Das Archiv des Teufels. Martin Conrath

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Das Archiv des Teufels - Martin Conrath


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gerauchte Zigarette auf den Boden, tritt sie aus. Er muss gut betucht sein, wenn er so verschwenderisch mit Zigaretten umgeht. Ein Kippensammler wird sich freuen. Die Frau fliegt ihm in die Arme, sie küssen sich leidenschaftlich, gehen Arm in Arm davon. Fehlalarm.

      Die anderen Passanten benehmen sich unverdächtig, dennoch beobachtet sie jeden und alles. Das kostet Kraft. Sie kann diese Konzentration nicht den ganzen Tag aufrechterhalten. Auf eine Rückendeckung hat sie verzichtet. Zu gefährlich. Zu leicht erkennbar und letztlich sinnlos. Eine Waffe darf sie nicht tragen, würde sie damit erwischt, wäre sie erledigt. Es gibt immer wieder spontane Kontrollen, ganze Viertel werden abgesperrt, keiner kann entkommen.

      Anna geht weiter, überquert die Straße, kehrt um. Niemand bleibt plötzlich stehen oder ändert die Richtung. Sie biegt um die Ecke, das Kaffeehaus ist so gut wie unbeschädigt. Nicht eine Scheibe ist zu Bruch gegangen in den Bombennächten. Ein Wunder. Als sie es betritt, schlagen ihr beißender Zigarettenqualm und die gedämpften Stimmen der Gäste entgegen. Irgendjemand schmaucht Pfeife, der angenehme, würzige Geruch dämpft ein wenig den der scharfen Zigaretten. Anna raucht nicht, und der Qualm macht ihr nicht wirklich etwas aus. Er ist nicht schlimmer als die abgasgeschwängerte Luft, die oft über der Stadt hängt, wenn das Wetter ungnädig ist und einen Deckel aus kalter Luft über Berlin stülpt, der den Luftaustausch unmöglich macht. Das Wetter ändert sich immer wieder, doch das Misstrauen, die Angst und das Vergessen-Wollen, die über der Stadt und dem ganzen Land liegen, ändern sich nicht. Wenn sie Auerbach fangen kann, wird sie dazu beitragen, dass ein wenig Erinnerung an die Verbrechen der Nazis wach bleibt, Erinnerungen, die im Westen unter Schweinebraten, Nylonstrümpfen und Autos erstickt werden. Sie lenkt ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Menschen. Kellner huschen zwischen den Tischen hin und her, hier muss niemand lange auf seine Bestellung warten. Sie entdeckt den Pfeifenraucher. Feistes Gesicht, runde Hüften, Kugelbauch. Vor ihm steht ein Teller mit drei Stück Kuchen, eines davon bereits zur Hälfte gegessen. Der Mann scheint zufrieden. Seine Seele fühlt sich wohl, eingehüllt in Tabak, Zucker und Fett. An einem anderen Tisch tuscheln drei junge Frauen miteinander. Sie sind modisch gekleidet, in Pariser Chic, ganz Dior: Wellenlinien, leichte Stoffe, die am Körper hinabfließen, weiche, runde Formen. Sie sind schön anzusehen. Anna gefällt diese neue Weiblichkeit, doch sie selbst kann solche Kleider nicht tragen. Sie muss eine graue Maus sein, für die sich niemand umdreht. Jeder Tisch ist besetzt, an einem sitzen Männer im Frack. Anna fragt sich, warum sie um diese Tageszeit so gekleidet sind. Vielleicht haben sie sich hier verabredet, um gemeinsam zu einem Empfang zu gehen? Nicht ihr Problem. Niemand scheint verdächtig.

      Auerbach hat sie noch nicht entdeckt. Er sitzt am Fenster in einem Sessel und ist in die Tageszeitung vertieft. Anna ist zehn Minuten zu früh, er rechnet noch nicht mit ihr.

      Sie tritt von hinten an ihn heran. »Ist hier noch ein Platz frei?«

      Die Zeitung fällt raschelnd auf den runden Marmortisch, Auerbach springt auf, in seinem Gesicht mischen sich Freude und Verlegenheit. »Herta, wie schön, Sie zu sehen, aber selbstverständlich.«

      Sie beugt sich zu ihm hin, schließt die Augen, gibt ihm zu seiner Überraschung einen leichten Kuss auf die Lippen. Sie sind weich und trocken, Gott sei Dank. Sie spürt leichte Übelkeit aufsteigen. Er riecht nach Moschus, er muss auf dem Schwarzmarkt einkaufen, so etwas gibt es nicht in den Kaufhäusern.

      »Setzen Sie sich doch.« Er zeigt auf den anderen Sessel. Roter Plüsch. »Was darf ich Ihnen bestellen?«

      Anna zieht den Mantel aus, Auerbach will ihn nehmen, um ihn an die Garderobe zu hängen, aber sie schüttelt den Kopf. »Lisa ist neulich der Mantel gestohlen worden.«

      Auerbach zieht die Hand zurück. »Sie haben recht, man kann nie vorsichtig genug sein. Die Stadt ist voller Diebe.«

      Und voller Menschen, denen das Nötigste fehlt. Sie ist erstaunt, dass es nicht viel mehr Überfälle gibt, dass sich die Vergessenen nicht zusammentun, um ihr Recht auf ein würdiges Leben durchzusetzen. Anna nimmt Platz, drapiert den Mantel über der Lehne. Auerbach rückt seinen Sessel noch etwas näher an ihren, dann lässt er sich in seinen Sessel gleiten. Er ist schlank, kein Gramm Fett zu viel, er hält sich fit, und er sieht nicht schlecht aus. Stattlich, dennoch jungenhaft. Und vor allem harmlos, als könne er kein Wässerchen trüben. Anna weiß es besser.

      »Was möchten Sie?«

      »Eine heiße Schokolade bitte. Ganz dunkel.«

      Er winkt einem Kellner, der sofort an ihren Tisch kommt, Auerbach gibt die Bestellung auf: eine Tasse Brühkaffee für sich, extrastark und schwarz, die heiße Schokolade für Anna, extradunkel.

      »Wie geht es Ihnen?«, fragt Auerbach. »Hat Ihr Chef ein Einsehen gehabt?«

      Annas Deckarbeitsplatz ist ein kleines Versicherungsbüro. Sie arbeitet dort als Sekretärin. Auerbach hat sie erzählt, dass ihr Chef sie auch samstags bis sieben Uhr arbeiten lässt. Auerbach hat schon zweimal angerufen, um sie zu sprechen. Sie ist sich sicher, dass er prüfen wollte, ob es dieses Büro überhaupt gibt. Er hat es sich von außen angesehen und sogar jemanden geschickt, der eine Versicherung abgeschlossen hat. Seitdem hat er mehr Vertrauen gefasst. Sie geht davon aus, dass er ihre Deckidentität geschluckt hat. Die Westpresse ist voll mit reißerischen Artikeln über Entführungen Unschuldiger. Alles gelogen. Anna weiß es. Sie hat schon viele Naziverbrecher und Landesverräter gefasst und ihrer gerechten Strafe zugeführt. Der Westen aber macht sich nach wie vor mit Nazi-Verbrechern gemein. Die Nürnberger Prozesse haben nur den Schaum der Nazijauche abgeschöpft.

      »Ja. Ich muss jetzt nur noch bis fünf arbeiten. Eine große Verbesserung«, antwortet sie fröhlich.

      Die Getränke kommen. Die Schokolade dampft, so heiß ist sie, der Kaffee ebenfalls. Das Kaffeehaus hat keine Heizung. Im hinteren Teil befindet sich ein Kaminofen, der aber nicht befeuert wird. Kohle ist teuer, Holz gibt es überhaupt nicht, die Gasleitung ist noch nicht repariert.

      Anna kostet. Die heiße Schokolade ist dick und herb, schmeckt leicht bitter nach Kakao. So hat ihre Mutter sie früher gemacht, bevor die Nazis sie verschleppt haben. Da war Anna zehn Jahre alt. Nur ein Jahr später war ihr Vater weg. Ihr Großvater hat sie bei Nacht und Nebel nach Frankreich gebracht. In der Nähe von Bordeaux war eine Anlaufstelle für deutsche Kommunisten. Dann er ist ins Reich zurückgekehrt. Weder von ihrer Mutter noch von ihrem Vater oder ihrem Großvater hat sie je wieder gehört. Sie atmet tief durch, muss aufpassen, dass sie nicht wehleidig wird, das vernebelt die Sinne. Sie kann es sich nicht leisten, unaufmerksam zu sein.

      Auerbach nippt an seinem Kaffee, schaut sie über den Tassenrand hinweg an. »Am Sonntag, äh«, er errötet, »hätten Sie Lust, mit mir und Freunden einen Ausflug zu machen?«

      Anna setzt ein erfreutes Gesicht auf, sie weiß, dass es echt wirkt. Vor dem Krieg hat sie Schauspiel studiert. »Aber ja. Gerne. Wohin soll es denn gehen?«

      »Ich habe Ihnen doch von Norbert erzählt. Er hat ein Segelboot, wir machen eine kleine Tour über die Spree, vorausgesetzt, das Wetter hält.«

      Anna greift nach Auerbachs rechter Hand, drückt sie, er erwidert die Berührung leicht. Auch seine Hände sind trocken. Er ist vollkommen entspannt. Wieder steigt leichte Übelkeit auf. »Das wäre wunderbar! Und schlechtes Wetter macht mir nichts aus. Mein Mantel ist wasserdicht.«

      Auerbach lächelt milde. »Der würde nicht viel nutzen auf dem Wasser. Aber es ist gut, wenn Sie wetterfest sind. Die nötigen Kleider habe ich noch von meiner Frau. Die müssten Ihnen passen.«

      Anna ist überrascht. Er hat noch nie von seiner Frau erzählt. »Ihre Frau …«

      »Sie ist tot. Bombennacht. Ich war freiwilliger Helfer bei der Feuerwehr. Die Bombe hat den Keller getroffen. Niemand hat überlebt.«

      Anna drückt seine Hand fester. »Es sind so viele ums Leben gekommen.«

      Er lächelt noch immer. »Aber jetzt ist es ja vorbei, und das Leben geht weiter.«

      Auerbach ist ein guter Lügner. Er war nie bei der freiwilligen Feuerwehr. Und er war auch nie verheiratet. Er hat in den letzten Tagen des Krieges Hunderte Kinder in den Tod geschickt und Dutzende Männer erschießen lassen, die sich geweigert hatten,


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