Am Ende des Schattens. Andreas Höll

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Am Ende des Schattens - Andreas Höll


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dem Taschentuch über die Stirn, knöpfte das verschwitzte Hemd bis auf den obersten Knopf zu und versuchte, sich in Form zu bringen.

      Zu seinem Erstaunen entdeckte er Louis Brody an einem Tischchen in der Nähe des Tanzparketts. Dieses Mal war er nicht von Bewunderinnen umringt, sondern sein Kollege Willy Fritsch saß neben ihm und prostete mit seinem kussmundhaften Filmschauspielerlächeln in die Runde. Dolphin konnte auch William Thomson erkennen, einen massigen Boxer, der es als schwarzer Champion aus Dänisch-Westindien zu einiger Bekanntheit gebracht hatte und sich von Zeit zu Zeit im Romanischen Café sehen ließ.

      Nun erhob Brody das Wodkaglas. In perfekter Synchronisation legten die Tischgenossen die Köpfe in den Nacken und richteten sich nach einer Kippbewegung wieder auf. Ihre Sommeranzüge, die Bühnenscheinwerfer in Rosa tauchten, harmonierten ebenfalls, und es schien, als seien sie sich selbst genug, sodass Dolphin nicht einmal den Versuch unternahm, hinüberzuwinken.

      Er wartete auf seinen Kollegen André Fürstenau von der Vossischen Zeitung, der ihn zum Essen eingeladen hatte. Das sah ihm ähnlich. Es ging ihm nie um das Essen selbst. Er war ein Mann mit einer Mission.

      Dolphin saß in seiner Nische und beobachtete das Trio, wie es scherzte, trank, Blinis und Kaviar vertilgte.

      Fürstenau hatte wenig Sinn für die Welt des Films, ganz zu schweigen von der des Sports. Für ihn waren das im Grunde läppische Freizeitvergnügungen. Stattdessen hatte er sich wieder, wie er mit einem mokanten Lächeln zu sagen pflegte, in die Rittmeistersache verbissen.

      Im Mittelpunkt seiner Recherchen, die sich, ausgehend von den altbekannten Fakten, ins Reich verschiedenster Hypothesen hinaufschraubten, befand sich Rittmeister Curt von Westphal, der einstmals zu den auffälligsten Figuren im Parlament gezählt hatte. Sein Ruf verdankte sich einer eigentümlichen Mischung aus Realpolitik und Spleen: einerseits machtbewusster Reichstagsabgeordneter mit exzellenten Verbindungen zum Reichskunstwart bis hin zum Innenminister, zum anderen promovierter Musikwissenschaftler mit einem abseitig anmutenden Faible für den Jazz. Laut amtlicher Diagnose hatte er vor zwei Jahren, aus Gründen, die sich nie zufriedenstellend klären ließen, Hand an sich gelegt. Sein Leichnam, vergiftet von einem Cocktail aus Barbitursäure und Alkohol, war in einem Stundenhotel in Spandau aufgefunden worden. Trotz allerlei Merkwürdigkeiten wurde der Fall rasch zu den Akten gelegt, einzig Fürstenau hegte Zweifel an der Selbstmordthese, was sich für Dolphins Begriffe so langsam zu einem Tick steigerte.

      Wo andere ein unbeschriebenes weißes Blatt Papier sahen, bemerkte Fürstenau mikroskopische Flecken, seien es Spuren von Radiergummi oder einer Rasierklinge, mit der womöglich ein getuschtes Geheimzeichen entfernt worden war, und es sah aus, als verliere er sich immer mehr in diesen Kalligrafien des Verschwindens.

      Rund herum im Lokal zweifelte niemand. Alles war, was es schien. Und das Einzige, was hier verschwand, war der Wodka in den Kehlen. Doch wo zum Teufel steckte Fürstenau?

      Nach einer Weile erschien Natascha Sirina, die Patronin der Babuschka Bar, und servierte Wodka nebst Brot und einem Schälchen Kaviar. Sie lächelte ihn an und fragte: »Noch immer nicht da?«

      Er schüttelte den Kopf. Trotz der Hitze hatte sie sich wie gewöhnlich als russisches Großmütterchen mit Kopftuch und Schürze ausstaffiert, und diese Berufsuniform schuf einen reizenden Kontrast zu ihren Apfelbäckchen und der straffen Figur, die sich unter den Stoffschichten abzeichnete.

      Etwas abseits von Brodys Tisch kam plötzlich ein Mann ins Bild. Als er von einem Scheinwerfer aus dem Halbdunkel ausgeschnitten wurde, zuckte er kurz zusammen, hob reflexhaft die Hand vors Gesicht, ließ sie sinken, als habe er sich dadurch eine Blöße gegeben, schaute sich um und verfolgte dann missmutig den Lichtkegel beim Weiterwandern.

      Dolphin blickte auf die Uhr. Das akademische Viertel war längst vorbei.

      Von einem »langsamen Hinübergleiten in den Tod, infolge einer Überdosis eines früher weitverbreiteten Schlafmittels«, hatte der Gerichtsmediziner gesprochen, bei jener eilig einberufenen Pressekonferenz nach dem Ableben des Rittmeisters. Sie nahm Züge einer Haupt- und Staatsaktion an, und Journalisten von überall her drängelten sich neben Dolphin in einem Kellerraum des Reichstags.

      Die Todesursache war zweifelsfrei geklärt, nicht so das Motiv. Vor allem der Zeitpunkt warf Fragen auf, fiel doch der Selbstmord in eine Phase erbittertster Auseinandersetzungen zwischen der Republik und den immer stärker werdenden Nationalsozialisten. Und ausgerechnet eine Woche, bevor in Frankfurt am Main der weltweit erste Studiengang für Jazz unter Leitung eines ungarischen Juden die Arbeit aufnahm, war er aus dem Leben geschieden. Die völkische Presse triumphierte. Für sie war Curt von Westphal der Inbegriff all dessen, was hassenswert war an dem verjudeten System. Vor allem aber galt er ihr als Wegbereiter der entarteten Kunst. Ehrabschneiderische Kampagnen waren Teil eines Kulturkampfs, der schon lange tobte und Monate vor Einrichtung der Jazz-Klasse zu einem Schlagabtausch im Preußischen Landtag führte. Damals stellte ein Abgeordneter der Deutschvölkischen Freiheitspartei die Frage, ob die Regierung bereit sei, »die Verniggerung deutscher Musik durch dieses Konservatorium zu verhindern, und wie sie gedenkt, die Schülerschaft vor den Erziehungskünsten des triebhaft undeutschen Lehrers zu schützen«.

      Der Rittmeister hatte maßgeblich dazu beigetragen, die Akademisierung der angefeindeten Negermusik durchzusetzen, am traditionsreichen Hochschen Konservatorium, das einst Clara Schumann und Engelbert Humperdinck zu seinen Lehrern zählte, doch am Ende konnte er die feierliche Eröffnung nicht mehr erleben.

      Auf der Pressekonferenz hatte das nur am Rande eine Rolle gespielt. Bald ging es nur noch um von Westphals Aktenkoffer, über dessen Verbleib der leitende Kommissar aus ermittlungstaktischen Gründen keine Angaben machen wollte. Und dann war alles im Sande verlaufen. Nur Fürstenau hörte noch immer die Sandflöhe husten, doch der ließ ihn warten.

      Wieder streifte ein Scheinwerfer das Gesicht des Mannes. Er hatte helles Haar, das in dünnen Strähnen nach hinten gekämmt war, und ebenso helle, wimpernlose Augen. Widerwillig ließ er das Lichtspiel über sich ergehen, als müsse er die Berührungen einer Fliege ertragen. Die abrupte Art, wie er schließlich emporschnellte, um das Jackett abzulegen, hatte etwas Sprungfederartiges, das Dolphin irgendwoher bekannt vorkam. Jetzt stand er aufrecht und schien mit einem Mal bedeutend kleiner als im Sitzen. In weißem Hemd und Hosenträgern, die seinen sehnigen Oberkörper betonten, stand er da und schaute verstohlen hinüber zum Nebentisch, bevor er sich auf den Stuhl fallen ließ.

      Als Natascha noch ein Schälchen Kaviar brachte, erhob sich schräg gegenüber Louis Brody und brachte, offenbar sehr zur Erheiterung von Willy Fritsch, einen Toast aus, dessen Pointe schließlich auch den Schwergewichtler erreichte und seinen Brustkorb stoßweise vibrieren ließ.

      Dolphin musste an Ella denken. Was würde sie dafür geben, hier zu sein. Mit ihr hatte er Die Boxerbraut im UFA-Theater gesehen. Brody spielte, umschwärmt von Frauen, die Rolle des berühmten schwarzen Boxers Fighting Bob. Den Kontrapart gab Willy Fritsch als verträumter Fabrikantensohn Fritz Spitz, dessen Verlobte Helen ihm jedoch auf den Kopf zusagt, sie werde nur einen Boxchampion heiraten, worauf es Fritz mit einem Schwindel versucht und sich ihr gegenüber als Fighting Bob ausgibt.

      Wie hatte Ella sich über das pechschwarz angemalte Gesicht von Willy Fritsch amüsiert, die schwarzlockige Perücke und die muskulöse Gestalt, nachdem er sich einen aufblasbaren Bizeps umgeschnallt hatte. Und sie hatte sich zu Dolphin herübergebeugt und ihn geküsst, als am Ende der Schwindel aufflog und Helen plötzlich von ihrer Boxleidenschaft wie von jener für schwarze Männer geheilt war und mit ihrem Verlobten im Schlafzimmer verschwand.

      Dolphin überlegte, ob er Ella anrufen sollte. Dann verwarf er es. Es würde sie zu sehr verletzen. Er strich mit dem Zeigefinger über den Rand des Wodkaglases und steckte ihn, als wolle er den Geschmack prüfen, in den Mund.

      Aus dem Gewühl tauchte Natascha auf und steuerte den Tisch des Trios an. Unter großem Gebalze bezahlte Fritsch die Rechnung und verschwand mit seinen Zechkumpanen.

      Natascha schaute ihnen nach, drehte sich plötzlich um und nickte Dolphin kurz zu. Er hob das Glas und zwang sich dann, den Blick abzuwenden. Fürstenau schien in einer unklaren Beziehung zu ihr zu stehen, die immer unklarer wurde, je öfter er


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