Das Archiv des Teufels. Martin Conrath

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Das Archiv des Teufels - Martin Conrath


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den Flachmann geöffnet, um seinen Zorn auf Gott und die Menschen hinunterzuspülen, aber er hat sich geschworen, ihn erst zu öffnen, wenn der Tag seiner Heimreise gekommen wäre.

      Verstohlen wirft er einen Blick auf den Marschbefehl, dreht den Flachmann in der Hand. Er ist aus Edelstahl getrieben, hat Artilleriefeuer überlebt, einen Absprung aus zwei Kilometern Höhe, den Beschuss mit einem Maschinengewehr und Roberts Kummer. Gefüllt ist der Flachmann mit einem erstklassigen Bourbon Straight aus seiner Heimat Kentucky.

      Er öffnet den Schraubverschluss, muss dafür einiges an Kraft aufwenden, sein Vater hat ihn mit seinen starken Händen verschlossen, als müsse er die Ewigkeit überdauern. Genau so ist es gekommen. Im Krieg ist jeder Tag eine Ewigkeit gewesen. Robert schüttelt die schlechten Gedanken ab. Der Krieg ist zu Ende, er ist einer der Sieger, fährt nach Hause, wird sich eine Frau suchen und eine Familie gründen. In einer Stunde startet die Militärmaschine nach Hamburg. Von dort geht es mit dem Schiff weiter. Sein Gepäck ist schon unterwegs, er hat nur das Nötigste in seinem Koffer untergebracht.

      Robert riecht am Whiskey. Der Duft ist unbeschreiblich: nasses Stroh, weite Wiesen, Weizen. Ihn überfällt die Sehnsucht nach der Ranch, auf der er aufgewachsen ist, nach seinem Quarter-Horse-Hengst Lucky und einem Ausritt entlang des Green River durch das blaugrüne blühende Gras; ihn überfällt das unstillbare Verlangen nach einem einsamen Fluss und dem friedlichen Plätschern von kristallklarem Wasser an rundgewaschenen Kieseln. Er meint das Gurgeln zu hören.

      Robert setzt den Flachmann an, zögert. Noch ist er nicht zu Hause. Sollte er nicht warten, bis er auf dem Schiff ist? Oder noch besser, bis er die Erde Kentuckys küsst? Fordert er das Schicksal heraus, wenn er den Flachmann zu früh leert? Er lässt ihn sinken, schraubt den Verschluss wieder zu. Er wird warten. Bis er auf der Ranch angekommen ist, bis er die Schwelle seines Elternhauses überschritten hat. Er wird den Whiskey mit seinem Vater genießen, auf der Veranda, dazu eine Zigarre, der Sonnenuntergang und ein tiefgründiges Gespräch.

      Robert greift sich seinen Koffer und seine Lederaktentasche, schaut sich ein letztes Mal um, denkt an die Aktenberge, die er durchgearbeitet hat, denkt an die Männer, deren Westen er weißgewaschen hat. Kleine und große Nazis. Robert hat ihre Vergangenheit gesäubert, sie gecleaned, Unterlagen vernichtet, die sie belasten könnten, Zeugen bestochen, damit sie die passende Aussage machten, den Nazis Persilscheine ausgestellt und ihnen damit bestätigt, dass sie unbelastet sind von brauner Gesinnung, dass sie im Dritten Reich Aufrechte waren, oder zumindest keine Verbrecher.

      Bis auf wenige Ausnahmen, bei denen Robert Menschen zu Recht entlasten konnte, war es ein schmutziges Geschäft. Aber es war richtig. Dieses Land darf nicht dem Chaos überlassen werden, linken Spinnern und Kommunisten, denn sonst wäre ein Krieg mit den Russen unvermeidlich. Adenauer, der Kanzler, ist einer der Gerechten, er wird die Demokratie verteidigen und die Nazis im Zaum halten. Roberts Arbeit war Friedensarbeit, auch wenn es viele Menschen gibt, die das anders sehen, die ihm vorwerfen, Nazi-Verbrecher geschützt zu haben. Das hat er getan, aber aus gutem Grund. Die Schlimmsten wurden abgeurteilt, hingerichtet oder zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Die Feigen nahmen sich das Leben, die Aufrechten nahmen den Strang.

      Ein VW-Käfer hält vor ihm, hinter dem Lenkrad sitzt ein blutjunger Private First Class. Er springt aus dem Wagen, seine rechte Hand federt zur Mütze, gleichzeitig klacken die Hacken zusammen. »Sir!«, brüllt der Private. »Ich soll Sie zum Flugplatz Oberwiesenfeld fahren, Major Bennett, Sir.«

      Robert hebt seine Hand lässig an die Schläfe. »Schon gut, Private, ich bin nicht taub. Rühren.«

      Der Private errötet, klemmt seine Finger an die Hosennaht, entspannt die durchgedrückten Knie. »Sir, darf ich eine Frage stellen, Sir?« Er brüllt nicht mehr, als stünde er auf dem Exerzierplatz, aber seine Stimme ist noch immer laut genug, sodass jeder im Umkreis von zwanzig Metern seine Frage hören kann.

      Robert greift nach seinem Koffer. »Nur zu, Private.«

      »Sir, Ihr Vater, Sir, ist das der General James F. Bennett?«

      Robert hätte es wissen müssen. »Ja, genau der ist es«, antwortet Robert auf eine Weise, die nicht verrät, dass er diese Frage schon so oft beantwortet hat, dass er das Mitzählen aufgegeben hat. Sein Vater, der General James Frederic Bennett, ist zwischen die Buchdeckel der Geschichtsbücher gerutscht, und Robert Bennett, ja, der Robert Bennett, hat noch nichts vollbracht, das die Menschen dazu bringen würde, seinen Namen mit hochgezogenen Brauen und Ehrfurcht in der Stimme auszusprechen, auch wenn er im Krieg belobigt wurde und den einen oder anderen Orden wegen Tapferkeit an die Brust geheftet bekam. Hochdekoriert ist er, so nennt man das. Er hat die Orden eingepackt, er wird sie nicht zur Schau stellen, denn alles, was er getan hat, war für ihn die Konsequenz seiner Entscheidung. Er ist in den Krieg gezogen, weil die Nazis eine Gefahr für die ganze Welt darstellten. Er hat sein Land verteidigt. Es war Notwehr. Die Orden erhielt er, weil er im Gefecht Menschen getötet hat. Nichts, woran er sich gerne erinnern möchte, nichts, das er sich an die Brust heften will, auch wenn es Feinde waren, die ihn ebenso getötet hätten. Wenn man eine Entscheidung gefällt, einen Schwur abgelegt hat, muss man sich daran halten. Koste es, was es wolle. Doch jetzt ist der Krieg vorbei, und Robert wird nie wieder ins Feld ziehen.

      »Gratuliere, Sir. Sind bestimmt stolz auf Ihren Vater. Beneide Sie. Muss toll sein.«

      Robert nickt, hält dem Private sein einziges Gepäckstück entgegen. Der nimmt es, verstaut es im Kofferraum, hält Robert den Schlag auf, setzt sich ans Steuer, legt den ersten Gang ohne Knirschen ein, der VW rollt an. Und ja, Robert ist stolz auf seinen Vater, aber nicht, weil er mit einer Handvoll Leute eine Übermacht Deutsche daran gehindert hat, einen strategisch wichtigen Frontabschnitt zu durchbrechen, sondern weil er nie mit seiner Tat angegeben hat, weil er kein Schinder war und auch weil er seinen strengen Glauben nicht über die Menschen gestellt hat. Außer über seine Familie.

      »Vergiss nie, Robert, dass nicht ich die Deutschen aufgehalten habe, sondern meine Männer, die zu Dutzenden im feindlichen Feuer gefallen sind. Nicht ich, sondern sie sind die Helden. Aber das will niemand hören.« Das hat er zu ihm gesagt, als Robert nach West Point auf die Militärakademie ging. Es hat Robert mit seinem Vater versöhnt, ihm ermöglicht zu verzeihen, dass er ihn gezwungen hat, in die Messe zu gehen, ihn gezwungen hat, die Bibel auswendig zu lernen, dass er ihm keine Wahl gelassen hat, welchen Gott Robert anbeten wollte. Die Bibel hat Robert schnell wieder vergessen, an ihren Platz setzte er das Wissen über die besten Methoden, einen Krieg zu gewinnen, im Nahkampf seinen Feind auszuschalten und Menschen mit Worten zu manipulieren.

      Eine Ewigkeit ist das her, es war in einem anderen Leben, es war ein anderer Robert Bennett, der mit klopfendem Herzen eingerückt ist und bald gemerkt hat, dass in West Point nur Härte und Leistung zählten. Dafür – immerhin – hatte sein Vater ihn bestens vorbereitet, und Robert hätte sich eher erschossen, als sich die Blöße zu geben, seinem Vater eingestehen zu müssen, zu schwach zu sein, um den Anforderungen gerecht zu werden, denen sein Vater gerecht geworden ist.

      Die McGraw-Kaserne liegt im Süden der Stadt, der Flugplatz Oberwiesenfeld im Norden, nicht weit entfernt vom ehemaligen KZ Dachau. Robert ist froh, dass er nicht dabei sein musste, als seine Kameraden es befreiten. Er hätte nicht gedacht, dass es noch etwas Furchtbareres gibt als das Tötungslager Hadamar.

      Der Private beherrscht das Fahrzeug. Er schaltet weich, fährt ein angemessenes Tempo, hält ausreichenden Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Wagen, achtet auf die Fußgänger, die kreuz und quer über die Straßen laufen, und auf die Fahrradfahrer, die als solche nicht immer auszumachen sind, so überladen sind ihre Gefährte mit allen möglichen Dingen: Bauholz, Ballen aus Altkleidern, Papier, das zu klobigen Vierecken zusammenpresst ist, Reisigbündel zum Heizen, Backen oder Schwarzbrennen. Es gibt noch immer Hunderte Drahtesel und Pferdegespanne, die auf den Münchner Straßen Waren transportieren und jede Engstelle verstopfen.

      Sie kommen zum Stachus, dort ist das Hauptquartier des CIC, Trümmer versperren den Weg, ein Haus muss erst vor Kurzem eingestürzt sein, der Private nimmt einen Umweg, er kennt sich aus. Die Innenstadt ist noch immer zur Hälfte ein Ruinenfeld. Deutschland ist hart bestraft worden für seine Verbrechen. Roberts Mitleid gilt all jenen, die zwischen die Mühlen der Macht gerieten und zermahlen wurden an der Front, in den Bombennächten,


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