Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz. Christoph Heizler

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Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz - Christoph Heizler


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Subjekten zukommen. Der Gestaltbegriff insinuiert somit eine spezielle Qualität der entstehenden Verschränkung von erkennendem Subjekt und dem, was diesem begegnet.

      Doch erst im Rahmen einer theologischen Erkenntnislehre (und einer entsprechenden theologischen Ästhetik) und vermittelt in fundamentaltheologischen Entwürfen, kann dieser Begriff zu einer theologischen Kategorie werden, die für unsere Fragestellung nach der Gestalt des Betens bei Edith Stein von erhellender Bedeutung ist.262 Die hier und im weiteren Verlauf der Studie folgenden Überlegungen lenken den Blick ausgehend vom Gestaltverständnis Hans Urs von Balthasars263 auf die erscheinende Gestalt des betenden Geschehens bei Edith Stein. Die Balthasarsche Optik soll somit als „Sehhilfe“ herangezogen werden, um die betende Existenz der Edith Stein als spezielle Form der Christusnachfolge zu beschreiben, die sich im Raum der Kirche als Ausdruck der Mitwirkung an göttlicher Liebe entfaltet. Das theologische Werk Hans Urs von Balthasars ist allerdings überaus umfangreich.264 In seinen thematischen Ausführungen ist es weiträumig angelegt und vielschichtig entfaltet. Das gilt sowohl in verschiedenen Schaffensphasen als auch insgesamt gesehen, wenn sich auch Schwerpunkte benennen lassen, die jeweils besonders virulent sind.265 Die Gefahr, sich bei der Darstellung Balthasarscher Positionen und wichtiger Begriffe seiner Theologie in Einzelaspekten zu verlieren, ist daher ebenso groß wie diejenige, sein originelles Anliegen unangemessen zu verkürzen und auf diese Weise zu verfehlen. Gleichwohl muss sich meine Darstellung an dieser Stelle darauf beschränken, aus dem Gesamten seines Entwurfs lediglich diejenigen Aspekte des Gestaltverstehens schlaglichtartig und verdichtet zu benennen, die mir für meine Fragestellung von besonderer Bedeutung zu sein scheinen. Im weiteren Verlauf meiner Studie kann vor diesem Hintergrund dann der Balthasarsche Ansatz einer christologisch gewendeten Gestaltphänomenologie verständlicher als Matrix beschrieben werden, auf der die einzelnen Gebetsmomente im Leben der Edith Stein zusammenschauend gesichtet und verstanden werden können.

      Von besonderem Interesse ist dabei, wie Hans Urs von Balthasar den Begriff „Gestalt“ in theologischer Perspektive verwendet.266 Zu beachten ist, dass es ihm dabei „nicht um eine Ästhetisierung der Theologie“ geht, „sondern um die Ausarbeitung einer theologischen Wahrnehmungslehre. […] Die Haltung ehrfürchtigen Staunens, die bereit ist, ein Phänomen spontan aufzunehmen, liefere eher eine Analogie dafür, wie man sich der Offenbarung zu nähern habe. Balthasar setzt ganz auf das Vermögen rezeptiver Spontanität: Wer im Glauben die geschichtliche Offenbarungsgestalt der Liebe Gottes ‚erblicke‘, der werde über sich hinausgezogen, gleichsam ekstatisch ‚entrückt‘.“267 Er selbst formuliert es in prägnanter Kürze so: „Das Hauptpostulat meines Werkes ‚Herrlichkeit‘ war die Fähigkeit, eine ‚Gestalt‘ in ihrer zusammenhängenden Ganzheit zu sehen: der goethesche Blick sollte auf das Phänomen Jesu und die Konvergenz der neutestamentlichen Theologien angewendet werden.“268 So wird für Baltasar der Gestaltbegriff zum zentralen Moment an seiner theologischen Ausrichtung: „Ich studierte in Wien nicht Musik, sondern vor allem Germanistik, und was ich dort lernte, war das, was sich später in meinem theologischen Schrifttum ins Zentrum stellte: Das Erblicken-, Werten- und Deutenkönnen einer Gestalt, sagen wir: den synthetischen Blick (im Gegensatz zum kritischen Kants, zum analytischen der Naturwissenschaft), und dieses Gestaltdenken verdanke ich dem, der nicht abließ, aus dem Chaos von Sturm und Drang auftauchend, lebendige Gestalt zu sehen, zu schaffen, zu werten: Goethe. Ihm danke ich dieses für alles Hervorgebrachte Werkzeug.“269 Hans Urs von Balthasar greift somit entschieden auf Goethe270 zurück, um seinen Gestaltbegriff im Bereich der Theologie zu entwickeln.271 In einem Interview spricht er ausdrücklich von dieser Wahl: „Rahner hat Kant oder, wenn Sie wollen, Fichte gewählt, den transzendentalen Ansatz. Und ich habe Goethe gewählt, als Germanist. Die Gestalt, die unauflöslich einmalige, organische, sich entwickelnde Gestalt – ich denke an Goethes ‚Metamorphose der Pflanzen‘- diese Gestalt, mit der Kant auch in seiner Ästhetik nicht wirklich zu Rande kommt.“272

      Auch Edith Stein bezieht sich wiederholt in ihren Publikationen auf Goethe273 und stellt in ihren philosophischen Studien Betrachtungen über Naturphänomene an274, zu denen sie von der Phänomenologin und langjährigen Weggefährtin Hedwig Conrad-Martius inspiriert ist.275 Eine auffällige Parallele zwischen der Frau aus Breslau und dem Weimarer Literaten. Für die Fragestellung dieser Studie bleibt festzuhalten, dass der Zugang zur Gestalt ihres Betens über den von Balthasar theologisch formulierten Gestaltbegriff Edith Stein insofern angemessen ist, als beide wesentliche Anregungen von Goethe erhalten haben. Von daher ergibt sich eine gemeinsame Wurzel der beiden germanistisch gebildeten und in philosophisch-theologischer Perspektive an Fragen des Seins interessierten Geistesgrößen Edith Stein und Hans Urs von Balthasar.

      Bei Balthasar fungiert nun der Gestaltbegriff als theologische Aussageform dazu, Momente am christlichen Offenbarungsgeschehen so ins Wort zu bringen, dass der kommunikativ-dialogische und fortschreitende Charakter von Offenbarung als religiöser Erfahrung des Menschen einsichtig wird und zudem der Zusammenhang zwischen („schöner“) Form und Gegebenheitsweise des Begegnendem und dessen („wahrem“) Inhalt.276 Ein religiöses Geschehen kann somit unter der Hinsicht auf seine Gestalt sowohl in seinem Verlauf als auch hinsichtlich seiner inneren Zielrichtung zur Sprache kommen, bei der Form und Inhalt aufs engste zusammen gehören. Letzteres wird von Hans Urs von Balthasar umfassend versucht im Rahmen seiner für ihn typischen Arbeitsmethode. Peter Henrici skizziert diesen theologischen Stil, der in den Werken Balthasars immer aufs Neue zur Anwendung kommt: „Der dichte kulturelle Hintergrund und seine Herkunft aus der Germanistik bestimmten B.s unverwechselbare (u. unnachahmliche) theol. Methode: Die einfühlende Darstellung und Deutung großer Gestalten der Trad. wie der Ggw. macht diese durchsichtig auf das Christlich-Wesentliche hin, während dieses Wesentliche umgekehrt immer nur in der Spiegelung in Texten und Gestalten faßbar wird – ‚das Ganze im Fragment‘.“277 Henrici kann daher zusammenfassend feststellen: „Ihrer Inspiration und Herkunft nach könnte man B.s Methode als theol. Phänomenologie bezeichnen.“278

      Im Rückblick auf die Entfaltung des ersten Teils seiner mit „Herrlichkeit“ betitelten dreibändigen theologischen Ästhetik kommt Balthasar im dritten Band resümierend auf den Begriff der Gestalt zu sprechen.279 Ausgehend von der Vielfalt menschlicher Erfahrungen, die sich in großen Beispielen der Weltliteratur spiegeln, führt er aus: „Hier wo in verschiedenen Graden der Deutlichkeit das je Ganze des Seins am einzelnen Seienden aufleuchtet, bietet sich der Begriff der Gestalt an. Er meint eine als solche erfaßte, in sich stehende begrenzte Ganzheit von Teilen und Elementen, die doch zu ihrem Bestand nicht nur einer ‚Umwelt‘, sondern schließlich des Seins im ganzen bedarf und in diesem Bedürfen eine (wie Cusanus sagt) ‚kontrakte‘ Darstellung des ‚Absoluten‘ ist, sofern auch sie auf ihrem eingeschränkten Feld seine Teile als Glieder übersteigt und beherrscht.“280 Mit Bezug auf Goethe und dessen Verständnis von Erhabenheit fährt Balthasar fort: „Alles begegnende Wirkliche ist in analogischen Abstufungen gestalthaft, wobei die ‚Höhe der Gestalt‘ beurteilt wird nach der größeren Macht der Einheit, gleiche Mannigfaltigkeit zu versammeln (Ehrenfels), aber alle geistig erblickbaren Gestalten über sich auf das vollständige und vollkommene Sein verweisen, das nach Goethe ‚von uns nicht gedacht werden kann‘. Das Licht, das aus der Gestalt bricht und sie dem Verstehen öffnet, ist somit untrennbar Licht der Form selbst (die Scholastik spricht deshalb vom splendor formae) und Licht des Seins im ganzen, worin die Form badet, um überhaupt einshaft Gestalt haben zu können. Mit der Immanenz steigt die Transzendenz. Ästhetisch gesprochen: Je höher und reiner eine Gestalt, desto mehr bricht das Licht aus ihrer Tiefe hervor und desto mehr verweist sie auf das Lichtgeheimnis des Seins im ganzen. Religiös gesprochen: je geistiger und selbständiger ein Wesen ist, um so mehr weiß es in sich um Gott und umso klarer verweist es auf Gott.“281 Mit Blick auf die bibilische Offenbarung, die in der Menschwerdung gipfelt, weist Balthsar schließlich hin auf die der einzelnen Gestalt innewohnende Dimension des Verweisens über sich hinaus: „Somit bedient sich das absolute Sein, um sich in seiner unergründlichen personalen Tiefe kundzutun, der Weltgestalt in ihrer Doppelsprache: unaufhebbarer Endlichkeit der Einzelgestalt und unbedingtem, transzendierendem Verweis dieser Einzelgestalt auf das Sein im ganzen.“282 Das erscheinende Phänomen ist dabei zugleich gelichtet und bleibt


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