Am Ende des Schattens. Andreas Höll

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Am Ende des Schattens - Andreas Höll


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wenn aus ihrem Mund slawische Vokale und Kaskaden von gerollten Rs strömten. Doch Fürstenau und die Frauen, das war ein eigenes Kapitel. Dolphin musste lächeln. Einmal hatte er Fürstenau bei einem Bekannten unterbringen müssen, als der von seiner eifersüchtigen Ex-Frau verfolgt wurde. Sie konnte ihm nicht glauben, dass seine einzige Leidenschaft die Arbeit war. So war sie auch nicht von dem Verdacht abzubringen, dass er viele Liebhaberinnen hatte, und diese Besessenheit führte letztlich zu seiner Flucht.

      Diese Episode hatte beide Reporter, trotz aller Peinlichkeit, miteinander verbunden. Das Seifenopernhafte konnte indessen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Fürstenau ein hartnäckiger Rechercheur war, der mitunter beträchtliche Risiken auf sich nahm, um tatsächliche Skandale aufzudecken, oder Vorgänge, die er für solche hielt. Mit konventionelleren Tugenden wie Rücksichtnahme oder Pünktlichkeit dagegen konnte er wenig anfangen.

      Es war seltsam, plötzlich den Gegenstand seiner Gedanken vor sich zu sehen. Wie üblich klopfte er ihm zur Begrüßung viel zu stark auf die Schulter, in jenem linkischen Überschwang, der, ohne es zu wollen, gleichsam Distanz schuf, rutschte auf die Holzbank gegenüber und erzählte von seinem Besuch bei Bettine von Westphal.

      »Warum die Witwe?«, fragte Dolphin.

      »Wer, wenn nicht sie«, entgegnete Fürstenau und winkte eine Kellnerin heran, um eine Flasche Mineralwasser zu bestellen. Ohne sie ein einziges Mal anzuschauen, machte er ihr im gleichen Atemzug klar, dass er keinesfalls Wodka wünsche, weder als Aufmerksamkeit des Hauses noch seitens alkoholisierter Damen an etwaigen Nebentischen. Er habe zu arbeiten, und fürs Erste genüge ihm Wasser und ein Teller Borschtsch. Als er seinen Kollegen fragend anschaute, bestellte Dolphin sich Blinis.

      Nachdem sie alles notiert hatte, drehte sie sich auf dem Absatz um und kreuzte für einen Moment den Weg des Mannes. Er hatte eine junge blonde Frau im Schlepptau und strebte der Tanzfläche zu. Er war nur wenig größer als sie. Doch in der Art, wie er sie um die schmale Taille fasste, sie an sich presste und die Arme um sie schlang, lag eine mühsam kaschierte Aggression, die Dolphin gleichermaßen abstieß und erregte. Die Blonde war nicht willfährig, im Gegenteil. Ihre Widerspenstigkeit schien Teil des Spiels zu sein. Sie löste ihre Arme aus der Umklammerung und schob ihn weg. Nur kurz duldete er den Befreiungsversuch, und wieder hielt er sie umklammert, bis sie sich wie ein störrisches Kind beruhigte.

      Ohne den Borschtsch und das Wasser auch nur anzurühren, erzählte Fürstenau, wie aufgeräumt und zugleich kämpferisch Bettine von Westphal gewirkt habe. Sie wollte endlich jenen Falschmeldungen und Verleumdungen entgegentreten, die nach dem Tod ihres Gatten zunächst in den völkischen, dann aber auch den liberalen Blättern verbreitet worden waren. Sie habe Fürstenau in ihrer Wannseevilla, übrigens nur einen Steinwurf weit entfernt vom liebermannschen Anwesen, mit selbst gebackenem Apfelkuchen und ihrer Tochter Clara auf dem Schoß empfangen, fest entschlossen, ihr Schweigen zu brechen und für die Rehabilitierung ihres Gatten zu kämpfen.

      Fürstenau trank einen Schluck Wasser und wirkte erschöpft. Die Blonde drehte sich in den Armen des Mannes. Es sah aus, als wolle er sie in einem diffizilen Ritual unter Kontrolle bringen, wenn er sie mit schleichenden Bewegungen einlullte, um sie dann mit einem Hüftschwenk zu überrumpeln und zum Rande des Parketts zu führen, wo er geschmeidig, als absolviere er einen Slalom, um die Sektkühlerständer herumtanzte. Und bei all diesen Manövern hatte er seine Lippen an ihrem Ohr und redete die ganze Zeit auf sie ein.

      »Das Problem ist nur«, sagte Fürstenau und seufzte, »dass die Witwe erst jetzt an die Öffentlichkeit gehen will.« Unmittelbar nach Westphals Tod sei sie wie gelähmt gewesen, außerstande, die Fragen des Kriminalkommissars zu beantworten, geschweige denn der Presse gegenüber jene Gerüchte zu widerlegen, nach denen ihre Ehe zerrüttet gewesen sei. Nach Fürstenaus Schilderungen war sie mit der gerade geborenen Clara und ausdrücklicher Unterstützung ihres Gatten in ihr Elternhaus gezogen, um sich dort von den Strapazen der Geburt zu erholen. Und der besuchte sie, sooft es seine Pflichten zuließen, glücklich wie selten zuvor, als zugegebenermaßen später, aber desto zärtlicherer Vater, schloss Fürstenau und schickte, wie das Zitat eines Zitats, ein zerstreutes Lächeln hinterher.

      Der Tänzer flüsterte noch immer in das Ohr seiner Partnerin. Andere Paare waren auf das Parkett geströmt und verdeckten sie für einen Moment. Es mussten aufregende Dinge sein, welche die junge Frau zu hören bekam. Dinge, die Dolphins Fantasie entzündeten. Das Funkeln in ihren Augen. Reflexe einer unbestimmten Lust, gipfelnd in einem Aufschrei, worauf er mit dem Daumen über ihre Unterlippe strich, was unglaublich obszön aussah. Sie ließ es über sich ergehen, den Mund geöffnet, und Dolphin sah eine Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen, die ihn seltsam berührte.

      Fürstenau redete und redete. Der Haken an der ganzen Geschichte sei, und jetzt hob er die Stimme, dass die Westphals eine, sagen wir mal, sehr moderne Auffassung des Ehelebens vertraten. Bettine habe ihm seine Freiheiten gelassen, von Anfang an, wie sie freimütig erklärte. Er war ein richtiger Mann und mochte junge Dinger, er holte sich dort den Appetit, aber immer wieder sei er zurückgekommen. Doch ein schlagendes Argument, murmelte Fürstenau, habe die Witwe vorgebracht. Wenn er sich schon umbringen wollte, dann sicher nicht in einem Stundenhotel, das hätte er weder seiner Familie noch sich selbst zugemutet. Wenn, dann wäre der Abgang mit Würde erfolgt, mindestens im Adlon.

      Sie waren untergetaucht in einem Gewirbel aus Köpfen, Rücken, Armen. Jetzt sah er den Mann, wie er ihren Nacken knetete. Sie krümmte sich, starr wie eine Katze.

      »Was willst du tun?«, fragte Dolphin, um etwas zu sagen, und schaffte es doch nicht, sie aus den Augen zu lassen. Fürstenau schwieg, was erstaunlich war. So müde hatte er ihn noch nie erlebt.

      Sie duckte sich weg, als ein kostümierter Kosak auf die Tanzfläche stürmte und mit zackigen Kommandos eine Polonaise anführte. Irgendwie rutschte dabei ihr blonder Haarschopf nach vorne, bis auf die Nase, während der Mann feixte und lachte, bis sie ihn wütend von sich stieß und die Frisur geraderückte. Als er ihr gleich darauf mit spöttischer Miene durch das Haar fuhr, sah es einen Augenblick lang aus, als wolle sie ihm ins Gesicht schlagen. Doch dann rauschte die Polonaise durch das Bild und sie gingen im Getümmel unter.

      »Hörst du mir zu«, knurrte Fürstenau, »hier bin ich«, sagte er und wedelte mit den Händen, »hier, Herr Dolphin.«

      Er nickte und zwang sich, Fürstenau anzuschauen.

      »Ich werde«, sagte er nun grimmig entschlossen, »nicht lockerlassen, bis der Fall neu aufgerollt wird.« Westphals Ehe sei eigenartig, aber nicht zerrüttet gewesen. Und der Rittmeister war keinesfalls der Typ, der vor den Nazis in die Knie gegangen wäre, mochten noch so viele Morddrohungen in seinem Briefkasten gelegen haben. Jemand musste das sehr geschickt inszeniert haben, das sage ihm sein Instinkt. Und wenn es kein Suizid war, dann wanke die Republik.

      Eher pflichtschuldig und ohne rechte Energie wollte Dolphin widersprechen, doch die Kellnerin erlöste ihn und schenkte Wodka nach, während Fürstenau demonstrativ die eine Hand über das Glas hielt. Mit der anderen schaufelte er einen letzten Löffel Borschtsch in sich hinein, schob den Teller weg und bezahlte. Dann drängte er zum Aufbruch und wollte wissen, ob er ihn mitnehmen solle. Dolphin schüttelte den Kopf. Er deutete auf sein Wodkaglas. »Bleib sauber«, murmelte Fürstenau und verschwand.

      Auf dem Weg zur Toilette kam Dolphin an einer Vitrine vorbei. Sie schwankte ganz leicht. Umrahmt von gläsernen Regalböden multiplizierten sich zahllose Matroschkas in den Spiegeln. Natascha bot die Puppen zum Verkauf an. Sie kamen noch immer aus Russland, das ihrer Familie so übel mitgespielt hatte. Die Farben, das Birkenholz, die Erinnerung an den Geruch des Frühlings, das alles speicherte die Heimat wie in einer Kapsel. Und wenn auch die äußere Hülle zerstört wurde, gab es eine weitere, die die nächste beschützte, und so gab es die Hoffnung, dass wenigstens der innerste Kern, der nichts mehr enthielt, unzerstört bleiben würde.

      Das Heimweh war ihre Ressource. Er mochte den Gedanken. Es glich der Unendlichkeit in der Vitrine. Sein Heimweh, wenn man es überhaupt so nennen konnte, war komplizierter. Er lebte dort, wo er geboren und aufgewachsen war. Er sprach wie alle anderen, doch die Erinnerung an etwas, was er nie richtig kennengelernt hatte, schob sich dazwischen. Seinem Britischsein haftete etwas Theoretisches, Angelerntes an, und deswegen hatte er das Bedürfnis,


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