Leipziger Mörderquartett. Tatjana Böhme-Mehner

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Leipziger Mörderquartett - Tatjana Böhme-Mehner


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zweite Geiger Sebastian Mönkeberg hingegen war das personifizierte Entsetzen. Anna war fasziniert, wie angesichts der Mischung aus Verwirrung und Verzweiflung die Finger des Musikers dennoch jene Stellen auf den Saiten fanden, die Mozart sich vorgestellt hatte. Unweigerlich fragte sich die Kritikerin, wie weit man diese Abläufe mechanisieren konnte. Dass die Primaria des Quartetts, Theresa Steinmüller, Schwester des Übeltäters, mit einer stoischen Ruhe nicht nur das zusammenhielt, was noch zusammenzuhalten war, sondern ihrem Mienenspiel nichts anmerken ließ, hatte etwas Erschreckendes.

      Anna hatte in einer Mischung aus Faszination, Resignation und Entsetzen die Abwehrhaltung gegen den Sessel aufgegeben und war, während die vier sich ein wenig angestrengt, aber in einem geordneten Miteinander dem Ende des Werkes und damit der Konzertpause näherten, tief in den Sessel hineingerutscht. Inzwischen war sie der Überzeugung, dass sie neben Seife auch unbedingt eine Erfrischung benötigte, und schwankte gedanklich zwischen Wasser, Wein und dem für sie dekadentesten aller Getränke – Cola. Bei ihrem heutigen Glück konnte sie fast sicher sein, dass der Wein in diesem In-and-Out wahlweise von minderer Qualität oder schlecht temperiert sein würde, höchstwahrscheinlich beides. Außerdem brauchte sie einen klaren Kopf, gerade in diesem absurden Konzert. Cola war der Inbegriff der Verführung, dem sie sich angewöhnt hatte zu widerstehen, weil das die Vernunft gebot. Angesichts des Zuckergehalts. Und überhaupt … Die Vernunft war auch jetzt noch auf dem Vormarsch. Also: Wasser.

      Gemäßigter Applaus. Die Kleistenes-Musiker retteten sich von der Bühne. Der Beifall rechtfertigte nicht die Rückkehr für eine weitere Verbeugung. Anna verschwand zielstrebig Richtung Wasser und Seife. Das Erste, was ihr an diesem Tag auf Anhieb gelang.

      Wahrscheinlich wäre es ratsam gewesen, eine Brise Luft vor der Club-Tür zu schnappen. Doch die gab es dort ohnehin nicht, weil sich die gefühlt 90 Prozent Raucher um die drei Aschenbecher scharten. Ein Blick zum Ausgang bestätigte das.

      Oben im zweiten Saal begann eine andere Veranstaltung, wie die dröhnenden Bässe aus der noch offenen Tür vermuten ließen. Hoffentlich untermalten die nicht den verbleibenden Brahms …

      Eine Person im dunklen Kapuzenpulli drängte sich an Anna vorbei – unhöflich, rempelte sie beinahe an, schwang sich die kleine Wendeltreppe empor und verschwand in der Tür, die vermutlich zur Regie führte. Wahrscheinlich ein Techniker, denn nun schloss sich die obere Saaltür. Anna beeilte sich, um an der Theke noch ein Wasser zu ergattern. Sie hatte den festen Vorsatz, aus diesem Abend das Beste zu machen. Schließlich war es nicht allzu spät, draußen schien noch immer die Sonne. Die Terrasse wartete; und bisher sah es nicht so aus, als würde jemand gesteigertes Interesse daran haben, den Kleistenes-Abend mit unnötigen Zugaben zu verlängern.

      Die Schlange vor Anna wurde kürzer. Der Barmann kam in Sicht, eigentlich eher ein Barjunge, aber das sagte man wohl nicht. Zuversicht auf der ganzen Linie. Da spürte sie es – zunächst am Hals, dann auf dem Dekolleté. In der Tat spürte sie zuerst die Flüssigkeit an sich herunterlaufen, bevor sie das Unglück sah geschweige denn realisierte, was genau passiert war.

      Vor ihr stand ein entsetzt dreinblickender Mensch – gar nicht so unattraktiv, abgesehen von dem schreiend bunten Oberhemd, das er in die schwarze Jeans gesteckt hatte. Äußerst akkurat, dennoch verbarg es die athletische Statur keinesfalls. Trotzdem wirkte der Lockenkopf unbeholfen – charmant unbeholfen, aber unbeholfen. Und er hatte ein leeres Weinglas in der Hand. Die Bar im Rücken … Das Weinglas in der Hand leer … Er redete schnell und intensiv auf Anna ein.

      Als er bei »Natürlich werde ich für die Reinigung aufkommen« angelangt war, wurde Anna allmählich klar, dass dieses maskuline Riesenbaby ihr von oben nach unten ein komplettes Rotweinglas aufs beige Leinenkleid gegossen hatte. Hätte es noch irgendeinen Zweifel daran gegeben, dass dies nicht Anna Schneiders Tag war, jetzt wäre er ausgeräumt.

      »Darf ich mich zunächst mit einem Drink revanchieren?«

      Er hatte wirklich »Drink« gesagt – wahrscheinlich einer von der ganz coolen Sorte. Anna hatte ihre Sprache noch nicht wiedergefunden, zumal ihr der Rotwein vom Hals bis mindestens zum Nabel triefte. Was in ein einziges Glas hineinpasste … Anna trat hinter dem sehr bemühten Mann an die Theke. Als dieser sie freundlich einlud, zu bestellen, »was immer sie möge«, sagte sie ausgerechnet: »Eine Cola, bitte!« Das hatte sie sich verdient.

      Beide hielten sie nun ein Cola-Glas in der Hand, als Mister Tollpatsch ihr freudig – weil sie die Einladung angenommen und nicht um Hilfe geschrien hatte – die Hand entgegenstreckte und sagte: »Habakuk, Habakuk C. Brausewind.«

      Wie bitte, wollte Anna fragen, musste aber derart an sich halten, um nicht loszusprudeln, dass sie wieder keinen Ton herausbrachte. Wie müssen dich deine Eltern gehasst haben, schoss es ihr durch den Kopf.

      Da fügte er strahlend hinzu: »Sie können aber Heinz sagen.«

      Das war endgültig zu viel für Anna Schneider an diesem Tag. Sie brach in schallendes Gelächter aus, streckte ihm die Hand entgegen und erwiderte: »Anna, Anna Schneider.«

      Ihr Gegenüber starrte sie ungläubig an. »Die Anna Schneider? Anna Schneider vom ›Täglichen Anzeiger‹?«, stotterte er.

      Um Gottes Willen, was war das denn? Es passierte Anna nicht allzu oft, dass sie als die Kritikerin enttarnt wurde. In der Hoffnung, dass sich alles ordnen würde, nippte sie verlegen an der Cola, während dieser Habakuk-Heinz-wer-auch-immer seiner Bewunderung für ihr kritisches Ohr und ihren Scharfsinn und Wortwitz Ausdruck verlieh. Ob sie heute etwa auch beruflich hier sei?

      Eigentlich war ihr Gesprächspartner ganz witzig. Wäre Anna ihm in einer anderen Situation begegnet, hätte sie ihn wahrscheinlich unterhaltsam gefunden, Spaß an der Konversation gehabt. Warum sollte sie also das Offensichtliche verneinen? Am Montag würde es sich eh aufklären, falls sie jemals eine Konzertkritik über diesen vermaledeiten Abend zustande brachte.

      Er sei in gewisser Weise ebenfalls beruflich hier. Nicht, dass sie Kollegen wären, aber heute sei auch sein kritisches Ohr gefragt.

      Was sollte das jetzt werden? Habakuk nervte, dabei hatte er einen Unterhaltungswert, der der verwirrten Anna guttat.

      Sie habe auch über ihn schon häufiger geschrieben. Nicht namentlich natürlich. Nein, in Form des Gewandhausorchesters. Er sei dort Bratscher.

      Dass sie nicht erneut in schallendes Gelächter ausbrach, grenzte an ein Wunder. Ein Bratscher hatte ihr gerade das schönste und empfindlichste Kleid, das sie besaß, komplett mit Rotwein versaut; ausgerechnet ein Mitglied jener Instrumentengruppe, über deren Tollpatschig­keit und Unvermögen es die mit Abstand meisten Witze gab. Diese Witze musste man sich nicht einmal hinter vorgehaltener Hand erzählen. Ein Bratscher, der von sich behauptete, Habakuk C. Brausewind zu heißen. Sie würde morgen überprüfen, ob das Jahres­programm des Gewandhausorchesters in der Bratschengruppe tatsächlich diesen Namen auswies. Was es bedeutete, wenn das nicht der Fall war, wollte sie dann entscheiden. Für den Moment taten ihr Habakuks warme Augen und sein arglos leidenschaftliches Geplapper über Musik einfach gut.

      Was seine berufliche Aufgabe heute war, konnte er nicht mehr erklären, denn die Konzertpause war, zwar reichlich spät, aber nun endgültig beendet. Trotz des an sich kurzen Programms wurde es außerdem langsam knapp für den Wein auf der Terrasse. So warm waren die Nächte noch nicht. Und sie müsste sich erst einmal vollständig umziehen, was sie am allerliebsten auf der Stelle täte.

      Wieder überstürzt, aber dieses Mal selbst komplett verschmutzt, sank Anna in ihren Club-Sessel. Saal dunkel, Spot auf die kleine Bühne. Das Licht flackerte ein wenig. Hoffentlich würde ab jetzt alles gut gehen; schließlich wollte sie nicht die ganze Nacht im In-and-Out verbringen.

      4

      Inzwischen machte es für Anna auch keinen Sinn mehr, der Vibration des Hochdruckreinigers nachzuspüren. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so durch den Wind gewesen war, oder besser, dass sie jemals zuvor so durch den Wind gewesen war. Klebrigkeit, das Mozart-Debakel und dann Ha-ba-kuk und der Rotwein auf ihrem Kleid – das waren deutlich mehr außergewöhnliche Vorfälle als üblich in ihrem Job.

      Der Spot flackerte noch immer.


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