Das Archiv des Teufels. Martin Conrath
Читать онлайн книгу.Flugzeug übertönen.
Anna nimmt, ohne zu fragen, vor dem riesigen Nussbaumschreibtisch Platz. Vor lauter Papieren, Büchern und Plänen kann man die Tischplatte nicht sehen. Nur eine lederne Schreibunterlage ist frei. Darauf liegt eine aufgeklappte Akte.
Jukowski lächelt. »Liebe Anna, ich darf Sie doch so nennen?«
Sein Deutsch ist akzentfrei.
»Aber selbstverständlich, Genosse Generalmajor.« Jede andere Antwort würde Jukowskis Zorn auf Anna heraufbeschwören.
»Wunderbar, Anna. Was kann ich für Sie tun?«
Anna drückt das Kreuz durch. »Auerbach hatte eine Waffe. Wie kann das sein?«
»Oh«, sagt Jukowski gedehnt, »Da gibt es viele Möglichkeiten. Er hat sie gut versteckt. Er hat sie auf dem Weg zu Ihnen zugesteckt bekommen …«
»Aber ihre Leute …«
Jukowskis Faust fährt auf den Schreibtisch nieder. Es klingt wie ein Pistolenschuss. Anna zuckt nicht mit der Wimper. Sie kennt seine kleinen Tricks, um Menschen einzuschüchtern.
»Meine Leute leisten hervorragende Arbeit. Ihre Leute haben geschlampt, so einfach ist das. Außerdem müssen Sie immer mit allem rechnen.« Er schreit nicht. Das hat er bei ihr nicht nötig. »Sie hätten es fast versaut, weil Sie unaufmerksam waren. Sie hätten ihn bei Kontakt unauffällig abtasten müssen. Das kann nicht schwer sein, der Kerl war doch sicherlich brünstig wie ein Hirsch.« Er lacht dröhnend.
Anna schweigt. Sie ist zu weit gegangen. Jukowski duldet keine Kritik an sich oder seiner Abteilung. »Entschuldigen Sie, Genosse, Sie haben ja recht.«
»Hätten Sie ihn rangelassen? Er sieht gut aus.«
»Nein.« Mehr will sie nicht sagen. Eher hätte sie sich erschießen lassen.
Jukowski klappt die Akte zu, reicht sie Anna. »Kleine Aufmerksamkeit meinerseits. Sie werden Auerbach verhören, schließlich kennen Sie ihn gut. Sie wissen, wo Sie ihn packen können. Eine kleine Abwechslung tut Ihnen gut, und eine kleine Pause. Was halten Sie davon?«
Jukowski erwartet Dankbarkeit. Die soll er haben. »Das ist eine Ehre für mich. Ich dachte, Sie wollten ihn haben, Genosse Generalmajor, er sei wichtig, sagten Sie.«
»Das ist er. Und er läuft mir nicht davon. Machen Sie mit ihm, was sie wollen, nur lassen Sie ihn am Leben und vernehmungsfähig. Ich stelle Ihnen Fahrenbach zur Seite. Wenn Sie grob werden müssen, dann mit der Rasierklinge, nicht mit dem Säbel.«
Anna steht auf und salutiert. »Ich danke Ihnen sehr, Genosse Generalmajor.«
»Schon gut«, sagt Jukowski und winkt sie raus.
Vor der Tür bleibt Anna einen Moment stehen. Sie soll Auerbach ausquetschen? Gemeinsam mit Fahrenbach? Sie hat nicht gewusst, dass Fahrenbach einfühlsam vorgehen kann. Bisher wurde er immer bei den hoffnungslosen Fällen eingesetzt, für diejenigen, die nichts sagen wollten oder konnten, deren Tod nicht ins Gewicht fällt. Kaum jemand hat seine Behandlung überlebt.
Sie betrachtet die Akte. Sie ist dünn. Vielleicht zehn oder zwanzig Blatt, sie kennt sie auswendig. Weiß Jukowski, warum sie diesen Mann so hasst?
Vom nächsten Diensttelefon aus ruft sie den medizinischen Dienst an. Auerbach kann erst morgen verhört werden.
Bundesrepublik Deutschland, München, 28.3.1952
Robert schreckt aus einem Albtraum hoch. Er ist nass geschwitzt, neben ihm liegt Kate. Sie sind in ihrer Wohnung, das Bett ist schmal, es gibt nur eine Decke. Sie atmet völlig ruhig, ist anscheinend in tiefem Schlaf. Robert betrachtet ihr Gesicht. Sie ist eine schöne Frau, gebildet, intelligent und sie hat Spaß am Leben.
Eine Stunde nach dem Twist verließen sie zu zweit den Club. Will war nicht beleidigt, er wünschte ihnen eine angenehme Nacht. Und so war es gekommen. Kate hat Erfahrung mit Männern, Robert mit Frauen. Sie tasteten ihre Vorlieben ab und ließen sich Zeit. Es stimmte zwischen ihnen.
Er streicht ihr eine Strähne aus dem Gesicht, horcht in sich hinein. Ob Kate eine Frau ist, mit der er sein Leben verbringen könnte? Ist er in sie verliebt? Er möchte sie wiedersehen, möchte sie näher kennenlernen. Ja, er ist ein wenig in sie verliebt. Aber wie steht es mit ihr? Ist er nur ein One-Night-Stand? Einer von vielen? Sie kann jeden haben, daran zweifelt er nicht.
Ihre Lider flattern, sie öffnet kurz die Augen, kuschelt sich an ihn. Ihre Haut ist warm und weich wie Samt. »Schön, dass du nicht abgehauen bist«, murmelt sie. »Hast du schon geduscht?« Sie lacht leise. »Frühstücken wir zusammen?«
»Ja«, antwortet Robert, »gerne.« Wann hat er das letzte Mal mit einer Frau morgens am Tisch gesessen? Es muss vor dem Krieg gewesen sein. Und die letzte war wahrscheinlich seine Mutter und keine, mit der er das Bett geteilt hat. Die einzige Frau, die jemals bei ihm zu Hause übernachtet hat, war die quirlige Priscilla, die nur wenige Wochen später an die Westküste gezogen war. Damit war ihre Beziehung beendet.
Es gibt Toast, Tee und Orangenmarmelade. Kate kommt aus der Nähe von London. Sie haben nicht viel geredet, aber das hat Robert erfahren. Er bestreicht den Toast mit Butter und einer dünnen Schicht Marmelade. Er beißt ab. Sie schmeckt bitter und süß zugleich. Angenehm. Er wird sich ein Glas besorgen.
Kate nimmt einen Schluck Tee aus einer zierlichen Tasse und schaut ihn aus ihren blauen Augen an. »Die Bombennächte habe ich nur von Weitem erlebt. Nachts habe ich mich mit meinen Schwestern nach draußen geschlichen. Wir waren fasziniert von dem Grollen und dem Wetterleuchten und dachten zuerst tatsächlich, es seien Gewitter.« Ihr Gesicht verfinstert sich. »Als wir wussten, was es war, konnte ich kaum noch schlafen.«
»Hast du Verwandte in London gehabt?«
Kate setzt die Tasse ab, nimmt Roberts Hand, Tränen glitzern in ihren Augen. »Elisabeth. Meine Lieblingstante. Sie haben nicht mehr viel von ihr gefunden. Eine V2.«
Robert zieht Kate auf seinen Schoss, nimmt sie in die Arme, streicht ihr über den Kopf. Sie weint leise. Robert beneidet sie darum. Er hat das Weinen verlernt. Zu viele hat er sterben sehen. Alte Freunde und neue. Und vieles hat er einfach vergessen, sein Gedächtnis hat Dinge gelöscht, die nicht zu ertragen, nicht zu verarbeiten sind. Eine Gnade, die nicht jedem zuteilwird. Aber nicht alles kann er vergessen, nicht alles will er vergessen. Er denkt an seinen Bruder, der irgendwo in Feindesland verscharrt ist. Er stellt sich das kalte Grab vor, schaudert, obwohl er weiß, dass Ted nichts mehr fühlen kann.
Kate atmet tief ein, legt ihre Hände auf Roberts Brust. »Es ist vorbei. Wir haben Glück gehabt. Meine Eltern haben überlebt und alle meine Schwestern.«
»Wie viele hast du?«
»Sechs. Ich bin die älteste.« Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. »Und du? Hast du Geschwister?«
Robert lächelt schwach. Das wäre ein guter Moment, um zu weinen, aber die Trauer ist unter einem Berg von Zorn begraben. »Einen Bruder. Er ist in der Ukraine verschollen.«
Kate bedeckt sein Gesicht mit Küssen. »Das tut mir unendlich leid«, sagt sie immer wieder. »So unendlich.« Sie beginnt erneut zu weinen, wedelt mit einer Hand vor ihrem Gesicht herum, auf dem sich rote Flecken gebildet haben. »Entschuldige, dass ich einfach losflenne, aber ich kann nicht anders. Das ist so unendlich traurig.«
»Schon gut«, sagt Robert. »Du musst dich nicht entschuldigen. Es tut gut, wenn du weinst, ich kann es nicht.«
Eine Weile sitzen sie noch in Kates Küche, Robert könnte sich vorstellen, öfters hier zu frühstücken und Kate im Arm zu halten. Er hätte nicht gedacht, dass sich seine Gefühle so schnell ändern. Gestern noch wollte er nichts weiter mit einer Frau zu tun haben, was über eine gemeinsame Nacht hinausgeht, jetzt möchte er hierbleiben, bei Kate.
»Ich muss gehen«, flüstert er ihr ins Ohr. »Möchtest du mich wiedersehen?«
Sie wirft den Kopf nach hinten, lacht kurz. »Ja, gerne. Wo? Wann?«
Sie scheint überrascht,