Das Archiv des Teufels. Martin Conrath

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Das Archiv des Teufels - Martin Conrath


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furchtbar«, haucht Anna.

      »Ja, aber wir hatten eine wunderbare Zeit miteinander. Das macht es leichter.«

      Anna seufzt tief. »Ich bewundere Sie, dass Sie nicht verbittert sind.«

      Auerbach legt seine andere Hand auf ihre. »Wir müssen vergeben, so wie uns vergeben wird. Ist es nicht so«?

      »Ja, so ist es. Nur so kann wirklicher Friede einkehren.«

      Auerbach nickt wissend, er erhebt sich. »Entschuldigen Sie mich einen Moment. Der Kaffee …«

      Beide lachen. Er hat eine schwache Blase, auch das weiß Anna. Sie schaut Auerbach nach, er muss aus dem Café raus und über den Hof gehen, wo die Toiletten untergebracht sind. Ihr bleibt genug Zeit. Noch einmal überzeugt sie sich, dass er das Kaffeehaus verlassen hat. Noch einmal schaut sie sich die anderen Gäste an. Wenn ein Agent darunter ist, wenn es eine Falle ist, hat sie bereits verloren. Sie verdeckt das Fläschchen mit der einen Hand so, dass es niemand sehen kann, und beugt sich über den Tisch. Es sieht aus, als wolle sie das Zuckerdöschen nehmen. Die K.-o.-Tropfen plätschern in den Kaffee. Der ist so bitter, dass Auerbach nichts schmecken wird. Sie lässt das Fläschchen verschwinden, nimmt einen Löffel Zucker und gibt ihn in den Kakao. Die Wolkendecke bricht auf, die Sonne kommt heraus. Besser kann es nicht werden.

      Auerbach kehrt zurück, setzt sich, nimmt einen Schluck Kaffee. Anna schaut aus dem Fenster, dann in Auerbachs Gesicht. Sie weiß, wie man ohne Worte eine Verheißung ausdrückt. »Wie wäre es mit einem Spaziergang?«

      Auerbachs Augenlider zucken einmal. Jetzt laufen Bilder in seinem Kopf ab, jetzt stellt er sich vor, was auf einem Spaziergang im Frühling und auf einem Trümmergrundstück so alles passieren kann. Er hat schon länger keine Frau mehr gehabt. Zu Prostituierten geht er nicht. »Das ist unter meiner Würde«, hat er zu einem Freund gesagt. Unsere Spitzel leisten gute Arbeit, denkt Anna. Vor allem die, die aus Überzeugung handeln, die ein Gewissen haben.

      »Gerne.« Er ordert die Rechnung, bezahlt, gibt reichlich Trinkgeld, hilft Anna in den Mantel, für den Bruchteil einer Sekunde taxiert er ihre Figur, Anna sieht, wie seine Augen an ihrem Körper hinauf- und hinuntereilen. Er hat einen Blick für die Formen einer Frau, auch durch unscheinbare Bekleidung hindurch. Für einen winzigen Moment bleiben seine Augen auf ihren Brüsten haften. Sie hat ihn an der Angel.

      Sie verlassen das Kaffeehaus, Anna hakt sich ein, lässt ihre linke Hand in Auerbachs rechte gleiten, sie dirigiert ihn mit kaum merklichen Bewegungen, drückt immer wieder ihre Hüfte gegen seine, wenn er einen Scherz macht. Er hat Sinn für Humor, ist bei seinen Bekannten und Freunden beliebt, er ist großzügig, hilfsbereit. Alle werden sagen: »Das hätte ich nie gedacht, dass dieser nette Mann so ein Ungeheuer war.«

      Schweigen kehrt ein, sie verstehen sich auch ohne Worte. Jede Bewegung, jeder Blick drückt aus, worauf es heute hinauslaufen soll: eine schnelle Nummer, heimlich in einem Keller oder zwischen eingestürzten Mauern. Anna unterdrückt den Impuls, auf die Uhr zu sehen. Sie muss die Zeit schätzen. Zehn Minuten sind vergangen, seit sie das Kaffeehaus verlassen haben, vielleicht fünfzehn. Es wird Zeit. Sie biegt rechts ab, die Straße ist zwar geräumt, aber rechts und links türmen sich Schuttberge, Wege sind zu den Grundstücken angelegt, Schilder warnen vor Einsturzgefahr: »Betreten verboten!«. Viele Tote hat es dieses Jahr gegeben, erschlagen von plötzlich herabstürzenden Mauern. Aber Herta Müller kennt sich aus. Die ganze Stadt ist bis ins Detail kartografiert, ständig werden die Informationen von den »Ameisen« des Ministeriums für Staatssicherheit aktualisiert. Noch hundert Meter bis zum Ziel.

      Auerbach bleibt stehen, schaut sich kurz um, zieht Anna an sich, sein Glied drückt durch Hose und Mantel hart an ihren Oberschenkel. Seine Zunge drängt in ihren Mund, sie öffnet ihn leicht, gierig leckt er über ihre Zähne, eine Hand gleitet unter ihren Rock, die andere öffnet zwei Mantelknöpfe und zupft dann an ihrer Bluse. Sie drückt sich von ihm weg, schluckt Magensäure hinunter. Hätte er Mundgeruch, könnte sie sich nicht beherrschen und müsste sich übergeben. Sie ist nur Lockvogel und keine weibliche Romeo-Falle.

      Ärger tritt in sein Gesicht.

      »Warte, Joseph, nicht hier, da kann ja jederzeit jemand vorbeikommen«, sagt Anna. Sie fasst seine Hand. »Komm mit. Ich weiß was.« Sie geht los, zieht ihn hinter sich her, er folgt, betäubt von seiner Geilheit. Am Eingang zu einem Trümmergrundstück hängt ein schwarzer Stofffetzen. Das ist das Zeichen. Ein Pärchen kommt auf sie zu, bleibt stehen. Es sieht aus, als wollten sie dort hinein. Anna rennt los, kommt den beiden zuvor. Sie nicken ihr verschwörerisch zu. Auerbach stolpert, fasst sich an den Kopf. Die Tropfen wirken.

      »Alles in Ordnung?«, fragt der Mann.

      »Nur ein bisschen viel, Sie wissen schon«, sagt Anna schnell.

      Die beiden lachen, gehen weiter. Auerbach hat noch keinen Verdacht geschöpft. Anna schiebt ihn voran. Er murmelt etwas Unverständliches. Anna zieht ein Kondom aus der Manteltasche, zeigt es Auerbach. »Na los, komm schon, worauf wartest du?«

      Auerbach zwinkert, ein wässriger Glanz tritt in seine Augen. Er stolpert einen Schuttberg hoch. Oben bleibt er stehen. Anna geht zu ihm hin, packt ihn am Arm. Er schüttelt sie ab. Er hat Bärenkräfte.

      »Du miese Schlampe«, nuschelt er. »Ich hätte es wissen müssen.« Er wankt, hält plötzlich eine kleine Pistole in der Hand.

      Anna erstarrt, sie bekommt schlagartig keine Luft mehr. Auerbach hebt die Waffe, zielt. Sein Blick verschleiert sich, sie lässt sich fallen, rollt sich zur Seite, Schmerz jagt durch ihre Hüfte, ein Schuss kracht, Auerbach stöhnt auf.

      Sie ist nicht getroffen, hebt den Kopf, Auerbach ist den Trümmerberg hinuntergestürzt, er blutet am Kopf. Er darf nicht sterben, bitte nicht. Geduckt läuft sie zu ihm hin, horcht. Er atmet, sie fühlt den Puls. Normal. Die Kugel ist glatt durch seine Schulter hindurch, es blutet nicht stark, der Schock hat ihn gefällt. Kein großes Gefäß ist verletzt, ansonsten wäre er in Minuten tot.

      Schritte knirschen über den Schutt. Aus den Augenwinkeln sieht Anna drei Männer, die auf sie zuhalten. Es sind die richtigen. Keiner spricht ein Wort, einer versorgt notdürftig Auerbachs Wunde, dann packen sie ihn, bugsieren ihn durch die Hausskelette, verfrachten ihn in einen Lieferwagen, fahren los, überqueren die Zonengrenze, steuern das MfS an.

      Anna sitzt neben dem Fahrer, sie steht noch immer unter Schock. Sie hat nicht mit einer Waffe gerechnet, hat schon den Tod vor Augen gehabt, oder noch schlimmer, hat sich verletzt und verhaftet gesehen. Sie wird sich bei Jukowski beschweren. Die Aufklärung hat geschlampt. Es hieß, er habe keine Waffe. Verdammte Scheiße. Ihr Herz schlägt noch immer so hart in ihrer Brust, dass es schmerzt. Sie schwitzt am ganzen Körper, riecht ihre eigene Angst. Die Kollegen schweigen. Es gibt nichts zu sagen. Sie haben ihr das Leben gerettet, das ist ihr Job.

      Jukowski will die Beute persönlich befragen. Anna überwacht wie in Trance die Verbringung von Auerbach in eine Arrestzelle und ordnet medizinische Versorgung und Bewachung an. Sie betrachtet den bewusstlosen Mann. Sie wird ihn nie wiedersehen.

      Bundesrepublik Deutschland, München, 26.3.1952

      Robert schreckt aus dem Schlaf. Ein rasselndes Geräusch hat ihn geweckt. Es ist nicht der Wecker. Der zeigt Viertel vor sieben, und Robert hat ihn nicht gestellt. Er kann nicht geklingelt haben. Es ist das Telefon.

      Er wirft die Decke von sich, springt aus dem Bett, rennt zum Sekretär, stößt einen Stapel Akten um, der einen anderen mit sich reißt. Robert flucht, zerrt den Hörer von der Gabel, lauscht, lächelt.

      »Ich war schon drauf und dran, die MP zu schicken, so lange hast du gebraucht.«

      Robert erkennt die Stimme. »Hey Will, alter Knabe, woher hast du die Nummer? Ich habe sie eurer Sekretärin nicht gegeben, als ich sie gestern angerufen habe.« Er ist sofort hellwach.

      »Kleiner Test, ob ich die Nummer herausfinde, was? Robert, ich bitte dich.«

      Will Bower hat in all den Jahren seinen schweren Kentucky-Akzent nicht abgelegt. Er ist Leitender Agent beim Militärischen Abschirmdienst in Deutschland, stammt aus einer Nachbarstadt in Kentucky. Sie haben


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