Leipziger Mörderquartett. Tatjana Böhme-Mehner

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Leipziger Mörderquartett - Tatjana Böhme-Mehner


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Moment rief ihr der Wäschekorb aber ein ganz anderes Problem ins Bewusstsein: Was sollte sie anziehen? Nicht, dass sie nicht genug Kleider im Schrank hängen hatte. Allen Berufsklischees zum Trotz legte die Musikkritikerin Anna Schneider durchaus Wert auf ihr Äußeres. Doch man konnte nicht mit allem überall hingehen. Und gerade für heute hätte sie den schwarzen Leinenanzug gebraucht, der ganz oben auf dem Wäschekorb lag. Absolut logisch und auch alternativlos für das In-and-Out mit seinem Vintage-Mobi­liar und den improvisierten Stuhlreihen, die sie unter der Hand als »versifft« beschreiben würde. Welcher Geisteskranke kam eigentlich auf die Idee, ein solches Programm in einem Club wie dem In-and-Out zu spielen? Akustisch daneben und unbequem. Dabei war die Veranstaltung Teil einer Abonnementreihe des Gewandhauses und hätte in den Kammermusiksaal, den Mendelssohnsaal, gehört, benannt nach einem der vielen Sockelheiligen dieser Musikstadt. Was manchmal in den Köpfen von Programmmachern vorging? Ärgerlich, aber nicht ärgerlich genug, um daraus die ersehnte Geschichte zu machen.

      Langsam verflog bei Anna das letzte Fünkchen Lust auf den Konzertabend. Wenn sie den Anzug jetzt noch bügelte, wäre sie gnadenlos zu spät. Ausgeschlossen in ihrem Job und bei dem Programm. Keine Verhandlungsmasse mit dem Schrank … Mit dem beigen Kassettenkleid würde sie komplett overdressed sein im düsteren Ambiente des In-and-Out. Wenigstens widersprach das Material nicht ganz dem alternativen Charakter der Location. Sie blieb beim Leinen und wusste, dass sie die Entscheidung bereuen würde, während sie sich insgeheim eingestand, dass es keine wirkliche Entscheidungsmöglichkeit gab.

      3

      Nein, ein Kind der Club-Szene war Anna in der Tat nicht, auch wenn ihre Dachgeschosswohnung nicht weit entfernt lag von der »Karli«, der Szenemeile, die eigentlich Karl-Liebknecht-Straße hieß. Sprachaffin, wie sie von Berufs wegen sein musste, aber auch von jeher gewesen war, mochte sie die Marotte der Leipziger, bestimmte Orte mit dem Vornamen anzusprechen. Darin äußerte sich eine gewisse Zuneigung. Als sie vor 18 Jahren zum Studium hierhergekommen war, war ihr das schnell klar geworden. Man traf sich im Clara-Park zum Picknick. Damit bekam der Ort gleich etwas Vertrautes, Gemütliches wie das Picknick selbst. Manchmal fragte sie sich, ob es Ur-Leipziger gab, die gar nicht wussten, dass diese innerstädtische Grünoase Clara-Zetkin-Park hieß, geschweige denn, wer Clara Zetkin war. Anna hatte eine Weile gebraucht, um zu begreifen, dass diese Verkürzung offenbar keine politische Dimension hatte; denn zur August-Bebel-Straße gleich um die Ecke sagten sie artig »Bebelstraße«. Irgendwann war Anna klar geworden: Die Bebelstraße war einfach keine Kultstätte.

      Jedenfalls schlängelte sie sich jetzt den Bürgersteig der »Karli« entlang und blickte etwas neidvoll auf die Menschen, die mit erfrischenden Getränken die Freisitze bevölkerten, während Anna gleich im stickigen Dunkel des In-and-Out verschwinden musste.

      Unweigerlich spürte sie dem Widerhall des Bebens des Hochdruckreinigers in ihrem Körper nach, als sie in dem – ihrer Meinung nach – für ein seriöses Kammerkonzert unpassenden Clubsessel versank, damit unbewusst auf der Suche nach dem eben errungenen Gefühl von Sauberkeit auf der eigenen Terrasse. In letzter Minute vom Einlasspersonal in den erstaunlich gut gefüllten Club geschoben, war es dieser überdimensionierte Sessel in Türnähe, der ihr als Sitzgelegenheit blieb und der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit quietschte, wenn sie die kleinste Bewegung machte. Das gaben die lockeren Federn unter dem abgenutzten Samtbezug unweigerlich zu verstehen, die sich sofort mit Vehemenz in ihr Sitzfleisch bohrten. Keinesfalls die beste Voraussetzung für ungetrübten Musikgenuss.

      Das Saal-, besser Clublicht war schon erloschen und ein paar wenige Spots richteten sich auf das Podium. Die vier Notenpulte nahmen sich absurd aus in diesem Club-Setting. Anna wäre gern dazu übergegangen, dem Ganzen etwas Positives abzugewinnen. Sie wollte als Kritikerin nicht als die Mäkeltante vom »Täglichen Anzeiger« rüberkommen und noch viel mehr wollte sie Spaß an ihrem Job haben. Doch heute war das wie verhext.

      Während sie versuchte, sich möglichst geräuscharm auf dem viel zu tiefen Sessel zurechtzurücken, was voraussetzte, dass sie sich wenigstens in Ansätzen aus dem archaischen Sitzmöbel heraushievte, fasste sie in einer Mischung aus Zwangsläufigkeit und Ungeschick mit der Hand auf die hölzerne Armlehne. Ein kapitaler Fehler. Sie klebte … Nicht in dem Sinne, dass Anna – untrennbar mit der Lehne verbunden – im In-and-Out gefangen war, aber immerhin so, dass die Kontaktfläche ihrer Hand nun ebenfalls klebte. Anna wollte nicht darüber nachdenken, welcher Art die klebrige Substanz war, mit der sie kontaminiert war. Eines stand fest: Sie bräuchte ein Waschbecken und viel Seife, um das Problem zu lösen. Wenigstens garantierte ihr die Türnähe des Platzes, dass sie zur Pause als eine der Ersten in Richtung Toilette stürmen konnte. Bis dahin dauerte es aber noch rund eine Dreiviertelstunde.

      Obschon das Konzert gerade begann, konnte Anna den Gedanken nicht aus ihrem Kopf vertreiben, was das Schmuddel-Sitzmonster mit dem – sie hatte es ja gewusst – unpassenden beigen Leinenkleid anrichten würde. Wenn sie sich jetzt nicht langsam konzentrierte, konnte sie genauso gut gleich gehen. Was sie natürlich nicht tat. Während sie sich sammelte und konsequent die Berührungsfläche zwischen sich und dem Sessel auf ein notwendiges Minimum beschränkt hielt, ging der erste Brahms an ihr vorüber.

      Gar nicht so übel, zumindest das, was sie davon wahrgenommen hatte. Anständig. Das subjektive Unbehagen ob der Location würde sie routiniert aus ihrer Kritik heraushalten. Diese würde kein Meisterwerk sein, aber wer erwartete das schon bei einer solchen Veranstaltung. Das Ambiente war ohnehin nicht geeignet für die vollkommene musikalische Kontemplation.

      Wenigstens hatte man die Bar im Saal geschlossen, was den Vorteil hatte, dass das Brummen der Bierkühlung wegfiel. Auf die schwerfällige Klimaanlage, die das fensterlose Gemäuer bestenfalls mit einem Mindestmaß an so etwas wie Frischluft versorgte, hatte man nicht verzichtet. Wahrscheinlich gingen die Veranstalter davon aus, dass man sich an das Summen mit der Zeit gewöhnte.

      Jetzt Mozart. Mit ein bisschen Glück konnte Anna in der aktuellen Position bis zur Pause durchhalten und weiteren Kleberkontakt vermeiden. Einen Satz der »Kleinen Nachtmusik« hatte sie schon überstanden. Das Kleistenes-Quartett machte seine Sache immer noch ordentlich. Sie würde sich in ihrem Text mit Goethe und den vier vernünftigen Leuten, die ein Gespräch führen, aus der Affäre ziehen. Das funktionierte bei Streichquartetten beinahe immer.

      Was war das? Anna traute ihren Ohren nicht. Ein Fauxpas, und das in diesem Stück, das jeder mitpfeifen konnte. Ein Fehler, den die Kritikerin nicht ignorieren konnte, falls sie am Montag noch ernst genommen werden wollte. Was genau tat der Bratscher Thorsten Steinmüller da? Solide – für Annas Geschmack etwas zu solide für ein relativ junges Ensemble – hatte sich das Kleistenes-Quartett durch den unvermeidlichen ersten Satz gearbeitet. Na ja, bei dieser Musik störte es niemanden, wenn die Darbietung allenfalls nett war. Aber das hier hatte mit nett nichts zu tun. Die wunderschöne Themenexposition des zweiten Satzes war durchgestanden. Doch in der Themenwiederholung, gerade da, wo die Bratsche inmitten des bis dahin dreistimmigen Satzes die seltene Chance zu sinnlicher Virtuosität erhält, setzte Steinmüller zwar korrekt ein und trillerte im richtigen Moment los, schien aber aus seinem Triller nicht mehr herauszufinden. Er trillerte noch in aller Gemütlichkeit, als die anderen gefühlt Takte voraus waren … Das war keine selbstverliebte Virtuosität … Es war absurd. Als würde der Bratscher in einer völlig anderen Zeitebene und Musiktradition verfangen sein, als steckte dieser in seinem Triller fest. Die »Kleine Nachtmusik« war schließlich kein spätes Beetho­ven-Quartett, sondern irgendwo im Übergang zwischen dem Streichquartett als Hausmusikform, die von versierten Amateuren zu bewältigen war, zum hoch expressiven, Professionalität fordernden Quartett der Romantik anzusiedeln. Für einen halbwegs routinierten Musiker kein Hexenwerk.

      Anna war hellwach.

      Steinmüller war kein Anfänger und erst recht kein Amateur. Er hatte bis vor Kurzem einen Lehrauftrag an der Musikhochschule innegehabt. Warum er den nicht mehr hatte? Weiß der Geier. Anna hatte sich darüber bisher keine Gedanken gemacht. Wohl kaum, weil er die Bratschenstimme der »Kleinen Nachtmusik« nicht mehr auf die Reihe bekam!

      Die Spannung in der Luft des Clubs, die man ohnehin hätte schneiden können, war förmlich zu greifen. So empfand das zumindest Anna, die der latente Kneipengeruch seit Betreten des Raumes nervte.

      Peinlich


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