Tambara. Heike M. Major
Читать онлайн книгу.bist’s.“
„Alles in Ordnung?“, fragte Soul besorgt.
„Aber natürlich.“
„Bist du sicher?“
Reb ergriff den Arm seiner Schwester und führte sie behutsam zum Fenster.
„Schau mal, Schwesterchen, wir halten uns doch nur an das, was wir gelernt haben. Wir zeigen den Besuchern, dass es ihnen, dank der Bemühungen unserer Gesellschaft, immer und überall das Bessere durch das Beste zu ersetzen, heute so gut geht wie nie zuvor. Sollten einige Bürger unsere Ausstellung zu eigenen Interpretationen nutzen, die sich unter Umständen als nicht ganz staatskonform erweisen …, was können wir dafür?“
Souls Blick fiel auf das riesige Eingangstor des Medienkonzerns. Kraftstrotzend setzte sich die leuchtend weiße Neonschrift von dem blauen Gebäude ab. Ihr Licht überflutete den ganzen Vorplatz und vermittelte dem Betrachter ein Gefühl von Ehrfurcht gebietender Unumstößlichkeit. Über dem Eingang stand der Leitsatz der Stadt Tambara: „Das Beste bleibt.“
3
Sie hatten den Präsidenten der Christie’s Group of Music-Design überreden können, die Aufführung des Jazzkonzerts nicht wie sonst üblich im Musikkonzern, sondern ausnahmsweise im Zentralraum des Mediencenters stattfinden zu lassen. Die in fast allen Firmen im Gebäudemittelpunkt errichteten Zentralräume wurden hauptsächlich für Werbezwecke in eigener Sache genutzt. Hier präsentierte jeder Konzern seine Neuerscheinungen, organisierte Tagungen zu aktuellen Produktentwicklungen oder Ausstellungen zur Firmengeschichte und Managementphilosophie. Die Weltkonzerne für Mode, Medien, Medizin, Musik, Verkehrsmittel und andere Notwendigkeiten des täglichen Lebens standen in starker Konkurrenz zueinander, und so ließ sich auch der Präsident des Musikkonzerns nur ungern zu einem Verzicht auf solch einen Leckerbissen überreden. Doch als alter Freund der Familie gab er schließlich Rebs Drängen nach, zumal er einsah, dass die ausgesuchten Darbietungen zum zeitlichen Rahmen der Fotoausstellung passten und diese wunderbar ergänzen würden. Reb hatte, hartnäckig wie er war, ein paar Schwarz-Weiß-Fotos berühmter Jazzmusiker auftreiben können, die nun die Wände des zum Konzertsaal umfunktionierten Zentralraumes schmückten.
Im Innenbereich des dreigeteilten Gewölbes hatten sie eine viereckige, von allen Seiten durch Treppenstufen erreichbare Bühne aufgebaut und mit Reihen aus schwarzledernen Regiestühlen umgeben. Das Orchester spielte auf einer drehbaren Plattform, die dem Publikum in regelmäßigen Abständen eine neue Perspektive präsentierte. Die gedämpfte Beleuchtung verlieh dem vornehmlich in warmen Schwarztönen gehaltenen Ambiente ein extravagantes Flair und bildete den idealen Hintergrund für einen musikalischen Abend von außergewöhnlicher Exklusivität.
Der Veranstaltungssaal war an seinen Außenseiten durch eine Vielzahl von Durchgängen in Form arkadenartiger Rundbögen mit einem breiten Gang verbunden, der um den gesamten Innenbereich herumführte. Durch seine hellen Wände wirkte dieser zweite Teil des Zentralraumes besonders geräumig. Auf blauschwarzem Kunststoffmarmor standen, gruppiert um niedrige Acrylglastische, Sitzgruppen aus weißem Leder, großzügig geschnittene Zwei- und Dreisitzer und bequeme Einzelsessel, denen in unregelmäßiger Folge eine Reihe künstlicher Phönixpalmen zur Seite gestellt worden war. Wer hier saß, suchte ein stilles Musikerlebnis, wollte die Show ohne großen Rummel genießen oder sich bei angenehmer Musik ein wenig unterhalten. Auch der Mittelraum wurde an seiner Außenseite von Rundbögen begrenzt. Sie waren etwas kleiner als ihre Pendants an der gegenüberliegenden Seite und spärlicher an der Zahl, sodass sie noch genügend Wand übrig ließen, an die Reb seine Jazzfotos hatte hängen können.
Der dritte Bereich bestand aus einem weiteren Rundgang mit großen ausladenden Tischen für bunt gemischte Gesellschaften, etlichen Buffets und einigen Bars. In diesen Hallen konnte man nach Herzenslust dinieren, diskutieren oder ausgelassen feiern und durfte auch ein wenig laut werden, ohne Angst haben zu müssen, die Vorführung zu stören. Neuartige Materialien und eine ausgeklügelte Bauweise sorgten dafür, dass die Musik in unterschiedlicher Lautstärke in allen drei Gewölben des Zentralraumes zu hören war, die Stimmen und Hintergrundgeräusche aus den Rundgängen jedoch nur in unbedeutendem Maße in den Veranstaltungssaal eindringen konnten.
Soul hatte sich einen Imbiss geholt und sich in einem der vielen weißen Sofas im Mittelraum niedergelassen. Hier war es um diese Zeit noch am ruhigsten. Nur wenige Besucher saßen in den Sitzgruppen, plauderten leise oder gaben sich entspannt und teils mit geschlossenen Augen dem Musikgenuss hin.
Soul platzierte den Teller mit dem Imbiss auf ihren Knien und versuchte, sich auf die Mahlzeit zu konzentrieren. Doch während sie das Fleisch mit dem Messer zerteilte, wanderten ihre Gedanken immer wieder zurück zu den Ereignissen der letzten Tage. Warum nur war sie nach dem Tod der Mutter nicht sofort informiert worden? Ein Autounfall, hatte es geheißen, die Fahrerin wäre noch an der Unfallstelle gestorben. Doch an jenem Tag war ihre Mutter mit zwei Freundinnen im hauseigenen Fitnesscenter verabredet gewesen. Wie passte da eine plötzliche Autofahrt ins Bild? Der Leichnam wäre völlig zerstückelt gewesen – kein schöner Anblick für eine Tochter von gerade einmal fünfundzwanzig Jahren.
„Einäscherung aus ästhetisch-psychologischen Gründen“, hatte auf dem Formular gestanden, „ohne vorherige In-Kenntnis-Setzung der Angehörigen.“
Nur wenige Monate zuvor war Souls Vater zu einer Außenmission in ein Reservat berufen worden und von dieser Reise nicht wieder zurückgekehrt. In einem maschinell erstellten Abschiedsbrief hatte er Frau und Kinder um Verzeihung gebeten, weil er ein neues Leben beginnen wollte fernab beruflicher Verpflichtungen und familiärer Bindungen. Die Geschwister waren fassungslos gewesen. Ihre Familie hatten sie immer als eingeschworene Gemeinschaft erlebt, in der sich jeder auf den anderen verlassen konnte. Das Wohl der Kinder ging ihren Eltern über alles. Wie lange zum Beispiel hatte ihr Vater um eine Verkürzung der nachmittäglichen Hortstunden kämpfen müssen. In einer hoch technisierten Gesellschaft wie der Stadt Tambara, in der sowohl das Berufsleben als auch die arbeitsfreie Zeit nach einem bis ins Detail geplanten und größtmögliche Effizienz versprechenden Programm vonstattenging, kam es höchst selten vor, dass Eltern ihre Kinder vor Ablauf des Tages zu sich nach Hause holten, nur um mit ihnen noch ein paar Stunden gemeinsam zu verbringen. Institutsleiter, Vorgesetzte, Pädagogen, ja selbst enge Freunde hatten ihm zu bedenken gegeben, wie viele wertvolle Erfahrungen seinen Nachkommen vorenthalten blieben, wenn er die vom Erziehungsinstitut von Tambara empfohlene Betreuungszeit für Säuglinge und Kleinkinder unterschritt und Reb und Soul einen Teil des abwechslungsreichen Freizeitangebotes verpassten. Doch der Vater hatte seine Forderungen durchgesetzt und auch, trotz seiner anspruchsvollen Arbeit als Arzt, immer wieder die Zeit gefunden, mit der Familie etwas zusammen zu unternehmen. Und dieser Mann sollte seine Kinder im Stich lassen? Von einem Tag auf den anderen? Ohne Abschied, ohne ein offenes Wort? Niemals!
Soul verstärkte den Druck unter ihrer Klinge und zerschnitt das Fleisch in unzählige kleine Stücke. Nach dem Eintreffen dieses schrecklichen Briefes war ihre Mutter von einer Behörde zur anderen gelaufen, um eine Besuchserlaubnis für das Reservat zu beantragen. Sie hatte gehofft, an Ort und Stelle einen Anhaltspunkt zu finden, der vielleicht zu einer Spur ihres Ehegatten hätte führen können. Doch eine simple Familienangelegenheit war kein ausreichender Grund für einen Reservatbesuch.
Soul griff nach dem Teller, der durch eine unachtsame Bewegung ins Wanken geraten war, und setzte ihn entnervt auf der Tischplatte ab. Dabei traf ihr Blick auf den eines elegant gekleideten, jungen Herrn, der ihr gegenüber an einem der Durchgänge stand und sie allem Anschein nach schon geraume Zeit beobachtet hatte. Während er, die linke Hand in der Hosentasche, lässig an der Einfassung des Rundbogens lehnte, hob er das Glas in seiner Rechten zum Gruß. Ein angedeutetes Lächeln verriet ihr, dass sie gemeint war.
„Ach, hier bist du!“
Reb hatte seine Schwester entdeckt und sich neben sie auf das Sofa geworfen. Mit einem Druck auf den Serviceknopf in der Armlehne forderte er die Bedienung an. Eine Kellnerin im weißen Kittel räumte den Teller ab und wischte mit einem ebenso weißen Reinigungstuch über die Glasplatte des Tisches. Soul wagte einen erneuten Blick zum Rundbogen hinüber, aber der Fremde war verschwunden.