Die Farben des Mörders. Miriam Rademacher
Читать онлайн книгу.Dank, Mr Simms«, antwortete Colin und lächelte unwillkürlich. Der Mann am Empfang hatte immer schon aufgeschlossen, egal zu welcher Zeit Colin im Heim ankam. Er hatte auch immer schon das Licht angemacht und ein paar Hocker für die Erschöpften bereitgestellt. Mr Simms war nach Colins Meinung die Seele des ganzen Hauses. Egal, was man brauchte, Mr Simms besorgte es. Egal, was man suchte, Mr Simms wusste, wo es zu finden war. Mr Simms vergaß nie einen Namen und kein Gesicht. Mr Simms war genau die Art Mensch, die an einem Ort wie diesem nicht fehlen durfte, fand Colin.
Der Heimleiterin folgend, verließen sie die Eingangshalle über einen Korridor zur Linken und erreichten bald eine Tür mit einem großen, augenscheinlich selbst gebastelten Schild mit der Aufschrift Bastelstube. Darunter hatte ein Witzbold mit rotem Edding geschrieben: Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren! Rose Halligan begann augenblicklich, an der roten Farbe herumzukratzen.
»Das war vorhin noch nicht da«, erklärte sie. »Und ich weiß natürlich, wer es war. Keiner ist so schwer zu seinem Glück zu zwingen wie Nathan Biggles. Na, Sie werden ihn ja gleich selbst kennenlernen, Herr Pfarrer. Ich habe Biggles auf die Liste für die heutige Malstunde gesetzt und so dankt er es mir. Am besten setze ich ihn gleich für alle Termine auf die Liste. Das kann ihm nur guttun. Er ist so unausgeglichen.«
Sie kratzte noch einen Moment lang mit ihren kurzen Fingernägeln an der Farbe herum, dann gab sie es auf und öffnete die Tür. Ein Geruch, der Colin an seine Schulzeit erinnerte, schlug ihnen entgegen. Eine Mischung aus Reinigungsmittel, Sägespänen und Klebstoff. Colin beobachtete, wie Jasper zögernd über die Schwelle trat und den Blick über die zu Gruppen zusammengeschobenen Tische gleiten ließ, deren Arbeitsplatten bereits unter dem häufigen Gebrauch bunter Farben gelitten und eindeutige Spuren davongetragen hatten. Vor einem Fenster standen ein paar wenige Staffeleien und in Regalen entlang der Wände zeugten seltsame Gebilde aus verschiedenen Materialien von der Kreativität in Hodge House.
Mit einem wie er hoffte unschuldigen Augenaufschlag klopfte Colin seinem Freund noch einmal auf die Schulter. »Du packst das schon. Und wenn du Hilfe brauchst, ich bin gleich gegenüber. Genau dort, wo die New-Age-Musik erklingt.«
Jasper war anzusehen, dass er nach einer bissigen Antwort suchte, doch Colin trat rasch den Rückzug an und eilte in die Gymnastikhalle, wo er bereits erwartet wurde.
Die Halle war dank einer langen ebenerdigen Fensterfront lichtdurchflutet. Trotzdem hatte Mr Simms bereits die Deckenbeleuchtung eingeschaltet und auch wieder Hocker bereitgestellt. Auf einem dieser Hocker saß Colins einziger männlicher Teilnehmer der letzten Stunden. Waldemar.
Colin kannte weder seinen vollen Nachnamen, noch wusste er, wie alt Waldemar war und woher er stammte. Mit Sicherheit jedoch gehörte Waldemar zu den freiwilligen Teilnehmern seines Kurses. Sein hingekritzelter Name stand stets ganz oben auf Colins Liste.
Als Colin eintrat, schenkte Waldemar ihm ein höfliches Lächeln, blieb aber stocksteif auf dem Hocker sitzen. Er war klapperdürr. Sein graues Haar sah aus, als würde es nur zu Feiertagen mit einem Brotmesser eingekürzt werden. Seinen Kinnbart trug er wie ein chinesischer Kaiser aus dem Puppentheater zu einem Zopf geflochten, an dessen unterem Ende eine winzige rosa Schleife baumelte. Colin hatte sofort und auf den ersten Blick Vertrauen zu diesem Mann gefasst. Menschen mit rosa Schleifen im Bart konnten nur durch und durch positiv eingestellt sein. Ein längeres Gespräch zwischen ihnen hatte sich seit ihrer ersten Begegnung allerdings nicht ergeben, obwohl Waldemar stets der Erste im Gymnastikraum war. Doch der Althippie, wie Colin ihn gern bezeichnete, war von zurückhaltendem Wesen.
Während Colin seine Arbeitsmaterialen abstellte, den CD-Player anschloss und die CDs bereitlegte, saß Waldemar lächelnd auf seinem Hocker und sah ihm schweigend zu. An diesem Tag schien er jedoch etwas auf dem Herzen zu haben. Colin vernahm zunächst nur ein Räuspern.
»Wir brauchen eine Mitte.«
Colin hielt inne und wandte sich Waldemar zu. Einen Moment lang versuchte er, der Bedeutung der Worte selbst auf die Schliche zu kommen. Ging es Waldemar um etwas Religiöses? Nach kurzem Grübeln gab Colin auf und echote unintelligent: »Eine Mitte?«
»Blumen oder Zweige. Vielleicht eine Kerze?«
Colin sah in die freundlichen Augen Waldemars und versuchte noch einmal, die rätselhafte Botschaft zu entschlüsseln, doch er kam nicht drauf.
»Blumen für die Mitte? Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.«
Auf Waldemars faltigem Gesicht erschien ein freundliches Lächeln. Dann erklärte er mit seiner knarzenden Stimme: »Ein Jahr ist es vielleicht her, da kam ein junges Mädchen zu uns. Auch sie tanzte mit uns. Auch sie nannte es Tanztherapie.« Waldemar machte eine Pause und Colin lag ein sehr ehrlicher Kommentar zum Thema Tanztherapie bereits auf der Zunge, als Waldemar fortfuhr: »Wir fassten uns an den Händen und tanzten im Kreis herum. Genau wie jetzt. Doch es ist einfacher, den Kreis beizubehalten, wenn man eine Mitte zur Orientierung hat. Deswegen legte das Mädchen Blumen und Zweige auf den Boden. In unsere Mitte. Das war schön und nützlich.«
Colins erster Gedanke war, dass er einen Tanz um sterbendes Grün und flackerndes Kerzenlicht zu weinerlicher Musik nur mit Beruhigungsmitteln würde ertragen können. Doch dann dämmerte ihm, dass die Idee tatsächlich etwas für sich hatte. Während der Kreistänze, bei denen sich die alten Leutchen gern gegenseitig gleichermaßen stützten wie behinderten, eierte seine Truppe oft unkontrolliert herum. Mit einer sichtbaren Mitte würde es ihnen sicher leichter fallen, den Kreis beizubehalten. Colin öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Waldemar war schneller.
»Ich hole eine Kerze. Sie gehen derweil durch diese Tür« – er wies auf die Glasfront hinter sich – »und suchen uns ein paar Blumen. Blumen verbreiten so eine angenehme Stimmung … Wir haben noch genug Zeit. Wir werden beide pünktlich wieder hier sein.«
Mit diesen Worten erhob sich der alte Hippie und schlurfte zur Tür hinaus. Colin sah ihm einen Augenblick lang nach. Seinetwegen hätte es auch ein Hocker als Mittelpunkt des Kreises getan, aber wenn Waldemar gerne Blumen hatte, dann sollte er seine Blumen bekommen. Colin sah er auf seine Armbanduhr. Ihm blieben noch zehn Minuten und er konnte durch die Fenster die Grundstücksgrenze hinter dem gepflegten Rasen liegen sehen. Dort wuchsen Büsche und Gräser hoch und wild. Mit etwas Glück würde er dort sicher irgendetwas Blühendes finden.
Colin öffnete die in die Glasfront integrierte Außentür, trat hinaus in den lauen Tag und schritt entschlossen über den Rasen. Das Gelände stieg hier leicht an. Vereinzelt standen vergessene Gartenliegen herum, unter einer großen Platane stand eine verlassene Bank. Ganz am Ende des Rasens befand sich eine Holzhütte, eine Art Gartenpavillon, um welchen ebenfalls Bänke drapiert worden waren. Es war ein beschauliches Plätzchen. Dort, wo der gepflegte Rasen endete, begann abrupt und ohne jeglichen Übergang die Wildnis. Froh darüber, dass er seine Tanzschuhe daheim gelassen und in normalen Straßenschuhen unterwegs war, stieg Colin in das hohe Gras und ging jetzt langsam und sich sorgfältig umschauend weiter. Hier fiel das Gelände plötzlich steil ab. Er stand auf dem Kamm einer Böschung und blickte hinunter in eine Mischung aus Unterholz und Gartenabfällen. Die Gärtner von Hodge House hatten es sich einfach gemacht und den Rasenschnitt und anderen Unrat einfach über die Grundstücksgrenze gekippt. Ein übler Geruch stieg von den verrottenden Pflanzenresten auf und ließ ihn die Nase rümpfen. An der Grundstücksgrenze kam außer ihm und den Gärtnern wohl nicht oft jemand vorbei. Sonst hätte sich bestimmt mal jemand beschwert und Mr Simms hätte diese Unsitte rasch unterbunden. Colin ging einige Schritte auf dem Kamm entlang und pflückte ein paar der vereinzelt aus dem Gras herausragenden Wildblumen. Doch seine Ausbeute erschien ihm noch zu mickrig und er lief weiter an der Böschung entlang, bis er fast das Gartenhäuschen erreicht hatte. Da entdeckte er unter sich, am Fuße des Hanges, genau das, was ihm jetzt fehlte. Eine schöne Mitte für Waldemar. Ein wahres Prachtexemplar von intensiver roter Farbe. Der absolute Hingucker. Er musste nur ein paar Schritte die Böschung hinuntersteigen, um den Fliegenpilz zu bergen. Langsam, jeden Schritt konzentriert setzend, kletterte Colin den Hang hinunter, hielt sich zwischendurch an den Zweigen einer Weide fest und erreichte leicht rutschend den hübschesten Giftmörder, den Mutter Natur zu bieten hatte. Zufrieden zog er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, legte es