Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz. Christoph Heizler

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Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz - Christoph Heizler


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die sehr geringe Anzahl von Gesamtdarstellungen zum Gebet bei Edith Stein in der Sekundärliteratur mag zunächst eine Rolle spielen, dass Stein (neben einzelnen schriftlichen Äußerungen und einem Aufsatz zum „Gebet der Kirche“166) das Thema nicht ausdrücklich und systematisierend aufgegriffen hat. Jedenfalls gibt es von ihr keine Publikation in Form von ausdrücklichen Erläuterungen oder gar einer grundlegenden, theologisch-systematisierenden Zusammenschau von Einzelaspekten des betenden Geschehens, wie es etwas bei Teresa von Ávila ganz im Gegenteil der Fall ist. Zwar erwähnt Edith Stein die Worte „Beten“ und „Gebet’ “ sowie direkt davon abgeleitete thematisch relevante Worte häufig in ihren Briefen.167 Erwähnung findet das entsprechende Wortfeld auch in Nebensätzen bei ihren Studien und Aufsätze, die sie kontinuierlich verfasst. Eine zusammenschauende Gebetsystematik findet sich jedoch nirgends. Von daher ist einerseits lediglich eine schmale Textbasis an das Thema ausführenden Belegstellen vorhanden, die für aufgestellte Thesen zum Gebetsverständnis bei Edith Stein herangezogen werden können. Darin mag einer der Gründe liegen, wieso bisher kaum Forschungen zu diesen Fragen stattgefunden haben.

      Beachtet man allerdings andererseits, wie frühzeitig und kontinuierlich sie liturgische Texte (also kirchliche Gebete) vom Lateinischen ins Deutsche überträgt,168 und schon seit 1924 eigene meditative geistliche Texte, Gebete, Gedichte und später Theaterstücke verfasst,169 dann wird erkennbar, wie stark ihr geistlich-literarisches Werk zuinnerst vom Leben aus dem Gebet geprägt war. Der unentwegt sich manifestierende literarische Kraftimpuls lässt erahnen und illustriert, wie stark sie täglich aus diesem Geschehen heraus lebte. Er zeigt in diversen Gattungen170 und literarischen Facetten, wie beständig virulent das innere Erleben gewesen sein musste, das nach Ausdruck suchte. Auch findet das Thema Gebet in ihren Aufsätzen, etwa den Schriften zu den Heiligengestalten des Karmel,171 durchgängig Erwähnung und ist insofern stets anwesend. Es kann vor diesem Hintergrund die Frage aufkommen: Wieso ist Edith Stein so zurückhaltend mit einer größeren172 Darstellung, wo sie doch als Phänomenologin gewohnt und umfassend darin geübt war, die Dinge in ihrem Zusammenhang zu sehen, ihr Wesen zu erforschen und dieses dann darzulegen?

      Eine beachtenswerte Rolle für die Zurückhaltung Edith Steins bezüglich einer ausdrücklichen und systematisch entfalteten Gebetstheologie mag darin gründen, dass sie nie eine akademisch-theologische Ausbildung erfahren hat und von daher zurückhaltend gewesen war, was die Selbsteinschätzung ihrer theologischen Kompetenz betrifft. Bei der Übersetzung von Werken des Aquinaten wird ihr jedenfalls das Fehlen einer profunden (neu-)scholastisch-theologischen Ausbildung schmerzlich bewusst, wie sie später gegenüber einer wissenschaftlichen Autorität auf dem Gebiet der Thomasforschung in einem ihrer Briefe bemerkt: „Daß andere zu dieser Arbeit berufener gewesen wären als ich, davon kann niemand mehr überzeugt sein als ich. […] Ich bin ja als Neuling in der Scholastik (wenn auch nicht in der Philosophie) daran gegangen, um mit Thomas vertraut zu werden. […] Für weitergehende Erklärungen, wie ich sie gab, hätte mir die Kompetenz gefehlt. Vielleicht hat so ein ahnungsloser kleiner David dem Goliath zu Leibe rücken müssen, um den schwergerüsteten Kriegern einen Ansporn zu geben. Wenn ich 15 oder 20 Jahre jünger wäre und frei zu tun, was mir das Beste schiene, dann würde ich noch einmal von unten herauf mit dem Studium der Philosophie und Theologie anfangen. Aber ich bin in dem Alter, wo das, was man hat, Früchte tragen muss und nur nebenher, so gut es eben noch geht, nachgeholt werden muss, was fehlt.“173 Zu ihrer begrenzten theologischen Vorbildung kam hinzu, dass der Karmelitin mit Blick auf das zur Verfügung stehende Zeitbudget für eigenständiges wissenschaftliches Arbeiten stets sehr enge Grenzen gesetzt waren. Sie war während ihrer gesamten Zeit im Karmel durchgängig sehr stark zeitlich beansprucht von einem vorkonziliaren Ablauf des gemeinschaftlichen Lebens, das zahlreiche Riten und hunderte gemeinschaftsinterne spezielle Gebräuche kannte.174 In dieses für sie im Äußeren des Klosteralltags neue Leben musste sie zu Beginn mühsam hineinwachsen, zumindest was die ritualisierten Gepflogenheiten und Umgangsweisen im Konvent betraf. Der klösterliche Tagesablauf erlaubte ihr nur jeweils eine kurze, wenige Stunden währende Arbeitsphase ohne Unterbrechungen. In der Zeit als Ordensfrau war sie zudem kontinuierlich von Auftragsarbeiten und Gelegenheitsschriften zu Jubiläen, Geburtstagen, klösterlichen Festlichkeiten usw. beansprucht.175 So kann das Fehlen von systematisierenden Überlegungen zum Gebet bei ihr auch darin gründen, dass sie schlicht keine Zeit dafür fand. Dass Edith Stein zum Thema Gebet nicht umfangreicher wissenschaftlich publiziert hat, das liegt somit u. a. auch an ihrer monastischen Existenz als Ordensfrau in einem eng reglementierten Tagesablauf vor der Ordensreform im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils.

      Des Weiteren war die Möglichkeit zur Forschung für eine Karmelitin damals nicht üblich, schon gar nicht für eine Ordensfrau am Anfang ihres Weges in ein klösterliches Leben. Vielmehr war wissenschaftliche Forschung für eine Novizin ausgeschlossen, zumal im Orden der unbeschuhten Karmelitinnen mit seinen betont eremitischen Elementen und einer rein kontemplativen Ausrichtung, die im damaligen Verständnis kaum Raum für wissenschaftliche Betätigung lies. Ohne die hellsichtige Initiative und die ausdrückliche Erlaubnis des damaligen Provinzials wäre für Edith Stein überhaupt nicht denkbar gewesen, dass sie über längere Zeiträume hindurch wochentags statt an der Rekreation teilzunehmen weiter ihre Studien betrieb und entsprechende Materialien zur Verfügung hatte, ja dass sie sogar bisweilen nicht verpflichtet war, an allen Gebetszeiten und Rekreationen der Gemeinschaft teilzunehmen. Eine eindringlich darauf abzielende Initiative Sr. Teresia Benedictas hat daran zwar mitgewirkt, wäre allein aber keineswegs erfolgreich gewesen, hätten die Verantwortlichen dem nicht nachgegeben.

      Am aufschlussreichsten für die Frage, weshalb sie zum Gebet als dem zentralen Thema ihrer monastischen Berufung nicht mehr ausdrücklich in systematisierender Form verfasst hat, scheint mir jedoch die Auffassung von Koeppel zu sein. Ihr zufolge habe Edith Stein fortwährend vom Thema Beten gehandelt und dafür geworben, allerdings in impliziter Weise, nämlich wie Gebet nicht in Worten, sondern in Taten sich ereigne als „an der Hand Gottes gehen“. Koeppel bermerkt dazu: „What she felt called upon to make known at every opportunity was ‚how to live at God’s hand‘, and this is the perfect form of prayer expressed in actions, not in words. Her prayer, then, can be deduced from her behavior, her demeanor. […] For many who had observed her at prayer in Speyer, in the Abbey of Beuron, or in Carmel, Edith was prayer personified.“176 Für diese Auffassung, und damit indirekt für die zentrale Bedeutung des Themas „Gebet“, spricht, dass Edith Stein selbst mit einer ähnlichen Formulierung angibt, was ihr zentrales Anliegen bei allen Vorträgen und öffentlichen Auftritten ist. Dabei spricht unsere Autorin jedoch nicht von vom Gehen an der Hand „Gottes“, sondern an der Hand des „Herrn“. In einem Brief vom 28. 4. 1931 an Adelgundis Jaegerschmid OSB bemerkt sie dazu: „Es ist im Grunde nur eine kleine, einfache Wahrheit, die ich zu sagen habe: wie man es anfangen kann, an der Hand des Herrn zu leben. Wenn die Leute dann etwas anderes von mir verlangen und mir geistreiche Themen stellen, die mir sehr fernliegen, dann kann ich sie nur als Einleitung nehmen, um schließlich auf mein Ceterum censeo zu kommen.“177

      Wenn man „an der Hand des Herrn gehen“ mit Koeppel als „prayer in action, not in words“ versteht, dann hätte Edith Stein tatsächlich einer praktischen Gebetstheologie und Gebetshermeneutik fortwährend erste Priorität eingeräumt – und zwar als dem Kern ihrer gesamten öffentlichen Präsenz bei Vorträgen im In- und Ausland. Zu dieser Auffassung passt, dass Edith Stein im Beitrag „Freiheit und Gnade“178 vom Glauben spricht und dabei das Bild von der Hand verwendet: „Ergreife ich die Hand, die mich anrührt, dann finde ich den absoluten Halt und die absolute Geborgenheit.“179 Sie fährt fort: „Gottes Hand fassen und halten – das ist die Tat, die den Glauben mitkonstituiert.“180 Diese Hand erfährt Edith Stein als rettende, wie sie gegenüber Roman Ingarden am 13. 12. 1925 schreibt. Sie schaut auf ihre innere Krisenzeit zurück und findet dafür einen bildhaften Vergleich, in dem der rettende Arm bedeutsam wird: „Mir ist dann etwa so wie einem, der in Gefahr war zu ertrinken, und dem lange nachher im hellen, warmen Zimmer, wo er ganz geborgen ist in Sicherheit und rings umgeben von Liebe und Fürsorge und hilfreichen Händen, auf einmal das Bild des dunklen, kalten Wellengrabes vor der Seele steht. Was soll man dann anders fühlen als Schauder und dazu eine grenzenlose Dankbarkeit gegen den starken Arm, der einen wunderbar ergriffen und ans sicherer Land


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