Abenddämmerung im Westen. Wieland Becker

Читать онлайн книгу.

Abenddämmerung im Westen - Wieland Becker


Скачать книгу
– erlebten wir den Einmarsch der Roten Armee, genauer wir hörten unten im Tal das Dröhnen der Panzer. Irgendwann begann der Weg nach Hause quer durch Sachsen und – nach einem längeren Aufenthalt in einem Barackenlager bei Wurzen – durften wir die Mulde auf einem Steindamm überqueren und standen schließlich vor unserem Holzhaus, das ich, wie ich meinte, zum ersten Mal sah. Schließlich kam auch unser Vater nach Hause.

      Im Gegensatz zur Innenstadt war unser Leipziger Vorort Probstheida kaum zerstört. Nur das Völkerschlachtdenkmal war durch Granatfeuer auf einen der unteren Bögen beschädigt. Dort, so erfuhr ich später, hatten sich die letzten fanatischen Verteidiger Leipzigs verschanzt.

      Die Trümmerlandschaft Leipzigs sahen wir nur dann, wenn wir „in die Stadt“ fuhren. Im Gedächtnis blieben mir die Ruine der Johanniskirche und der zerstörte Hauptbahnhof.

      An den Krieg erinnerten die Kriegsversehrten – Männer mit ihren Krücken, das eine Hosenbein am Gürtel befestig, oder jene, die eine dunkle Brille trugen und die gelbe Armbinde mit den schwarzen Punkten, oder der Mann ohne Beine, der sich auf einem aus Brettern und Kugellagern selbstgebauten Gefährt mit Hilfe der Hände vorwärts bewegte.

      Als wir drei Jungen 1951 mit unserem Vater in die Sächsische Schweiz nach Bad Schandau fuhren, machten wir in Dresden Station; auf dem Weg zur Dresdener Diakonie, in der eine unserer Tanten tätig war, führte unser Weg durch eine endlose Trümmerlandschaft, mit einem schmalen begehbaren Streifen, den die Trümmer nicht bedeckten. Damals dachte ich dass es unmöglich sei, diese Trümmerberge jemals zu beseitigen. An die Jahre nach dem Krieg habe ich – abgesehen vom Hunger, von der beißenden Kälte im Winter und dem Lebertran – viele gute Erinnerungen. Im November 1945 wurde ich eingeschult – mit Griffel und Schiefertafel. 1947 und 1949 kamen zwei Schwestern hinzu, sodass wir Jungen jetzt von vier Schwestern „eingerahmt“ waren, bis heute.

      Der Generation zugehörig, die in früher Kindheit mitbekam, dass Krieg war und mit den Folgen dieses Krieges schon bewusster umging, wurde ich von Sätzen wie „Nie wieder Krieg“ oder „Wer jemals wieder ein Gewehr anfasst, dem soll die Hand abfallen.“ beeinflusst. In den ersten Nachkriegsjahren prägten sie auch uns Kinder – in gewisser Weise bis heute.

      Dem Frieden, den sich – nach den bitteren Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges – so viele so sehr erhofft hatten, war keine Dauerhaftigkeit beschieden. Im geteilten Deutschland waren schon wenige Jahre später wieder militante Töne zu hören. Es war der „Kalte Krieg“, der zur Wiederaufrüstung im Osten wie im Westen führte. Der Kommunismus bedrohe den Weltfrieden hieß es auf der einen Seite – die Imperialisten unterdrückten andere Länder und plünderten sie aus – auf der anderen. Selbst die alten NS-Eliten aus Militär, Justiz und Wirtschaft wurden dort rehabilitiert, weil sie im Kampf gegen den schlimmsten Feind der Menschheit, den Bolschewismus, dringend gebraucht würden. Und schon Ende der vierziger Jahre gab es die ersten Nachrichten von neuen Kriegsschauplätzen, fern von Europa und doch sehr nahe.

      So war es irgendwie folgerichtig, dass ich mich sowohl mit dem vergangenen Krieg als auch mit NS-Diktatur zu beschäftigen begann. Denn deren „Spuren“ waren täglich gegenwärtig: Trümmerberge, Begegnungen mit Überlebenden der Konzentrationslager im Bekanntenkreis der Eltern oder in der Schule, Klassenkameraden ohne Väter… Und dazu Filme und Bücher.

      Das wahrscheinlich erste filmische Dokument zur NS-Zeit, das ich bewusst sah, war der von britischen Kameraleuten gedrehte Film über die Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen. Noch heute sehe ich diese Bilder vor mir: Eine Planierraupe, die Berge von ausgemergelten Toten, in Häftlingskleidung oder nackt, in ein Massengrab schiebt, wo sie in schrecklichen Verrenkungen auf die bereits im Grab befindlichen Körper fallen.

      Es gab Ende der vierziger Jahre die ersten Filme, von denen der polnische Film „Die letzte Etappe“ (Ostatni etap/ 1948) der einprägsamste war, selbst wenn man nicht wusste, dass die Regisseurin Wanda Jakubowska und die Verfasserin des Szenariums, Renate Deutsch, zu den Überlebenden von Auschwitz gehörten und drei Jahre danach wieder in das Todeslager gingen, um dort diesen Film zu drehen. Auch ohne dieses Wissen spürt man die besonders bedrückende Authentizität dieses Films. Es wären noch sehr viele Filme und Bücher aus aller Welt zu nennen, die mir ebenso bis heute wichtig sind, wie auch eine Vielzahl historischer Betrachtungen, Analysen und Dokumentationen zum II. Weltkrieg und den folgenden Kriegsschauplätzen, die seitdem verfasst wurden. Wenn ich hier Konstantin Simonow nenne, dann deshalb, weil zwei der Titel seiner Romantrilogie für mich zu grundsätzlichen Fragen führten: „Man wird nicht als Soldat geboren“ und „Die Lebenden und die Toten“.

      Wenn ich mich an die 60er Jahre erinnere, dann gehört die Kubakrise zu den Ereignissen, die mir auch deshalb im Gedächtnis blieben, weil sie mit persönlichen Erlebnissen verbunden war. Mein jüngster Bruder diente in dieser Zeit als Unteroffizier in der Nationalen Volksarmee. Mit Ausbruch der Krise wurde seine Einheit in Alarmbereitschaft versetzt. Das hieß 24-Stunden-Dienst in einem Bunker (im Rhythmus von jeweils 8 Stunden Dienst, Bereitschaft und Schlaf, über Wochen). Statt im August wurde er erst im Oktober entlassen. Gesehen haben wir ihn in diesen langen Wochen nicht einmal. Von den bei Erfurt stationierten Einheiten war schon damals „bekannt“, dass sie, gleich ob Abwehr oder Angriff, innerhalb der ersten 24 Stunden völlig aufgerieben sein würden.

      Denke ich an die 70er Jahre, so erinnere ich mich – damals 34jährig – an meinen Einberufungsbefehl, der mich für einen halbjährigen Wehrdienst verpflichtete. (Er kam insofern überraschend, da ich mit 24 Jahren ausgemustert worden war.) Die Grundausbildung mit ihren körperlichen Anforderungen und den kleinen und großen Schikanen bewältigte ich recht gut. Was mich besonders interessierte war, wie das System Armee funktionierte. So diente und beobachtete ich …

      Unfreiwillig war ich ein sehr guter Schütze. Dieser Umstand forcierte mein Nachdenken über die Frage, ob ich mit der Kalaschnikow auch gezielt auf Menschen schießen würde. Obwohl ich mir das anfangs nicht vorstellen konnte, begriff ich in diesen Monaten, dass auch ich schießen müsste, weil ich sonst am Tod der anderen Soldaten neben mir mitschuldig werden würde. Der einzige Ausweg, der bliebe, wäre, sich vor dem ersten Gefecht selbst zu töten.

      Eine weitere Erfahrung war der „Atomino“ genannte Strahlenschutzanzug. Bei der ersten „Anprobe“ dieses monströsen Anzuges (in dem man sogar im November schon beim Anziehen wahnsinnig zu schwitzen begann und unbeholfen lief) galt eine Normzeit von 18 Minuten, die erst nach mehreren Übungen zu schaffen war. Irgendwann wurde diese Norm auf 25 Minuten erhöht, was mich und andere nachdenklich machte, denn Erhöhungen einer Normzeit war eigentlich undenkbar. Welchen Grund es dafür gab, versuchten wir herauszufinden. Bot der Anzug einen wirksamen Schutz vor der unsichtbaren Strahlung, erst wenn 25 Minuten vergangen waren? Oder musste er, um überhaupt Schutz zu bieten, sorgfältiger angelegt werden, als es in 18 Minuten möglich war? Insgeheim dachte ich damals, wenn es je dazu kommen sollte, dann wollte ich lieber ganz nahe am Zentrum der Explosion sein, damit es schnell vorüber wäre.

      Jahrzehnte später las ich einige der Gesprächsprotokolle, die Swetlana Alixijewitsch mit Überlebenden von Tschernobyl geführt hatte. Ich habe das Buch nie zu Ende lesen können. Aber das, was ich las, bestätigte mir auf schreckliche Weise, dass mein damaliger „Wunsch“ der einzig sinnvolle war.

      Für den Ernst-Fall hatten wir zwei Bereitstellungsräume: Einen nahe der Grenze zur BRD im Falle eines eigenen Angriffs und den zweiten östlich von Leipzig im Falle eines Angriffs der Nato.

      Mit dem Tag der Entlassung musste ich wirklich schlagartig erkennen, dass mich dieses eigentlich kurze halbe Jahr bereits verändert hatte, und ich brauchte mehr als nur ein paar Tage, um wieder zu mir zurückzufinden. Anfänglich war ich nahezu fassungslos, wie nachhaltig das Soldat-seinmüssen – trotz aller Reflexionen und Gespräche über diese besondere Lebenssituation – mich zu ändern vermocht hatte.

      Die härteste Prüfung war ein Manöver, bei dem ein Panzerangriff auf dem Plan stand. Wir fuhren mit unserem kleinen Funk-Auto zwischen diesen Ungetümen herum und waren heilfroh, unbeschadet – ohne Kollision – davon zu kommen. In diesen Stunden habe ich mich keine Sekunde als heldenhaft erlebt. Der einzige


Скачать книгу