Die Farben des Mörders. Miriam Rademacher

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Die Farben des Mörders - Miriam Rademacher


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dem Pilz fiel. Die vier krummen Gebilde von lehmbrauner Farbe, die unter einem Hügel aus Gartenabfällen hervorragten, erinnerten ihn irgendwie an Finger. Sie waren auf eine seltsame Art faszinierend. Colin beschloss kurzerhand, auch diese Wurzel mitzunehmen. Während er mit der rechten Hand noch den Pilz abbrach, griff er mit der linken schon nach der Wurzel und wunderte sich augenblicklich über die sich fremd anfühlende Konsistenz. Energisch zog er an der Wurzel, die sofort nachgab und ihm ohne Vorwarnung den Teil von sich präsentierte, der soeben noch unter den Gartenabfällen verborgen gewesen war. Das schmutzige Grün, das entfernt an Moos erinnerte, hatte einen umgenähten Ärmelaufschlag. Aus diesem wuchs Colin das, was er für eine Wurzel gehalten hatte, entgegen. Und nun hatten die vier fingerähnlichen Wurzeln Gesellschaft durch einen Daumen und ein Handgelenk bekommen. Colin erkannte, dass er tatsächlich Händchen hielt. Mit jemandem, der unter einem Berg von Müll begraben lag. Jemandem, der seinen Körper in einen grünen, moosartigen Frotteestoff gehüllt hatte, bevor er zum Sterben unter diese Gartenabfälle gekrochen war. Jemandem, der den Eindruck erweckte, als ob er seine faulenden Finger ebenfalls nach dem Fliegenpilz ausgestreckt hatte.

      Ein vertrautes Gefühl stieg in Colin auf. Es war dasselbe Gefühl, das über ihn gekommen war, als er vor ein paar Monaten zum ersten Mal in seinem Leben ein Mordopfer gesehen hatte. Es war eine Kälte, die seinen Brustkorb einengte und ihm das Luftholen schwer machte, doch Luft holen musste er. Es war dieses dumpfe, wattige Gefühl zwischen seinen Ohren, das ihm das Denken erschwerte, doch denken musste er. Und handeln. Er musste handeln, bevor ihm Atmen und Denken abhandenkommen konnten. Colin atmete tief ein und tat genau das, was er in dieser Situation für angemessen hielt. Er schrie laut auf.

      Maigrün

      »Warum eigentlich immer du?«, wollte Jasper wissen.

      »Das ist eine berechtigte Frage. Warum hat schon wieder der Tanzlehrer das Opfer gefunden?«

      Colin saß auf einer der Bänke, die das Gartenhäuschen umstanden, und versuchte, nicht mehr zu zittern. Auch er stellte sich genau die gleiche Frage, die Jasper und Sergeant Dieber ihm gerade stellten. Warum schon wieder er? Sein ganzes Leben hatte er in der Großstadt London zugebracht und nie war ihm dort eine Leiche untergekommen. Doch kaum zog er sich auf das ruhige und beschauliche Land zurück, fielen ihm Leichen vor die Füße.

      In einiger Entfernung konnte er Waldemar erkennen, der vor der Fensterfront des Gymnastikraumes stand und unschlüssig eine dicke rote Kerze in seinen Händen hin- und herdrehte. Schließlich stellte der Alte die Kerze dort, wo er gerade stand, in den Rasen und zündete sie an. Colin musste unwillkürlich schlucken und spürte, wie der Schock, der ihn seit dem Fund der Leiche in regelmäßigen Abständen immer wieder schüttelte, etwas abflaute.

      Sergeant Dieber, ein großer pickliger Junge, den Colin bereits vor einigen Monaten kennengelernt hatte, stand neben dem besorgt wirkenden Jasper und machte ein strenges Gesicht. »Wenn man bedenkt, wie viele Morde wir hier hatten, seitdem du hier bist, Duffot, dann lässt das eigentlich nur den einen Schluss zu: Du musst der Mörder sein.«

      »Bravo. Hervorragend kombiniert, Mike. Du wirst es noch weit bringen«, spottete Jasper.

      Colin hingegen hob alarmiert den Kopf. »Mord? Ist das sicher? Schon wieder?«

      »Natürlich ist das sicher. Oder glaubst du, die Arme ist freiwillig unter die Gartenabfälle gekrochen?«, fragte Dieber säuerlich.

      Colin antwortet in resigniertem Tonfall: »Eigentlich hatte ich so etwas gehofft, ja.«

      Er sah zu seinem Freund hinüber. Dort entdeckte er dieses gewisse Glitzern in den Augen des Pfarrers. Dieses absolut unchristliche Glitzern, das ihm noch so vertraut war. Jasper witterte ein neues Abenteuer. Und schon begann er zu bohren: »Könnte es nicht auch ein Unfall gewesen sein, Mike?«

      Dieber schüttelte energisch den Kopf. »Ausgeschlossen. Ich muss nicht zur fSpurensicherung gehören, um das jetzt schon mit Sicherheit sagen zu können. Selbst wenn die arme Frau in geistig verwirrtem Zustand die Böschung heruntergestürzt ist und irgendein Komiker unter den Gärtnern ohne zu gucken seinen Müll auf ihr abgeladen hat, gestorben ist sie durch die Hand ihres Mörders.«

      »Wie kannst du dir denn da jetzt schon so sicher sein?«, fragte Jasper den Sergeant, während Colin erleichtert Mr Simms mit einem Tablett voller Kaffeetassen herannahen sah. Kaffee war genau das, was er jetzt dringend brauchte.

      Doch Dieber beugte sich mit Verschwörermiene zu Jasper vor und nahm Colin die Sicht auf den freundlichen Portier. »Weil die Frau, und wir sind uns ziemlich sicher, dass es eine Frau ist, auch wenn sie schon ziemlich lange hier draußen gelegen hat …«, Colin spürte sofort wieder einen Brechreiz in seiner Kehle, »… Glück hat, dass ihr nicht der Kopf von den Schultern gerollt ist. Da hat ihr jemand ziemlich brutal die Luft abgedrückt. Ich tippe auf einen Draht als Mordwerkzeug.«

      Colin kämpfte seinen Mageninhalt energisch dahin zurück, wo er hingehörte, und streckte Mr Simms wie ein Ertrinkender die Arme entgegen. Als seine Hände sich um die heiße Kaffeetasse schlossen und der vertraute Geruch ihm in die Nase stieg, ließ der Brechreiz endlich nach.

      »Sie ist also erwürgt worden«, stellte Jasper sachlich fest. »Nun, das schließt Unfall sowie Selbstmord selbstverständlich aus. Es sei denn, jemand wollte ihren Selbstmord vertuschen und hat sie vom Fensterkreuz geschnitten, mit dem sie sich verdrahtet hatte, und hier verscharrt. Weiß man schon, wer die Tote ist?«

      Colin konnte die Neugier in Jaspers Stimme deutlich hören. »Bitte nicht. Nicht schon wieder auf Mörderjagd gehen«, jammerte er.

      Doch Dieber antwortete Jasper erneut im Flüsterton: »Noch nicht. Aber mein Chef spricht gerade mit der Heimleitung. Wir erhoffen uns davon Aufschluss bezüglich ihrer Identität.«

      Colin spähte am Hosenbein des vor ihm stehenden Mr Simms vorbei und entdeckte eine aufgelöst wirkende Rose Halligan, deren Absätze sich in den Rasen bohrten, neben einem vierschrötigen Herrn in einem zu engen Anzug.

      »Wenn ich dazu eine Vermutung äußern dürfte?«, meldete sich Mr Simms zu Wort. Die Aufmerksamkeit aller Umstehenden richtete sich augenblicklich auf ihn. Der immer etwas hektisch wirkende Mann tippelte nervös von einem Fuß auf den anderen und der Kaffee in den Tassen auf seinem Tablett schwappte bedrohlich. Mr Simms, den Kopf weit vorgereckt wie ein Huhn, glaubte zweifellos, etwas Wichtiges zu wissen. Dieber machte eine auffordernde Geste in seine Richtung und Simms plapperte los: »Vor einer ganzen Weile ist uns eine Dame abhandengekommen. Wir haben sie natürlich sofort als vermisst gemeldet, so gehört es sich ja wohl, und es wurde auch eifrig nach ihr gesucht, aber bisher hat man sie nicht gefunden.«

      »Eine Bewohnerin des Heims? Wann war das?«, fragte Dieber und zog Block und Kugelschreiber aus der Brusttasche seiner Jacke.

      »Im Mai. Sie verschwand über Nacht. Beim Abendessen war sie noch im Speisesaal gewesen und am nächsten Morgen war sie fort. Wir haben sie sogar über das Radio suchen lassen, aber es gab keinen Hinweis und niemand, der sie gesehen hatte.«

      »Wie hieß die Frau?«, fragte Dieber und kritzelte eifrig mit.

      »Christine Humblebee.«

      Dieber ließ den Stift sinken. »Das ist doch wohl ein Scherz. Kein Mensch heißt ernsthaft Humblebee.«

      »Das war ihr Name. Christine Humblebee«, beteuerte Mr Simms und nickte wie ein Wackeldackel auf einer Schotterpiste.

      »Na schön. Christine Humblebee«, notierte Dieber missmutig. Er schien den albern klingenden Namen der Vermissten persönlich zu nehmen. Colin vermutete, dass er sich nach Diebers Meinung nicht gut im Protokoll einer Mordermittlung machte.

      »Und sie ist einfach aus dem Heim verschwunden und nie wieder aufgetaucht? Was hat denn ihre Familie dazu gesagt?«, wollte Jasper wissen.

      »War sie dement oder so etwas?«, ergänzte Colin.

      Mr Simms versuchte, alle Fragen gleichzeitig zu beantworten, was ihn offenbar in schwere Verwirrung stürzte. Eine Weile stotterte er zusammenhanglos vor sich hin. Dann sammelte er sich unter heftigem Atmen und formulierte sehr konzentriert: »Eine Familie hatte Mrs Humblebee nicht.


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