte … und er hatte den Saal verlassen.
„Sir W.I.T., der Sir …, ja, wenn das sooo ist …“
Die meisten Zuschauer hatten sich schon wieder auf ihren Plätzen niedergelassen. Einige eilten hinaus, um sich diese Berühmtheit anzusehen. Soul folgte ihnen neugierig, doch als sie ins Freie trat, blickte sie in ratlose Gesichter. Anscheinend hatten die Gäste ihn verpasst. Unverrichteter Dinge trotteten sie in den Saal zurück.
Soul blieb noch eine Weile draußen. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Institutsmauer und betrachtete die Sterne. Von hier unten waren auch sie nicht größer als eine Fliege. Sterne …, Fliegen …, ist es nicht merkwürdig, dachte sie, dass die Fliegen überlebt hatten? Sterne, ja, die waren zum Forschen da, das eröffnete neue Möglichkeiten – aber Insekten? Die zählten doch gewiss nicht zum Besten. Trotzdem hatten sie überlebt, überlebt in einer Welt, in der nur das Beste überleben konnte.
Ein Geräusch ließ Soul aufblicken. Jemand war von der Seite an sie herangetreten.
Nun …“, fragte Sir W.I.T., „welch weisen Gedanken hängt unsere junge Dame denn heute Abend nach?“
„Ach weise, denkt nicht jeder irgendwann einmal nach über die Welt, in der er lebt?“
„Mag sein, aber nicht alle Gedanken sind so frei wie die Ihren.“
„Frei …, was heißt schon frei? Das erinnert mich übrigens an Ihre Gefangene.“
„Sie meinen die Fliege?“
„Es ist nicht Ihr Insekt, stimmt’s?“
Sir W.I.T. antwortete nicht. Stattdessen lehnte er sich neben sie an die Konzernmauer und schaute in den Nachthimmel hinauf.
„Was haben Sie nun mit ihr vor?“, fragte Soul zaghaft.
„Nun ja, was meinen Sie? Schenken wir ihr die Freiheit?“
„Sie wollen