Tambara. Heike M. Major

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Tambara - Heike M. Major


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Wie wollen wir das überhaupt beurteilen? Uns fehlt doch der Vergleich.“

      Reb blieb unbeeindruckt.

      „Der Markt hat verglichen.“

      Seine Antwort machte Soul wütend.

      „Himmel, ich weiß, dass unser Alltag marktwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Aber schließlich mussten Forscher durch gezielte Veränderungen des Erbgutes diese Frucht doch erst einmal entwickeln.“

      „Richtig, und dann hat der Markt entschieden. Und geforscht wurde immer schon nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten.“

      „Aber vielleicht waren unter den vielen dazwischenliegenden Entwicklungsstufen ja auch attraktive Sorten. Vielleicht gab es sogar unter den natürlich gewachsenen Äpfeln schöne Exemplare, und vielleicht schmeckten einige von ihnen ja sogar besonders gut.“

      Reb wusste, wenn seine Schwester sich in ein Thema verbissen hatte, war mit ihr nicht zu spaßen. Also holte er ein wenig aus.

      „Wie du weißt, konnten die natürlichen Äpfel unseren Ansprüchen irgendwann nicht mehr genügen. Die im Labor entworfenen Früchte sahen besser aus, waren widerstandsfähiger und da die natürlichen Äpfel niemand mehr kaufte, pflanzte auch niemand mehr Bäume mit diesen Sorten an. Davon abgesehen hatte sich das Erbgut der Gen-Äpfel längst mit dem der Naturfrüchte vermischt. Die Vorstellung, Samen manipulierter Pflanzen auf Dauer vom natürlichen Bestand fernhalten zu können, erwies sich als Illusion. Die Wissenschaftler hatten die Macht der Evolution schlichtweg unterschätzt. Und da sich das Erbgut der Laborprodukte aufgrund der höheren Widerstandskraft durchsetzte, starben die natürlichen Früchte allmählich aus. Was übrig blieb, waren Mischsorten. Das heißt, Natur oder natürlich gezogene Pflanzen ohne gentechnische Veränderung gab es ja sowieso schon lange nicht mehr. Aber auch diese Mischfrüchte, die bei unseren Vorfahren noch in freier Wildbahn wuchsen, verschwanden allmählich von der Erdoberfläche. Man brauchte mehr Platz für die guten und schönen Äpfel, die auf dem Markt bestanden. Die besten haben überlebt. Heutzutage gibt es eben nur noch den Tambara-Apfel, die Lianca-Birne, die Chicotora-Banane. Die meisten Kunden haben sich vor langer Zeit für diesen Apfel entschieden. Immerhin gehört Tambara zu den wenigen Städten auf unserem Erdball, die sich mit der Entwicklung einer marktbeherrschenden Design-Frucht schmücken können.“

      „Weißt du was“, unterbrach Soul ihren Bruder, „ich besäße gern einmal einen natürlichen Apfel, einen von der Art, wie er auf der Erde wuchs, noch bevor die Menschen die Gentechnik entdeckten.“

      „Und was würdest du mit ihm anfangen?“

      „Ich würde ihn essen und ausprobieren, wie er schmeckt. Vielleicht schmeckt er ja ganz gut. Vielleicht schmeckt er mir, und ich betone ausdrücklich ‚mir’, ja sogar noch besser als unser Tambara-Apfel. Und vielleicht wäre er auf seine eigene, ganz besondere Art ja sogar schön.“

      „Schön ist, was sich verkaufen lässt und auf dem Markt besteht!“

      Reb wollte nun endlich seine Zeitung lesen.

      „Ja, ich weiß, und die Katze beißt sich in den Schwanz.“

      Missmutig wandte Soul sich ihrem Computer zu. Geräuschlos spuckte das Gerät die Sonntagszeitung aus.

      Der Schriftzug des Titels fiel sofort ins Auge: „Triumph der Forschung – Fotografien vergangener Jahrhunderte dokumentieren medizinischen Fortschritt.“

      Neugierig breiteten die Geschwister das Endlospapier auf dem Fußboden aus.

      Reb hatte recht behalten. Seine Kollegen waren verlässlich. In ihrem Artikel lobten sie die Fleißarbeit des Medienfachmannes, beschrieben die einzelnen Abteilungen der Ausstellung, Größe, Art und Zusammenstellung der präsentierten Fotografien und vermerkten lobend, wie dem aufmerksamen Besucher beim Rundgang durch die Ausstellung bewusst würde, mit welch enormem Fortschritt der Alltag der modernen Menschheit gesegnet sei. Nur eine kleine Notiz am Ende des Artikels verwies auf Bezugsquellen weiterführender Literatur. Souls Jazzkonzert wurde als ungewöhnlicher, aber schmackhafter Kunstgenuss eingestuft, der Auftritt des Louis-Armstrong-Doubles als Höhepunkt herausstaffiert und als Hintergrundinformation gab es detaillierte Beschreibungen über Maske, Kostüme und Beleuchtungseffekte. Kein Wort über die Geschichte des Jazz, über den kulturellen Hintergrund oder das damit verbundene Lebensgefühl. Nichts …, doch, wieder diese unscheinbare Fußnote am unteren Seitenrand. Dem Durchschnittsleser mochte sie nicht viel sagen. Auf ergänzende Quellen wurde an solchen Stellen häufig hingewiesen, auch wenn kaum ein Abonnent heutzutage noch die Zeit fand, sich eingehender mit Zeitungsnotizen dieser Art auseinanderzusetzen. Wer sich jedoch mit solch oberflächlicher Information, wie der Artikel sie lieferte, nicht begnügen wollte, konnte im Net mithilfe der Schlüsselwörter ausführliche Erläuterungen zu den Schlagzeilen abrufen – vorausgesetzt, die Regierung hatte die Seiten noch nicht gelöscht.

      Es war immer ein Wettlauf mit der Zeit. Vom Staat eingesetzte Controlsurfer sollten Netbetrüger aufspüren und Firmen bzw. deren Kunden vor Missbrauch schützen. Merkwürdigerweise verschwanden dabei aber immer wieder auch Informationen, die private Nutzer eingegeben hatten in der Absicht, mit Gleichgesinnten über ein Thema aus der Medienwelt vergangener Jahrhunderte zu diskutieren. Jemand hatte zum Beispiel einen Artikel über einen missglückten Forschungsversuch ausfindig gemacht und eine Datei dazu angelegt. Wer Fragen stellen, eigene Gedanken äußern oder Ergänzungen zum Thema anbieten wollte, schloss sich an. Man traf sich auf anonymen Plattformen, deren Absender dank eines ausgeklügelten Sicherheitssystems nur selten zu ermitteln waren. Auf diese Weise gelangte man häufig an Informationen, die nirgendwo sonst mehr nachzulesen waren. Oft befanden sich darunter auch Seiten offiziell nicht mehr existierender Bücher. So mancher Leser erinnerte sich beim Durchforsten dieser Sammlungen an ein von seinen Vorfahren ererbtes Schriftstück und vervollständigte die Dateien mit Texten aus seiner privaten Informationsquelle. Reb und Soul waren der Überzeugung, dass in vielen Haushalten noch Bücher von unschätzbarem Wert schlummerten, die aufgrund ihrer Einstufung als wertlos oder minderwertig im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten waren. Diese galt es zu aktivieren.

      Neuerdings erfreuten sich solche Plattformen eines regen, stetig zunehmenden Interesses. Nur gab es anscheinend Kräfte in der Regierung, denen dieser unkontrollierte Informationsaustausch ein Dorn im Auge war. Wie sonst sollte man es sich erklären, dass diese Seiten immer wieder von den Bildschirmen verschwanden.

      Soul machte die Probe aufs Exempel. Sie tippte den Schlüssel zum Thema „Jazz“ ein. Das Inhaltsverzeichnis erschien. Sie klickte eines der Stichwörter an und las: „Jazz: Wo das Leben noch Lust, Leid und Risiko ist und nicht vom Staat geschützte Gleichförmigkeit und Langeweile (Improvisation = Freiheit, Risiko, Wagnis!).“1

      Sie öffnete ein zweites: „Der Jazz ist so ziemlich die einzige heute existierende Kunstform, in der es die Freiheit des Individuums gibt, ohne dass das Gemeinschaftsgefühl verloren geht.“1

      Anscheinend war alles noch da.

      „Es ist Sonntag“, meinte Reb ironisch, „sie sitzen wahrscheinlich noch am Frühstückstisch.“

      „Meinst du wirklich, es sind die Controlsurfer, die unsere Plattformen immer wieder vernichten?“, fragte Soul.

      „Wer sollte es sonst sein?“

      „Aber warum nur machen sie sich die Mühe, solche für sich genommen doch harmlosen Informationen zu löschen? Was kann denn schon passieren, wenn private Nutzer auf diese Weise miteinander kommunizieren?“

      „Aufmerksame Leser würden anfangen, Fragen zu stellen“, erklärte Reb.

      „Aber was wäre denn so schlimm daran?“

      „Es wären die falschen Fragen.“

      „Die falschen Fragen?“

      „Fragen, die schon beantwortet worden sind – in früheren Jahrhunderten. Damals ist entschieden worden, dass wir sie nicht mehr brauchen, diese Fragen. Erinnere dich an deinen Apfel.“

      Soul begriff.

      „Sie waren bestimmt nicht schön


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