Leipziger Mörderquartett. Tatjana Böhme-Mehner

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Leipziger Mörderquartett - Tatjana Böhme-Mehner


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ruhen könne, wenn sie wisse, ob es etwas gebe, das den Unfall beeinflusst haben könnte. Selbst wenn sie den Text am Ende gar nicht schreiben durfte, sei es für sie beruhigend zu wissen, worauf sie sich einlasse.

      Habakuk war platt. Schlicht und ergreifend sprachlos. Anna redete sich so in Rage, dass der Bratscher eingeschüchtert in seinem Plüschsessel saß und kaum wagte, an seiner Cola zu nippen. Mit großen, lieben, aber verwirrten Augen starrte er Anna an, die wie Jeanne d’Arc und mehrere Walküren in Personalunion eine gigantische Lanze für die journalistische Verpflichtung zur Wahrheit brach. Tief beeindruckt gab er nach. Er nutzte eine von Annas rhetorischen Kunstpausen und sagte: »Na gut.«

      Anna erklärte gerade, dass sie sich vor allem als Musikkritikerin bewusst darüber sei, was journalistische Sorgfaltspflicht bedeute. Auf Habakuks kurzes »Na gut« hin brach sie ihren Vortrag ab. Zufrieden und gespannt, was jetzt kommen würde.

      Immer noch zurückhaltend setzte Habakuk zu einer langen Vorgeschichte an, die damit begann, dass er und der Verstorbene sich kannten. Nicht gut, aber sie kannten sich. Was für Anna nicht sonderlich verwunderlich war bei zwei Profi-Bratschern in einer mittleren Großstadt. Aber Thorsten Steinmüller hatte vor einiger Zeit Kontakt zu Habakuk aufgenommen, weil der gesagt hatte, dass er auf der Suche nach einem neuen Instrument sei. Das Gewandhausorchester wolle sich mit dem neuen Sommerfestival und der Gründung eines Kammerorchesters aus den Reihen des Klangkörpers auch einen international ernstzunehmenden Platz in der sogenannten historisch informierten Aufführungspraxis schaffen.

      Anna stieß – wie immer, wenn sie ihn hörte – der Begriff der »historisch informierten Aufführungspraxis« auf, weil er so bemerkenswert konstruiert erschien wie manche zentralen Repräsentanten dieser Interpretationsrichtung selbst. Andererseits wirkte er verblüffend ehrlich. Anna hatte nichts gegen die klanglichen Ergebnisse und auch nicht gegen die Mehrheit dieser Leute, die ihren Interpretationen akribisches Quellenstudium zugrunde legten. Sie war lediglich vorsichtig, wenn Menschen aus ihrem Ansatz nicht nur eine, sondern gleich die einzig gültige Weltanschauung machten. Das hatte Anna Schneider schon zu oft erlebt. Aber das hatte mit dieser Sache nichts zu tun, und so gab sie sich alle Mühe, die unangenehmen Assoziationen auf der Stelle zu verdrängen und Habakuk mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu folgen.

      Das Gewandhausorchester wollte also auch – deutlich verspätet, wie Anna fand – auf den Original­klangzug aufspringen. Na ja, jeder war seines eigenen Glückes Schmied … Auf jeden Fall sollte Habakuk in dem Kammerorchester Solo-Bratscher werden, während er ansonsten sein Dasein weitgehend am zweiten Pult fristete. Deshalb hatte er relativ breit die Information gestreut, dass er bereit war, für eine gute historische Bratsche eine Stange Geld in die Hand zu nehmen.

      Anna fragte sich insgeheim, was eine Bratsche kostete, und schämte sich sofort für diesen Gedanken. Da war er schon wieder, dieser latente Chauvinismus gegen die Bratscher. Natürlich kannte sie vom Hörensagen die Preise für gute Geigen oder Celli; was ein Konzertflügel kostete gehörte zum Allgemeinwissen. Aber eine Bratsche? Sie hatte sich noch nicht einmal – trotz Studiums einschließlich der obligatorischen Instrumentenkunde-Kurse und einer zweistelligen Zahl an Berufsjahren – gefragt, welche großen Bratschenbauer es gab. Wahrscheinlich fertigten Geigenbauer auch Bratschen … Als ihr der Verdacht kam, dass Bratschen an den grobmotorischen Tagen der Geigenbauer hergestellt wurden, rief sie sich ihren eigenen Appell an das journalistische Berufsethos ins Gedächtnis. Dieses schloss eine Gleichbehandlung aller Bevölkerungsgruppen ein. Also: kein bratschenfeindlicher Chauvinismus mehr – zumindest für heute! Auch zugunsten des leidenschaftlich berichtenden Habakuk. Anna genoss es, Habakuks Berichten zu lauschen. Er war ein wahrhaft plastischer Erzähler, und Anna wurde merklich gelöster, während sie ihm an den Lippen hing.

      Habakuk beantwortete nach und nach alle ihre Fragen zu Bratschenbauern, ohne dass sie diese stellte. Es waren tatsächlich Geigenbauer, die sich aber in vielen Fällen spezialisierten. Anna erfuhr, dass es nur wenige gute historische Instrumente auf dem Markt gab. Dafür gab es unterschiedliche Gründe. Insgesamt hatte das mit der Entwicklung der Musik für mittlere Stimmlage zu tun – da es weniger herausragendes Repertoire und weniger herausragende Interpreten gegeben hatte, gab es auch weniger herausragende Instrumente. Das hatte sich – nachvollziehbar für Anna – erst im 20. Jahrhundert merklich verändert.

      »Okay! Und die in sehr viel kleinerer Stückzahl existierenden guten historischen Instrumente haben dann einen ganz besonders herausragenden Preis, richtig?«, schlussfolgerte sie.

      »Vor allem muss man sie finden.«

      »Und du hast eins gefunden?«

      Irgendwann waren Anna und Habakuk einvernehmlich zu dem in beiden Branchen üblichen Du übergegangen.

      »Es hat mich gefunden. Aber jetzt ist es futsch. Oder: Man will mich glauben machen, dass es futsch ist. Das ist es ja, was ich meine. Vor etwa zwei Monaten rief mich Thorsten Steinmüller an. Er hatte meine Nummer von einem Kollegen aus dem Gewandhausorchester. Und er fiel gleich mit der Tür ins Haus. Ohne ›Wie geht’s? Wie steht’s?‹, ohne Small Talk kam er gleich zur Sache. Das war wohl seine Art. Er wollte mir eines seiner aktuellen Instrumente, den vor etwa 20 Jahren geschaffenen Nachbau einer Stradivari von 1719 verkaufen. Steinmüller, der nicht in dem Ruf stand, verarmt zu sein, schien es mit dem Verkauf sehr eilig zu haben. Das machte mich zunächst stutzig. Ich dachte mir, dass möglicherweise mit dem Instrument etwas nicht stimmt. Dennoch ließ ich mich auf ein Treffen und ein Probespiel des Instruments ein – bereits am nächsten Tag. Diesem folgte ein weiteres Probespiel eine Woche später, weil ich positiv überrascht, aber noch nicht überzeugt war. Da haben wir dann über den Preis gesprochen, den ich nicht zahlen wollte und auch nicht konnte. Ich wollte mich nicht an eine Bratsche versklaven wie andere an ein Herrenhaus. Wir haben hin und her verhandelt, wobei ich von vornherein offengelegt habe, was für mich realistisch ist – immerhin der Preis eines richtig guten Mittelklassewagens.«

      Er schien eine verdammt ehrliche Haut zu sein, dieser Brausewind. Steinmüller habe bis ins Letzte gefeilscht, schließlich sogar in 100-Euro-Schritten, was bei solchen Summen besonders lächerlich war. Habakuk sei das Ganze schließlich so unangenehm geworden, dass er das Instrument aufgeben wollte. Da habe ihm der Kollege mitgeteilt, es tue ihm leid, er habe einen anderen Käufer gefunden, der ihm den vollen Preis zahle. Aus Asien, mehr habe er nicht gesagt. Habakuk hatte die Sache in dem Moment abgeschlossen, und er war froh darüber gewesen, weil die obsessiv feilschenden Anrufe des Kollegen zeit- und energiezehrend waren.

      Anna hing an Habakuks Lippen, und der fragte sich, wann er das letzte Mal das Bedürfnis gehabt hatte, sich jemandem in dieser Ausführlichkeit und Intensität mitzuteilen. Auf jeden Fall war die Sache mit der Bratsche vorläufig im Sande verlaufen, Habakuk hatte nichts mehr von Steinmüller gehört und war darüber hinaus von dem kostspieligen Investitionsplan geheilt.

      Bis vor gut einer Woche abermals sein Telefon geklingelt und Steinmüller gefragt hatte, ob er noch interessiert sei. Habakuk hatte sich das neuerliche Angebot angehört. Steinmüller wollte ihm 100 Prozent beim Preis entgegenkommen, wenn der Deal auf der Stelle über die Bühne ging. Das sei der Moment gewesen, an dem bei Habakuk die Alarmglocken sehr laut geschrillt hatten. Diese Marktschreier-Attitüde war absolut unseriös und auch nicht üblich; eine historische Bratsche wurde ja nicht plötzlich schlecht, wenn sie es die letzten 300 Jahre nicht geworden war; das war bei einer Kopie nicht anders. Außerdem bekam kein normaler Orchestermusiker eine sehr, sehr ordentliche fünfstellige Summe von heute auf morgen abrufbar von seiner Bank – das hatte Steinmüller mit Sicherheit gewusst. Habakuk hatte deshalb auf einem hieb- und stichfesten Kaufvertrag bestanden.

      Anna, die ihm bis hierhin mehr als gebannt gelauscht hatte, pflichtete ihm bei. So etwas sei absolut merkwürdig und man müsse sich da absichern.

      Der Kaufvertrag war aufgesetzt worden, Finanzierung, Zahlung und Übergabe vereinbart. Ende der kommenden Woche sollte alles über die Bühne gegangen sein. Morgen hätte er noch einen Termin bei der Versicherung gehabt, denn die Versicherung des Gewandhausorchesters war weder an einem Zweitinstrument noch an einer Bratsche in diesem Wertsegment besonders interessiert. Doch auch Habakuks persönlicher Versicherungsvertreter war argwöhnisch und etwas überfordert und wollte sich mit der Zentrale beraten, weswegen der Termin erst morgen hätte stattfinden sollen.


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