Leipziger Mörderquartett. Tatjana Böhme-Mehner
Читать онлайн книгу.Schmiedinger und bitte alle, so lange im In-and-Out zu bleiben, bis die Kollegen in Uniform die Personalien zum Zwecke etwaiger Zeugenbefragungen erfasst haben. Man möge ihnen gleich einige Fragen beantworten, das sei wichtig bei einem so dramatischen Unglücksfall, weil jetzt die Eindrücke noch frisch und unverfälscht seien.
Was sollte Anna gesehen haben? So traurig es war … Licht aus … Licht an … Scheinwerfer ab. Anna wurde langsam wieder Anna, und die hatte heute endgültig die Nase voll. Mehr Pietät machte den armen Thorsten Steinmüller auch nicht mehr lebendig. Anna wollte nur noch nach Hause. Den Terrassenplan hatte sie längst gestrichen – immerhin wartete das Publikum im stickigen In-and-Out mittlerweile schon so lange, dass man zwei Akte von Wagners »Götterdämmerung« hätte hören können.
6
Wenigstens saß Anna dicht an der Tür, vermutlich würden die Befrager dort anfangen. Ein Gedanke, der sich als der nächste Irrtum erwies, denn die Polizisten arbeiteten sich vom Podium nach außen. Es dauerte eine weitere Stunde, bis Anna artig ihren Ausweis zeigte und zu Protokoll gab, was sie wahrgenommen hatte – also nicht viel. Dass der unselige Steinmüller aus dem Leben geschieden war, ohne eine Chance zu bekommen, den fatalen Bratscherfehler durch eine nachfolgende musikalische Leistung zu relativieren, tat ja hier nichts zur Sache. Das würde nicht einmal Platz in einem Nachruf finden, denn in solchen Texten wurde nicht über Fehler des Verstorbenen geschrieben.
Die junge Uniformträgerin dankte – wie oft sie sich wohl an diesem Abend immer wieder dasselbe anhören musste? Am Ende interessierte sich nur noch die Versicherung dafür, falls das In-and-Out eine solche hatte. Der Club war an diesem Abend in der Gunst der Kritikerin keinesfalls gestiegen. Das ziemlich spießige Klischee von Oberflächlichkeit und Nachlässigkeit solcher Clubs, das Anna wie auch immer entwickelt hatte, wurde an diesem Abend noch verstärkt.
Bevor sie gehen durfte, stellte die Polizistin noch eine Frage – was das auf Annas Kleid sei. Der Rotwein. Den hatte Anna fast vergessen. Sie rang sich zu einer absurden Erklärung durch, weil es ihr zu dämlich erschien, zu sagen, dass ihr ein Mensch namens Habakuk C. Brausewind ohne Vorwarnung Rotwein übers Kleid gegossen hatte. Blödsinn! Niemand gab eine Vorwarnung, bevor er einem Rotwein übers Lieblingskleid schüttete. Gut, dass sie das nicht gesagt hatte!
Die Polizistin machte sich eine Notiz, während Anna ihren Schritt endlich Richtung Tür lenken konnte. Langsam leerte sich der Saal. Kraftlos schlichen die unfreiwilligen Zeugen eines bizarren Unglücks von dannen.
Da hörte Anna in ihrem Nacken deutlich den eigenen Namen. Die Stimme kam ihr bekannt vor. Eine gefühlte Ewigkeit, aber eigentlich nur knapp drei Stunden war es her, dass sie die feucht-anregende Bekanntschaft dieses Herrn gemacht hatte. Habakuk C. Brausewind – die Lautfolge entlockte Anna ein müdes Lächeln.
»Anna, ich darf doch Anna sagen? Würden Sie so freundlich sein …«
Den Rest nahm Anna nicht mehr wahr, denn gerade wurde der Metallsarg an ihnen vorbeigetragen. Das hatte sie bisher nur im Fernsehen oder auf Fotos gesehen, die die Redaktionstische anderer Ressorts zierten. Unweigerlich dachte sie an ihr Vergehen: Sie hatte die eigene Redaktion nicht informiert! Keine gute Werbung für eine Journalistin. Fragend starrte sie Habakuk an, der sich höflich zu ihr herunterbeugte.
»Ihre Karte. Wegen der Reinigung. Ich will den Schaden wiedergutmachen.«
Reflexartig zog Anna ihre Visitenkarte aus der Tasche und gab sie Habakuk – lächelnd, aber abwesend nickend. Sie wollte einfach nach Hause.
7
Es war das Brodeln des Wasserkochers, das Anna aus ihren Gedanken riss. Nicht das erste Mal an diesem Sonntagmorgen. Schon die vierte Tasse Klarer-Kopf-Tee sollte ihr helfen, einen roten Faden für ihren Text zu finden. Diesen Faden musste sie haben, bevor sie Kramer zurückrief. Der hatte den Rückruf mittlerweile neunmal auf ihrem Anrufbeantworter eingefordert. Viermal bereits gestern Abend. Nein, sie hatte weder gut noch lange geschlafen.
Als sie sich aus dem In-and-Out geschleppt hatte und endlich eine riesige Brise Frischluft schnappen wollte, hatte ihr die Signalfunktion ihres Handys unmissverständlich klargemacht, dass hier draußen das Leben weitergegangen war. Sieben neue Nachrichten; das war auch für die Journalistin eher ungewöhnlich, noch dazu um diese Uhrzeit. Zweimal ihre Mutter, seit vier Tagen hatte Anna vergessen, sie davon in Kenntnis zu setzen, dass sie noch lebte, es ihr gut ging und sie viel zu tun hatte. Einmal die automatische Ansage vom Sushi-Laden, der sie freundlich darauf aufmerksam machte, dass sie den einzigartigen Gutscheincode für treue Kunden durch Nichtstun aufs Spiel setzte. Zwei Maki gratis seien bald verloren. »Nur noch bis Happy Wednesday!«, hatte die Ansagestimme mit ihrem asiatischen Akzent gesagt. Ob man die Akzente von Chinesen, Koreanern, Japanern, Vietnamesen im Englischen oder Deutschen eigentlich genauso unterscheiden konnte? Schließlich erkannte Anna auch am Akzent, ob sie es mit einem Italiener, Franzosen oder Engländer zu tun hatte. Ob ihr Gutschein tatsächlich von einem Japaner kam? Im Moment wohl ihr geringstes Problem …
Die Frischluft hatte Annas graue Zellen wieder in Gang gebracht und sie hatte sich entschlossen, über die Verwendung des Gutscheins zu entscheiden, falls sie nächste Woche ihren Job noch haben würde. Die anderen vier Anrufe waren nämlich von Kramer gewesen. Andreas Kramer, Ressortleiter Kultur beim »Täglichen Anzeiger«. Normalerweise war das Oberhaupt des hiesigen Feuilletons entspannt, ein Allrounder ohne spezielles Fachgebiet; er konnte zu allem etwas sagen – Literatur, Theater, bildende Kunst. Ein bisschen auch zur Musik, aber da überließ er Anna gern das Feld und vertraute dem aus einem langen Musikwissenschaftsstudium erwachsenen Spezialwissen, das er hin und wieder gern monierte, weil man an den Leser denken müsse und nicht jeder die Lebensdaten von Beethoven auswendig kenne. Zeitgemäßer, spannender Journalismus war sein Schlagwort im Schlepptau von Chefredakteur Schrottheimer, der, wie aktuell unter Chefredakteuren nicht ungebräuchlich, von Spezialwissen recht wenig hielt. Genau wie von kleingliedriger Ressortstruktur und der Versorgung von kaum anzeigenrelevanten Minderheiten. Mit Anna persönlich hatte jedoch keiner der beiden ein Problem, und deshalb hatte die Musik noch immer ihren Platz im »Täglichen Anzeiger«. Auch Anna kam mit beiden klar. Bis jetzt. Denn Anna wusste, dass man sich mit Mitte 30 einen solchen Anfängerfehler nicht leisten konnte. Da machte es wenig Sinn, sich mit den ungewöhnlichen Umständen des gestrigen Tages herauszureden. Fehlende Professionalität wäre das Geringste, das man ihr vorwerfen würde.
Kramers erster Anruf hatte noch besorgt geklungen. Wie Anna es vermutet hatte, hatten die Lokalen den Polizeifunk ausgeschlachtet. Harald, gewiefter Lokalreporter, der die Nase bei der Nachrichtenbeschaffung gern nicht ganz ethisch einwandfrei vorn hatte, hatte bei Kramer angerufen, um zu erfahren, ob der »da jemanden drin« habe. Zu diesem Zeitpunkt war nicht klar gewesen, was »da drin« passiert war. Man hatte aber mitbekommen, dass ein Großaufgebot an Polizei, THW und Rettungswagen auf dem Weg zum In-and-Out war. Daraufhin hatte Andreas Kramer, durchaus besorgt um seine Mitarbeiterin, zum Hörer gegriffen. Beim vierten Anruf des Abends – es war inzwischen nach draußen gedrungen, dass man bei diesem Konzert nicht versucht hatte, die Kritikerin zu meucheln – war der Chef eher konsterniert gewesen. Man hätte wenigstens die Internetausgabe, die es auch am Sonntag gab, mit einem kleinen Bericht direkt vom Geschehen verzieren können. Dafür sei es nun zu spät. Anna hatte die drei Fragezeichen in seiner Stimme gehört, und weil sie nicht gewusst hatte, was sie sagen sollte, verschob sie den Rückruf seit gestern Abend.
Gestern hätte sie noch sagen können, dass im In-and-Out kein Empfang … dass die Ordnungskräfte … Aber mittlerweile, zehn Stunden später, war das nicht mehr möglich. Sie konnte sich bestenfalls herausreden mit notwendigen Recherchen und einer einzigartigen Erkenntnis, die eben Zeit brauche. Und die noch nicht gefunden war, doch das würde sie für sich behalten.
Kurz und gut: Anna Schneider hatte ein Problem. Sie scrollte durchs Internet, fand aber nichts, was sie nicht selbst schon gewusst hätte. Die Veranstalter drückten tiefstes Bedauern aus, von den drei verbliebenen Musikern war keine Stellungnahme zu erhalten. Nichts Überraschendes also. Sie musste irgendetwas anderes finden. Auf jeden Fall verbot es sich, über die vorher stattgefundene Musikdarbietung zu schreiben, vor allem angesichts der streitbaren Qualität. Noch eine Tasse Klarer-Kopf-Tee? Das brachte wohl auch nichts,