Das Archiv des Teufels. Martin Conrath
Читать онлайн книгу.Selbst die Schwarzmärkte waren wie leer gefegt, nichts war mehr zu bekommen. Hier muss niemand auf dem Schwarzmarkt einkaufen und jeden Moment damit rechnen, verhaftet zu werden. Die Passanten sind bestens gekleidet. Robert wird sich in den Läden mit einer neuen Garderobe eindecken.
Es riecht nach Qualm aus Kohleöfen, ein leichter Wind weht und verhindert, dass der Rauch sich über die Stadt legt. Im vergangenen Dezember war es schlimm gewesen. Die Abgase der Autos, Zehntausender Kohleöfen und die entsprechende Wetterlage sorgten für zwei Wochen andauernde stickige Luft. Manchmal konnte man kaum zehn Meter weit sehen. Zu Hunderten starben alte Menschen, und viele Kinder wurden krank, schwerer Husten grassierte, die Ärzte waren überfordert. Doch auch das ging vorüber.
Der Fahrer überreicht ihm ein Schlüsselbund: Haustüre, Wohnung und Keller. Robert bedankt sich, grüßt, der Fahrer schwingt sich in den Jeep, fährt davon, hupt sich den Weg frei.
Robert wiegt das Bund in seiner Hand. Sicherheitsschlüssel, alle drei. Er steckt auf Anhieb den richtigen ins Schloss. Er gleitet geschmeidig hinein, lässt sich leicht drehen, die Tür schwingt geräuschlos auf und schließt sich hinter ihm von selbst. Es riecht nach Bohnerwachs. Robert fühlt sich sofort heimisch. Mutter hat immer samstags die Holzböden gewachst. Vater wollte, dass Sonora, das Hausmädchen, diese Arbeiten übernimmt, aber Mutter blieb eisern. »Samstags hat Sonora frei und dabei bleibt es. Punkt!« Damit war die Diskussion beendet, und Vater versuchte nicht, sie umzustimmen, wenn sie eine Entscheidung mit dem Wort »Punkt!« unterstrich. Robert wundert sich bis heute, warum sein Vater ihr so oft nachgegeben hat, selbst wenn er gegenteiliger Meinung war und nach seiner Überzeugung – als Oberhaupt der Familie – das Recht auf ein Veto hatte.
Robert tritt auf die erste Stufe der geschwungenen Treppe. Kein Knarren, das Holz gibt nicht nach, nichts reibt. Die Wände sind mit einer Blumentapete verkleidet. Bunte Blüten einer ihm unbekannten Art auf cremefarbenem Untergrund. Er steigt die Treppe in die dritte Etage hinauf, an den Türen hängen keine Namensschilder, an seiner ebenfalls nicht. Wozu dann ein Deckname? Robert wird ihn nicht benutzen. Das ist sinnloses Kasperltheater, nichts weiter. Müsste er in den Osten, dann bräuchte er mehr als einen Decknamen. Er bräuchte eine neue Existenz mit Papieren, Lebenslauf und einer tragfähigen Legende.
Auch diese Tür öffnet sich wie von selbst. Alles hier ist gepflegt, geschmiert und in bestem Zustand. Robert betritt seine neue Wohnung. Es ist warm, kein Geruch von verbranntem Holz oder von Briketts – Gas heizt die Zimmer, ein unglaublicher Luxus. Das Bad hat kein Außenfenster, aber eine Badewanne, darüber hängt ein Boiler für heißes Wasser, ebenfalls gasbetrieben. Die kleine blaue Zündflamme flackert vor sich hin. Morgan lässt sich nicht lumpen.
Robert stellt sich vor, wie er in der Wanne liegt, »Die Mars-Chroniken« von Ray Bradbury zu Ende liest und einen anständigen Whiskey schlürft. Will Morgan ihn einlullen? Was wartet auf ihn zwischen den Deckeln der Mappe? Es wäre an der Zeit, sich die Akten anzusehen, aber Robert macht, was er immer macht, wenn er den Standort ändert. Er inspiziert sein neues Domizil. Ihm ist es wichtig, seine Umgebung zu kennen, zu wissen, welche Wege es gibt, falls er fliehen muss. Er überprüft genau, auf welche Schwachstellen er achtgeben muss, durch die jemand eindringen könnte. Er prägt sich die Möbel seiner Wohnung genau ein, muss wissen, was er hat und wo es steht, muss sich in der Küche auskennen, damit er sich in einem Gespräch nicht verrät, wenn er behauptet, er wohne dort schon ein Jahr. Solche Fehler könnten ihn enttarnen, könnten tödlich sein. Nur den Keller wird er nicht begutachten, da er ihn nicht betreten wird.
Warum ist er eigentlich hier? Warum hat Morgan ihn ausgewählt? Warum niemand anders? Seine Wut steigert sich. »Ich sollte nicht hier sein, verdammt«, sagt er und macht mit der Inspektion weiter, so wie er es gelernt hat. Er prägt sich alles ein, Robert kann sich in kürzester Zeit Dutzende Details merken und sie Tage, ja Wochen später abrufen, als läse er sie von einem Zettel ab.
In der Wohnung stehen Möbel vom Beginn des 20. Jahrhunderts: geschwungenes, gedrechseltes Holz, dicke Polster. Gott sei Dank nicht die kalten, schmucklosen, simplen, mit Kunststoff überzogenen Dinger, die jetzt so in Mode sind. Die Küche ist mit modernen Geräten ausgerüstet: Kaffeemaschine, elektrisches Rührgerät, Toaster, Mixer. Sie grenzt an den Hinterhof, das Fenster ist nicht vergittert und in gutem Zustand. Es aufzubrechen würde Lärm machen. Im Wohnzimmer warten ein Fernsehgerät und ein Radio, hier gehen die Fenster auf die Straße hinaus, eine Feuerleiter führt auf die Straße hinunter. Ein Fehler. Denn die Leiter kann man auch heraufklettern. Aber auch dieses Fenster ist solide und nur mit brachialer Gewalt von außen zu öffnen.
Das Schlafzimmer ist so groß, dass das französische Bett klein darin wirkt. Ein Kleiderschrank aus dunklem Holz mit eingelassenen Spiegeln bedeckt eine ganze Wand. Robert stellt seinen Koffer auf das Bett, öffnet ihn, nimmt seine Sachen heraus. Ein Anzug, die Uniform, Unterwäsche und Hemden für vier Tage.
Das Schiff, das nun ohne ihn in die Heimat unterwegs ist, verfügt über eine Wäscherei, deshalb hat er nicht mehr Kleidung mitgenommen. Den Schlafanzug wirft er achtlos auf das Bett. Er will nicht hier sein. Er stellt das Rasierzeug, Eau de Cologne, die Zahnbürste ins Bad. Robert braucht nicht einmal ein Zehntel des Platzes, den das Waschbecken und der Badschrank bieten, um seine Habseligkeiten unterzubringen.
Seine Uniform trägt im Gegensatz zu den meisten Offizieren das CIC-Rangabzeichen, üblicherweise hat das CIC keine Befehlsgewalt über andere Offiziere des Heeres. Es sei denn, sie sind mit Vollmachten ausgestattet wie Robert. Auch das ist die Folge seiner Abstammung. Sein Vater hat darauf bestanden und Robert war es recht.
Er geht zurück ins Wohnzimmer. Auf dem Sekretär thront eine Adlerschreibmaschine, daneben steht ein Telefon. Schlafzimmer, Küche, Bad, Wohnzimmer – Robert schätzt die Wohnung auf mindestens achtzig Quadratmeter. Die Zimmer sind alle vom Flur aus zu erreichen und miteinander verbunden. Das sind einige Meter, die er zurücklegen kann, wenn er nachdenken muss: Im Kreis laufen befeuert seinen Geist. Die Wohnung ist viel zu groß, zu protzig.
»Ich sollte nicht hier sein!«
Er setzt sich an den Sekretär, schiebt die Adler zur Seite und knallt den Hefter auf das blank polierte Holz. Er springt auf, hat eine Entscheidung gefällt.
»Nein!«, schreit er durch die Wohnung. »Verdammt, das können die nicht mit mir machen! Ich bin der Robert Bennett! Sohn von James Bennett.«
Ein einziges Mal in seinem Leben will er einen wirklichen Nutzen davon haben, ein Mal soll ihm die Tatsache, der Sohn eines Helden zu sein, zum Vorteil gereichen. Er reißt den Hörer von der Gabel, wählt die Vermittlung, lässt sich mit dem amerikanischen Fernwähldienst verbinden. Er wird seinen Vater bitten, ihn nach Hause zu holen, er soll, er muss seinen Einfluss geltend machen. Morgan beruft sich auf Adenauer? Sein Vater spielt mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika Golf. Wer hat wohl die größere Macht? Robert hat genug für sein Land getan. Und genug getötet. Schreie hallen durch seinen Kopf. Er schüttelt ihn heftig, damit sie schweigen. Eine junge Frau meldet sich.
»Guten Tag, Sir. Bitte nennen Sie mir Ihre Zuteilungsnummer oder Ihre Dienstnummer.«
In der Leitung knackt es, leises Rauschen läuft im Hintergrund mit. »Counter Intelligence Corps; Bennett, Robert; Major, OA 75683457.«
»Vielen Dank, Major Bennett, bitte warten Sie einen Moment.«
Robert wirft einen Blick auf den Hefter. Die Vermittlerin wird anhand einer Liste, die wöchentlich aktualisiert wird, nachsehen, welche Verbindungen sie für Robert herstellen darf. Nur innerstädtisch, nur innerhalb der amerikanischen Zone, deutschlandweit oder international? Robert hört Papier rascheln. Er schlägt den Deckel des Hefters auf. Der Auftrag lautet: »Cleanen Sie Sigfried Heiderer.«
Den Namen Heiderer hat Robert schon gehört, ein Alt-Nazi, der in Deutschland in den Diensten des FBI steht. Mehr weiß er nicht über ihn. Es gibt einfach zu viele Nazis, und von einigen sind die FBI-Akten gesperrt. Heiderer gehört dazu, das geht aus einem Vermerk hervor.
Robert liest weiter. Heiderer war Ost-Experte, Kommandant des Bataillons Ostmark, bestehend aus Ukrainern, beteiligt am Massaker von Lemberg, an der Erschießung von Juden und Kriegsgefangenen. Das Bataillon rückte als Erstes ein und ist angeblich für Hunderte Morde verantwortlich.