Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz. Christoph Heizler

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Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz - Christoph Heizler


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eine Gestalt erkennbar wird. Dazu werden sichtbare Konturen ihres Betens unter Einbezug von sinndeutenden Horizonten darauf hin untersucht, ob übergreifende Tendenzen in den Gebetsartikulationen zu erkennen sind. Diese übergreifenden Tendenzen können, so meine These, als Gestaltwerdung eines kirchlich situierten Betens mit einem genuin marianisch-pneumatischen Akzent angesehen werden.

      Bei der Durchführung der angestrebten Studie sind hermeneutische und methodische Einstellungen wirksam, die im Folgenden dargestellt und begründet werden.

      Die angestrebte Vorgehensweise, bei der zunächst deskriptiv von der sichtbaren Außenseite eines religiösen Geschehens ausgegangen wird, um sodann unter Einbezug sinndeutender Horizonte zu einer Erschließung der Innenseite der gesichteten religiösen Praxis zu gelangen, formuliert in ähnlicher Weise Kees Waaijman OCarm in seinem Konzept einer beschreibenden Spiritualitätsforschung: „Beschreibende Spiritualitätsforschung wird in drei Schritten vollzogen: Zunächst wird die Form im Hinblick auf Zeit und Ort eingegrenzt, dann wird diese Form in ihren Kontext gestellt und schließlich wird sie interpretiert, so dass sich ihr Innenhorizont erschließt.“183 In Anlehnung an dieses Grundkonzept leiten sich für die vorliegende Studie adaptierte methodische Schritte ab, die nachfolgend skizziert werden.

      Die angestrebte Untersuchung sichtet in einem ersten Schritt die von der Autorin überlieferten Gebetsäußerungen verbaler und nonverbaler Art. Dabei richtet sich das Interesse zunächst darauf, die aus diversen Quellen ersichtlichen Gebetsereignisse in ihrer individuellen Kontur zu beschreiben und daran anschließend sinndeutende Horizonte und Einflüsse zu benennen, die für eine mögliche Erschließung der beschreibend aufgewiesenen Konturen bedeutsam sind. Davon ausgehend und weiterführend richtet sich das Augenmerk auf die Frage, ob ein alle Einzelelemente integrierendes Moment formulierbar wird, das sich durchgängig aufweisen lässt. Ich möchte dadurch klären, ob eine Zusammenschau der vielfältigen Äußerungen betenden Geschehens im Leben der Edith Stein rückblickend eine innere Dynamik erkennen lässt, die als Gestaltwerdung beschrieben werden kann. Von der heute möglichen, posthumen Warte aus fragt die vorliegende Untersuchung: Hat ein übergreifender Prozess des Werdens formgebend im Leben dieser Frau geprägt, was mal um mal in den einzelnen betenden Lebensstunden offenbar geworden und in Erscheinung getreten ist?

      Falls eine solche Gestalt aufgewiesen und in ihren Grundzügen benannt werden kann, ergibt sich die Frage nach der ekklesiologischen Relevanz dieser Erscheinungsform religiöser Existenz. Besonders die sehr auffälligen mariologischen Implikationen ihrer Gebetspraxis und Selbstdeutung verdienen dabei Beachtung. Vorblickend sei als These formuliert: Edith Stein versteht sich in ihrer geistlichen Existenz wesentlich von der Gestalt Mariens her, die als Urbild der Frau und Leitstern für die innigste Beziehung zu Jesus Christus angesehen wird. Edith Stein sieht sich selbst zu einer speziellen Teilhabe am Sein Mariens im Raum der Kirche berufen. Sie gewinnt von diesem geistlichen Standort aus eine gläubige Sicht auf die theologische Größe „Kirche“, bei der diese als personales Gegenüber gesehen werden kann.

      Analog zur übergreifenden Zusammenschau der Steinschen Gebetspraxis im gesamten Lebenslauf sind in einem zweiten, ergänzenden Schritt zwei geistliche Texte Gegenstand der Untersuchung. Das erste zu untersuchende Opus „Ostermorgen“ ist ein frühes Werk der Autorin aus dem Jahr 1924. Diese Meditation aus ihrer Speyerer Zeit ist der erste selbst verfasste geistliche Text Edith Steins. Er ist bereits neun Jahre vor dem Eintritt in den Karmel entstanden. Den zweiten Text „Braut des Heiligen Geistes“ hat Sr. Teresia Benedicta 1942, wenige Monate vor ihrem Tod, im Konvent in Echt verfasst. Beide Beiträge unserer Autorin werden mit Blick auf sprachliche Merkmale und theologische Aussagen untersucht und anschließend zusammengeschaut. Einer Sichtung im Großen der gesamten Biographie, die sich auf übergreifende Tendenzen und sinndeutende Horizonte in den Konturen ihres Betens und eine darin erkennbare Gestalt richtet, schließt sich somit eine Mikroanalyse im Kleinen an, nämlich auf der Textebene der beiden genannten geistlichen Texte.

      Die Mikroanalyse des Textes sucht jeweils zu erkunden, ob auch dieses kleinste „Gewebe“ von Einzelelementen eine genuine Gestalt offenbart, bei der sich näherhin die literarisch beschreibbaren Konturen und lyrischen Stilmerkmale im Lichte der diese prägenden sinndeutende Horizonte theologisch-geistesgeschichtlicher Art zu einer Gestalt formieren. Es ist somit eine vom Großen zum Kleinsten fortschreitende Sichtung angestrebt, die ausgehend vom großen „Gewebe“ der Gebetsäußerungen im Lebenslauf der Edith Stein insgesamt bis zum kleinsten „Gewebe“ im Textus zweier schriftlicher Zeugnisse vordringen möchte. Meine These lautet, dass auf beiden Ebenen in den erscheinenden Konturen formgebende Momente ersichtlich werden, die als Gestalt mit ekklesiologischer Bedeutung benannt und beschrieben werden können. Falls das aufgewiesen werden kann, wäre ihr Beten sowohl auf der Ebene des existentiellen Vollzugs als auch auf derjenigen des literarischen Niederschlags wesentlich als Gestalt kirchlicher Existenz zu formulieren.

      Ein solches Hingehen zu den in verschiedenen Quellen zutage tretenden Gebetsäußerungen geschieht nicht willkürlich, sondern mit Bedacht und unter sorgsamer Abwägung anderer, ebenfalls gangbarer Alternativen. Sinnvoll scheint mir dieser Hinweg zum Gebet bei Edith Stein insofern, als er methodisch versucht, dem genuinen philosophischen Anliegen und Vorgehen der Autorin zu entsprechen, also insofern der Hinweg von vorne herein eine höchstmögliche Angemessenheit an die Eigenart des Betenden anstrebt.

      Denn Edith Stein lässt in ihrem philosophischen Werk den Versuch erkennen, sich in modifizierender Aufnahme der phänomenologischen Methodik von Edmund Husserl und Adolf Reinach und mit dem Anliegen einer aktualisierenden Thomasrezeption184 der Frage nach dem Sinn des Seins zu stellen. Das kommt deutlich zum Ausdruck in ihrem philosophischem Opus „Endliches und ewiges Sein – Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins“, das als eigenständiger Entwurf einer Religionsphilosophie in Erscheinung tritt.185 Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz beschreibt das Anliegen der promovierten Philosophin zusammenfassend: „Edith Steins Absicht war, die griechische Seinslehre des Aristoteles, ihre biblische Vertiefung bei Thomas von Aquin, die trinitarische Relationslehre Augustins und die Phänomenologie Husserls einzubeziehen in das integrative Leitbild einer philosophia perennis für die mittelalterliche und die neugeborene Philosophie des 20. Jahrhunderts.“186

      Es scheint vor diesem Hintergrund angemessen, die Frage nach einer „Entelechie“ auf ihre eigene betende Existenz anzuwenden. Entelechie wird hier mit Thomas Schärtel verstanden in einer neuzeitlichen „Verwendung des E.Begriffes: Gemeint ist das innere Hingeordnetsein eines Lebewesens bzw. eines lebendigen Organismus auf ein Ziel, das es bzw. er gewissermaßen ‚in sich‘ trägt, so dass dieses Ziel seine Entwicklung antreibt und sein Tätigsein leitet.“187 Den Entelechiebegriff greift Edith Stein selbst – dabei über Thomas von Aquin von Aristoteles herkommend – in ihrem philosophischen Hauptwerk auf.188 Daher versucht meine Studie unter diesem Aspekt die vorfindlichen Zeugnisse ihres Betens als Prozess mit dem Charakter einer Gestaltwerdung zu sichten, bei dem ein in der Person Edith Steins angelegtes Potential sukzessive zur Entfaltung kam und eine Zielausrichtung virulent wurde, auf die hin ihr Leben als geistliche Existenz ausgerichtet war.

      Alternativ wäre methodisch denkbar gewesen, zunächst ihre philosophische Grundausrichtung im Sinne einer der Mystik geöffneten Phänomenologie in ihrer Entwicklung ausführlich zu konturieren, anschließend mit ihrer interpretierenden Darstellung der Philosophie des Areopagiten und derjenigen des Johannes vom Kreuz zu verbinden, und erst von diesem Hintergrund aus die benennbaren Gebetserscheinungen vor der erarbeiteten Folie ihres philosophischtheologischen Ansatzes einzuordnen. Bei diesem methodischen Zugang wären jedoch ihr philosophisches Denken und ihre theologische Ausrichtung die vorgängig formulierte, inhaltliche Matrix für die Einordnung und Sichtung der beobachtbaren Gebetsäußerungen und -zeugnisse gewesen.

      Diese Variante des Herangehens habe ich bewusst nicht gewählt, um dafür stärker und betonter den Blick zunächst rein beschreibend auf die Konturen des Betens werfen zu können. Denn nicht erst im Lichte der deutenden inhaltlichen Horizonte, sondern schon rein anhand der sichtbaren Kontur und benennbaren Struktur ihres Betens (z. B. hinsichtlich seiner zeitlichen


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