Das Archiv des Teufels. Martin Conrath
Читать онлайн книгу.Die Sonne brennt ihnen auf die Haut, ihre Hemden haben sie ausgezogen, Schweiß glänzt auf ihren Rücken. Robert rennt los, er wird den kleinen Frechdachs fangen wie immer. Aber diesmal rennt Ted nicht den staubigen Weg nach Süden. Er biegt ab zum Green River, Robert folgt ihm. Was hat er vor? Er schlägt einen Haken, wieselt durchs Unterholz. Nicht dumm von Ted, da ist Robert langsamer, weil er größer ist. Robert kennt den Weg, und jetzt weiß er auch, was Ted vorhat. Er beschleunigt, bricht aus dem Dickicht, vor ihm das steile Ufer des Green River, er muss abrupt stoppen. Der Fluss ist hier breit und tief, die Strömung ist zu stark, um dagegen anzuschwimmen. Auf der anderen Seite steht Ted und dreht Robert eine Nase. Er hat das Seil in der Hand, mit dem sie sich über den Fluss schwingen.
»Ted!«, ruft Robert. »Das wirst du mir büßen.« Doch Robert kann seinem Bruder nicht böse sein, im Gegenteil. Ted hat ihn ausgetrickst. Er ist stolz auf seinen kleinen Bruder. Robert lacht, klatscht Beifall. »Okay, dieses eine Mal hast du gewonnen!«
Ted schwingt mit dem Seil zu Robert ans andere Ufer zurück, das Seil gibt nach. Wenn Ted in den Green River fällt, wird er ertrinken. Roberts Herz setzt für eine Sekunde aus. Doch das Seil hält. Robert fängt Ted auf, drückt ihn. »Du kleiner verrückter Kerl. Was, wenn du in den Fluss gefallen wärst? Du wärst ertrunken wie eine junge Katze.«
Ted schaut Robert mit seinen blauen Augen, mit seinem unschuldigen Blick an. »Dann hättest du mich gerettet. So wie immer. Du musst mich immer retten. Versprichst du das?« Er japst, redet so schnell, dass er fast keine Luft bekommt.
Robert streicht ihm über den Kopf. »Das verspreche ich dir. Ich werde dich beschützen und dich retten, was auch immer passieren wird.«
Die Trauer kriecht Robert die Kehle hoch. Er hat sein Versprechen nicht halten können. Robert hat es auf dem Weg nach Deutschland erfahren. Nur ein kurzes Telegramm von seinem Vater. »Ted ist tot. Lemberg.« Mehr haben sie in all den Jahren nicht erfahren können. Sie konnten ihn nicht einmal begraben. Niemand weiß, wo seine Leiche liegt. Die Marke ist ihnen zugespielt worden, inoffiziell. Ted hatte die Aufgabe, aus Lemberg jüdische Professoren und ihre Familien über die Ostsee nach Schweden und dann in die Staaten zu bringen. Das hat ihn das Leben gekostet. Aber niemand weiß, nein, wusste, wie. Robert nimmt den Hefter in die Hand, kann nicht glauben, was er da liest. Sigfried Heiderer ist mit großer Wahrscheinlichkeit für den Tod seines Bruders verantwortlich! Den soll er cleanen? Soll ein ominöses Archiv finden, in dem die Beweise gegen Heiderer enthalten sind?
Robert greift nach dem Hefter und wirft ihn durch den Raum. »Morgan, du verfluchte hinterlistige Ratte!«, schreit er. Es ist ihm egal, ob ihn jemand hört.
Die Blätter landen auf dem geölten Parkettboden. Was hat er Morgan angetan, dass er ihm ausgerechnet diesen Auftrag zuweist? Was für ein Ungeheuer ist dieser Mann? Warum zum Teufel soll er Heiderer cleanen? Der verfluchte Nazi soll in der Hölle schmoren. Das Telefon reißt ihn aus seinen Gedanken. Robert ergreift den Hörer. Es ist die Vermittlung.
»Major Bennett, ich kann Ihnen morgen Vormittag um neun Uhr dreißig die gewünschte Verbindung herstellen.«
Robert starrt auf die Blätter, die sich auf dem Parkettboden ausgebreitet haben. Vater wird ihn nach Hause holen, das steht außer Zweifel. Weg von diesem grauen, kalten Land, weg von Morgan und seinen Intrigen.
Robert zögert, ihm kommt ein Gedanke: Was wäre, wenn er tatsächlich nach Hause führe? Würde er sich nicht jeden Tag seines restlichen Lebens fragen, warum er die Chance vertan hat, den Mörder seines Bruders seiner gerechten Strafe zuzuführen? Und wenn Heiderer unschuldig ist? Es waren noch andere Befehlshaber in Lemberg. Vor allem die Ukrainischen Nationalisten trieben ihr Unwesen. Die Verhältnisse waren chaotisch, die Befehlsketten brüchig, die Militär-Archive sind verschollen. Das ist die offizielle Lesart. Robert legt den Hörer weg, sammelt die Blätter auf, die ihm plötzlich unendlich wertvoll erscheinen. Er streicht sie glatt, ordnet sie, überfliegt die Informationen noch einmal. Ergebnis: Heiderer kann, muss aber nicht der Mörder seines Bruders sein. Was auch immer Morgan sich gedacht hat, ihm den Auftrag zuzuteilen, ist Robert egal. Er wird alles gegen Heiderer zusammentragen, was er nur finden kann. Und wenn Heiderer seinen Bruder auf dem Gewissen hat, dann Gnade ihm Gott, dann wird er ihn in die Staaten schaffen, wo er vor Gericht gestellt wird und ihn nichts anderes erwartet als der Strang.
Aus dem Hörer quäkt die Stimme der Vermittlung. »Major Bennett? Sind Sie noch dran?« Sie klingt ungeduldig.
Robert betrachtet den Hefter. Er ist nicht mehr zu gebrauchen. Er wird sich einen anderen besorgen, einen mit Leineneinband, einen, der Teds Namen tragen wird. Robert hält sich den Hörer ans Ohr. »Verzeihen Sie, ich hatte gerade etwas Wichtiges zu tun. Ich brauche die Verbindung nicht mehr.«
Deutsche Demokratische Republik, Berlin, 5.3.1952
Das Schlimmste an dem Auftrag ist ihr Deckname: Herta Müller. Sie hasst diesen Namen. Ihre Lehrerin auf der Volksschule hieß so und sie war eine Hexe. Hat sie ständig gegängelt, sie immer drangenommen, wenn sie nichts wusste, hat sie dreimal am Tag in die Ecke gestellt und ihr mindestens einmal die Woche die Eselsmütze aufgesetzt. Die alte Müller hat sie gehasst, weil sie immerzu Fragen gestellt hat und weil ihr Vater Kommunist war. Und sie hat ihren Vater denunziert.
Wie sehr sie auch diesen Namen hasst, sie muss sich selbst so nennen, damit sie ihre Beute täuschen kann. Sie muss den Namen in ihrem Unterbewussten verankern, damit sie unwillkürlich reagiert, wenn er gerufen wird. Aus Anna Münzinger wird Herta Müller.
Den Namen hat ihr Oberst Jukowski verpasst. Der Name soll für Durchschnitt stehen. Alles an Herta Müller soll Durchschnitt sein: Größe, Gesicht, Haare. Wer sie beschreibt, wird eine Frau gesehen haben, wie sie es zu Tausenden gibt. Das macht sie fast unsichtbar. Sie trägt einen knielangen mittelbraunen Rock, ebenso braune Lederschuhe mit wenig Absatz. Sie hat sich dezent geschminkt, sie soll auf keinen Fall in irgendeiner Weise hervorstechen.
Anna steigt in die Straßenbahn, löst eine Karte nach Zehlendorf. Ihre Beute trifft sich mit ihr im Kaffeehaus Bertelmann an der Ecke Schellingstraße und Barer Straße. Es ist das vierte Treffen, und heute muss es gelingen. Eigentlich viel zu früh, aber die Überwachung Auerbachs hat ergeben, dass er in wenigen Tagen nach Düsseldorf ausgeflogen wird. Dort ist er außer Reichweite. Deswegen hat sie sich auch den Nachmittag freigenommen, damit sie sich mit Auerbach treffen kann.
Sie greift in die Manteltasche, fühlt das Glasfläschchen. Sie muss vorsichtig sein. Joseph Auerbach ist misstrauisch. Kein Wunder. Er ist ein Mörder und hat viel zu verlieren. Aber die Amis schützen ihn, haben ihn reingewaschen, weil sie ihn brauchen. Er ist Ingenieur für Wassertechnik, maßgeblich am Aufbau der Berliner Wasserversorgung beteiligt. Jetzt soll er das Gleiche in Düsseldorf machen und danach im Ruhrgebiet. Es gibt nur noch wenige Spezialisten in Deutschland auf diesem Gebiet.
Die Bahn rumpelt vorbei an Trümmern. Es geht langsam voran. Nicht einmal zehn Prozent des Schutts sind beseitigt, es fehlt an schwerem Gerät. Also müssen alle ran. Vergangenen Sonntag ist wieder Trümmertag gewesen. Anna spürt noch immer jeden einzelnen Knochen. Die ganze Nachbarschaft hat von morgens bis abends Steine geschleppt. Vor dieser Arbeit kann sie sich nicht drücken, das würde Verdacht erregen.
Anna geht ihren Plan in Gedanken durch, immer wieder. Sie muss Auerbach dazu bringen, einen Spaziergang mit ihr zu machen. Zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt, hin zu einem ganz bestimmten Ort. Sie kennt Auerbachs Gewicht, sie hat das Morphin-Scopolamin so dosiert, dass Auerbach nach dreißig Minuten das Bewusstsein verliert. Zehn, vielleicht fünf Minuten vorher wird er die Wirkung spüren. Dann wird er unruhig werden, vielleicht Alarm schlagen. Die Amerikaner haben ein Merkblatt herausgegeben, woran man den Versuch einer Entführung erkennen kann. Die Wirkung von Morphin-Scopolamin und anderer Drogen ist darauf genau beschrieben. Das Zeitfenster ist eng, verdammt eng. Aber sie wird ihn da packen, wo sich alle Männer packen lassen.
Die Bahn hält, sie muss aussteigen. Das Kaffeehaus liegt direkt um die Ecke. Sie geht los. Auf der anderen Straßenseite steht ein groß gewachsener Mann in grauem Anzug und betrachtet ein Schaufenster. Sie kennt ihn nicht, aber er verhält sich seltsam. Schaut zu ihr, dann wieder auf das Schaufenster. Zieht eine Packung Zigaretten aus der Tasche. Zündet sie an. Ein Zeichen an eine Greiftruppe?