Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz. Christoph Heizler

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Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz - Christoph Heizler


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Spur

      Wo sich einem Menschen das Gebetsgeschehen im eigenen oder fremden Leben von seiner Außenseite sichtbar zeigt und vor Augen stellt, dort bringt diese Erscheinung etwas nahe, was den Charakter einer Spur und eines mit Bedeutung gefüllten Verweises erkennen lässt. Der Beobachter eines betenden Menschen kann aus diesem Grunde im Prozess der Wahrnehmung keineswegs ein neutraler Betrachter bleiben, der gleichsam hinter der Glasplatte der distanzierten Erkenntnisbemühung unberührt bleiben könnte angesichts des existentiellen Geschehens, das bei einem anderen Menschen zu Gesicht bekommt. Vielmehr ist das Gegenteil davon eines der wesentlichen Charakteristika des betenden Grundaktes – dass es den Beobachter dieses Ereignisses zu einer sehr speziellen Form von Nähe führt, bei dem er selbst und sein Menschsein unvermeidbar mit in das Geschehen hineinragt, dessen er inne wird. Das berühmte Diktum Ludwig Wittgensteins „Gott kannst Du nicht zu einem anderen reden hören, sondern nur wenn Du der Angeredete bist“246, bringt die Konsequenz zum Ausdruck, die in dieser evozierenden Dynamik des Betens liegt. Es ist die Konsequenz, dass der Betrachter selbst von dem Geschehen angegangen ist, dessen er zunächst scheinbar nur neutraler Zeuge wird. Wo der Betrachter dann jedoch im anderen betenden Menschen (oder auch nachträglich seinen eigenen Gebetsmomenten) seine eigene Möglichkeit sieht, zu der er sich unvermeidbar selbst verhalten muss, da wird ein Prozess sichtbar, der den Betrachter in eine unabschließbare Begegnung mit dem Phänomen Gebet ‚hineinruft‘, die seine Freiheit gleichermaßen evoziert wie involviert. So könnte man sagen, dass die Gebetsmanifestationen gerade keine neutralen Vorfindlichkeiten sind, sondern vielmehr Ausdruck einer mit Relevanz berührenden Wirklichkeit, die werbend und zur Entscheidung drängend nahe tritt. Wo betendes Menschsein begegnet, da evoziert es in der Betrachterin und dem Betrachter die Frage, wie sie oder er selbst sich dem gegenüber verhalten soll. Warum ist dem so? Vorausblickend sei darauf hingewiesen, dass diese innere Virulenz betenden Menschseins, wo man den metaphysischen Verstehenszugängen Edith Steins folgen mag, darin gründet, dass erkannte und gelebte Wahrheit („verum“ et „bonum“) eine starke Ausstrahlung entfaltet, die man in einem grundlegenden Sinne als Attraktion mit ästhetischer Tiefe begreifen kann. Diese Attraktion ist ein Affiziertsein von einem „splendor“, einem Glanz247, der ins Auge fällt als „pulchrum“.248 Wo dem Betrachter angesichts eines anderen betenden Menschen etwas von dieser Wahrheit einleuchtet, dort ist er von ihr zumindest angezogen und affiziert, auch wenn diese geistliche Radiation momentan ohne sichtbare Konsequenzen bleiben kann. Dass es gleichwohl werbenden Charakter hat, wo betendes Geschehen ins Blickfeld rückt, das liegt unabhängig von einer religiösen Begründung im engeren Sinne daran, dass jedwede erkannte Wirklichkeit anziehenden Charakter249 hat und das erkennende Subjekt „fasziniert“, insofern es sich als vom Gegenüber des Erkennens zu weiterer Erkenntnis eingeladen erfährt.250 Auf diese Dimension aller begegnenden Wirklichkeit als Gabe251, deren Gestalt sich dem Menschen offenbart, hat Hans Urs von Balthasar mit Rückgriff auf den Gestaltbegriff Goethes hingewiesen.252 Da im Abschnitt 4.2. über den Gestaltbegriff davon noch ausführlicher die Rede ist, sei hier nur vorblickend darauf verwiesen.

      Angesichts der beschriebenen Transzendenz der beiden im betenden Geschehen involvierten Begegnungspartner und angesichts des beständig fortschreitenden, nur zum Teil sich sichtbar manifestierenden Geschehens, ist eine abschließend und vorwegnehmend-umfassende Definition dessen, was ‚Beten‘ in Summe beinhaltet, nicht angestrebt. Stattdessen wird im Folgenden als Horizont der angestrebten Sichtung von einer personalen, für Alterität und Diachronie sensiblen Begegnung zwischen Mensch und in besonderer Weise personal verstandenem göttlichem Gegenüber ausgegangen, die sich im Raum der Sprache im weitesten Sinne entfaltet und als Freiheitsgeschehen253 vollzieht. Jedes einzelne Gebet ist in dieser Perspektive eine Aktualisierung des Grund-Verhältnisses, in dem der aus Gnade zur Freiheit freigesetzte254 und berufene Mensch sich dem gründenden Grund seiner Autonomie bewusst zuwendet, diesen darin als „Du“ anspricht, und darin den Grund als personales Gegenüber erfährt.255 Beten erscheint so als „Grundakt“ des Menschen, das ein basales Verdanktsein anerkennt und daraus lebt.256

      Die oben konturierte Arbeitshypothese ist als Rahmen für eine beschreibende Annäherung an das Vollzugsganze des Betens erkennbar nicht voraussetzungslos und nicht ohne inhaltliche Bestimmung. Aber sie ist in ihrer Weite der Autorin Edith Stein angemessen und geeignet, ihrer Diktion mit Blick auf das Gebet entsprechen zu können, was nachstehend belegt werden soll. Die Möglichkeit, das religiöse Geschehen als besonderes, dialogisches Sprachgeschehen zu verstehen, ist im jüdisch-christlichen Kontext angelegt, dem Edith Stein und ihr Beten zugehörten. Diese vom sprachlichen Charakter257 ausgehende Sicht auf das Gebet ist von daher geeignet, als erster Ausgangspunkt für einen verstehenden Zugang zur ihrem Gebetsleben zu fungieren. Dabei umfasst „Sprache“ all das, was sich an Kommunikationsgeschehen auf allen Ebenen zuträgt. Schweigen und Stille sind Teil davon, ebenso wie das ganze Spektrum nonverbaler Sprache258 im Sinne von Gebärden und körperlich-leiblichen, raum-zeitlich und sozial interagierenden Ausdrucksformen.259 Mit Sprache als einem Existential des Menschen ist zugleich angedeutet, dass Beten in einem existentiellen Horizont gesehen und vor diesem Hintergrund beschrieben werden soll als Artikulation seiner gesamten Lebensvollzüge.

      Von daher ist der Gebrauch der Worte „Beten“ und „Gebet“ im Verlauf meiner Studie betont deskriptiv zu verstehen und in diesem Sinne in formaler Weise. Beide Worte mögen von daher als Anzeiger verstanden werden für den Versuch einer beschreibenden Explikation dessen, was dem Menschen im Grundakt des Betens geschieht, und zwar als sich in der Zeit und dem Raum der Sprache Ereignendem.

      Die Selbstbeschränkung im ersten Teil meiner Studie, sich chronologisch in strikter Weise auf das jeweils im Lebensabschnitt der Edith Stein örtlich, zeitlich und formal nach außen hin Beschreibbare zu konzentrieren, ohne mit einem womöglich engführenden Gebetsbegriff dabei Einzelmomente auszuschließen, das scheint mir vor dem Hintergrund des Dargelegten das Angemessenste, was mit Blick auf den Gegenstand des Interesses möglich ist. Bei allem Gebrauch, der von „Beten“ und „Gebet“ in der vorliegenden Studie gemacht wird, sei daher stets mitgehört, dass vor allem eine beschreibende Entfaltung dessen gesucht wird, was kontinuierlich und wesentlich von einem transitiven und verborgenen Moment zuinnerst charakterisiert wird. Was im Zuge der Untersuchung formuliert wird, das ist nur richtig verstanden, wo es zugleich mit dem Illustrieren von Sachverhalten, Ereigniszusammenhängen und Entwicklungstendenzen den Geheimnischarakter des betenden Geschehens bewahrt. Nur in dieser Haltung scheint es möglich, den göttlichen Interaktionspartner und seinen Anteil am Beziehungsgeschehen von Anfang an angemessen sprachlich zu würdigen, nämlich in der Abstinenz von feststellenden Begriffen und der Vorsicht bei systematisierenden Aussagen. Wo das im Ansatz entschieden vermieden wird, und es unterbleibt, dass vorgängig zur Begegnung an den wesentlich unfassbaren Gegenstand unreflektiert ein Begriffsapparat herangetragen wird, dort mag in aller Beschreibung etwas durchscheinen können von dem betenden Geschehen, das zwar den Betenden und den interessierten Beobachter gleichermaßen betrifft, aber keinem zuhanden ist – am wenigsten dem, der nachträglich dieses Geschehen aus Zeugnissen vergangener Tage erhellen möchte. So mag im Gesamtduktus dieser Studie von Beginn an methodische Beachtung finden, was in den Spätschriften Steins zu Pseudodionysius Areopagita und ihrem Ordensvater Johannes vom Kreuz mit Blick auf die radikale Andersheit und Entzogenheit des göttlichen Begegnungspartners ins Wort gelangt.

      Der Begriff Gestalt „zählt zu den Grundbegriffen einer philosophischen Ästhetik […].“260 In dieser Disziplin kann er Thomas Schärtel zufolge gelten als „die Basiskategorie einer auf eidetische/optische Modelle oder Analogien kaprizierten Ästhetik“.261 Schon im Kontext einer philosophischen Ästhetik wird der besondere Bezug augenfällig, bei dem der erkennende Mensch im Gewahrwerden einer Gestalt vom begegnenden Gegenüber affiziert wird. Dies geschieht, insofern die Distanz zum Begegnenden sowohl wachgerufen als


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