Das Archiv des Teufels. Martin Conrath
Читать онлайн книгу.ein Schauspieler ist, lässt ihn nicht los.
Lemberg, Ukraine, 25.6.1941
Ich luge durch die Gitter der Zellentür. Schatten lösen sich aus dem Dunkel. Ich weiche an die Wand zurück, so wie alle, die mit mir hier gefangen sind. Wir sind wie eine verschreckte Herde Schafe, die sich zusammendrängt, um den Wölfen zu entgehen. Hätten wir es nur mit Wölfen zu tun, würden bis auf einige wenige alle anderen überleben. Denn Wölfe töten nur, um zu fressen. Sind sie satt, lassen sie von ihrer Beute ab. Menschen hören erst auf zu töten, wenn keiner mehr lebt.
Mein Herz rast, ein Mann tritt an die Zellentür, er trägt eine Kalaschnikow. Die Angst macht mich zu einem wehrlosen Bündel, ich kann nicht einmal um Gnade flehen. Ich versuche, mich bis an die steinerne Wand zu drängeln, doch die Mauer aus Leibern lässt mich nicht hindurch. Niemand wagt zu sprechen, nur das schwere Atmen der Todgeweihten ist zu hören. So lange haben wir auf das Ende gewartet, jetzt, wo es da ist, scheint es das Furchtbarste zu sein, das es geben kann, selbst die Aussicht, dass wenigstens die Furcht vorübergeht, die uns in den Wahnsinn treibt, verblasst angesichts der Todesangst. Ich klemme die Pobacken zusammen, damit ich mich nicht einnässe. Dieses letzte winzige Stück Würde will ich mir erhalten. Meinen Trost kann ich nur noch in HaSchem finden, der mich bald aufnehmen wird. Es hat keinen Sinn, mich verstecken zu wollen. Ich richte mich auf, wende mein Gesicht den Henkern zu, schließe die Augen, spreche mein Totengebet.
»Wir holen euch hier raus«, flüstert ein Mann auf Russisch, als ob uns jemand belauschen könnte. »Bleibt, wo ihr seid. Mund auf, Nase zuhalten.«
Ein Amerikaner! Sein Akzent ist nicht zu überhören.
Ich gehorche, presse mich an meine Zellenkameraden. Ein ohrenbetäubender Krach lässt mich zusammenfahren, in meinen Ohren pfeift es. Sie haben die Tür gesprengt.
Ein Mann kommt in die Zelle, wedelt mit der Hand. »Raus hier, ihr seid frei. Wir bringen euch in Sicherheit.« Er macht kehrt und verschwindet.
Ich bin betäubt von der Explosion und der plötzlichen Freiheit. Ich rappele mich auf, stolpere auf den Gang, mühe mich die steile Treppe hinauf, überall liegen Tote, meine Knochen schmerzen, meine Muskeln sind schnelle Bewegungen nicht mehr gewöhnt. Verwesungsgeruch liegt in der Luft. Ich muss würgen, wanke durch die Flure, weiche Blutlachen und Exkrementen und Eingeweiden aus. Und dann stehe ich auf der Straße, atme die frische Luft. Die Übelkeit verfliegt. Aber es stellt sich kein Hochgefühl ein, so wie ich es mir vorgestellt habe. Nein, ich bin traurig, ich tanze nicht, ich singe nicht. Denn die Welt ist aus den Fugen, und es scheint, als würde sie nie wieder heil werden. Für einen Moment schließe ich erneut die Augen. Doch diesmal nicht, um mein Totengebet zu sprechen, sondern um zu HaSchem zu sprechen. Es ist warm, die Sonne scheint, Vögel zwitschern. Es könnte so wunderbar sein, das Leben. Ich danke HaSchem, dass er mir meines ein zweites Mal geschenkt hat.
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