Am Ende des Schattens. Andreas Höll
Читать онлайн книгу.dass diese Tinkturen gewisser Schönheitsinstitute ebenso haltbar seien wie deutsche Anilinfarben. Die neue Modefarbe ist garantiert waschecht. Fett fleckt nicht darauf ab, geküsste Stellen werden nicht blasser, sogar Rotwein kann von dem braunen Crêpe de Chine spurlos entfernt werden, ohne Zitrone oder Kleesalz, also ohne Gefahr, Löcher zu hinterlassen.
Wider Erwarten amüsierte es ihn. Die Techniken der Schönheit im Chemiezeitalter. Er zückte sein Notizbuch und füllte etliche Seiten, ohne den Stift abzusetzen.
Zur Belohnung öffnete er eine Flasche Champagner und las in seinen Notizen. So könnte es klingen, sein Berlin-Buch. Rasant, wie Fitzgeralds jazz age. Genießerisch kritzelte er in seinen Anmerkungen herum und leerte Glas um Glas, bis nervöse Schöpferlaune in Müdigkeit umschlug und er auf sein Sofa zusteuerte und sich zu einem Mittagsschläfchen niederlegte.
Es passte nicht zu Ella, dass sie darauf bestanden hatte, Dolphin im Sportpalast zu treffen, ebenso wenig, seinen Einwand, dort sei es viel zu laut, einfach in den Wind zu schlagen. Außerdem kam Ella, die Pünktliche, mit mehr als einer Viertelstunde Verspätung auf die Tribüne. Sie hielt eine Papiertüte wie ein Schutzschild vor der Brust.
Das Radrennen war in vollem Gange, seine Begrüßung ging im Getöse unter. Die Massen feuerten einen Spanier an, der um den Ring raste, mit der Zwangsläufigkeit einer Maschine schwangen seine Oberschenkel auf und nieder.
Ella sah gut aus in ihrem kornblumenblauen Mantel, der das volle blonde Haar zur Geltung brachte, doch sie wehrte ab, als er ihr beim Ablegen behilflich sein wollte. Ein Gürtel umschloss ihre Taille. Dolphin bot ihr, da er nichts anderes hatte, einen Schluck Berliner Weisse an, worauf sie angewidert den Kopf schüttelte.
Er machte ihr ein Zeichen, dass er gleich zurück sei, und ging in Richtung des Getränkeausschanks. Als er zurückkam, war sie verschwunden. Auf seinem Sperrsitz lag eine Tüte vom Kaufhaus Wertheim. Er fand ein Kuvert und eine Schachtel darin. Im Briefumschlag kam ihm eine abgerissene Karte des UFA-Theaters in der Friedrichstraße entgegen. Das indische Grabmal. Er stieß auf weitere Kinobilletts der letzten Monate. Dann öffnete er den Karton. Darin stak eine fast volle Flasche Tabu.
Er schaute in das Flutlicht, das hinter einem Schleier aus Zigarettenrauch verschwand. Wie aus dem Nichts kam der Spanier angeschossen und wurde durch die Steilwandkurve katapultiert. Dann tauchte er wieder auf, in halsbrecherischer Schräglage, auf spiegelnder Bahn. Auch wenn es eine Ellipse war, man bewegte sich bloß im Kreis.
Als er kurz darauf auf die Straße trat, begann es zu schneien. Langsam segelten Flocken aus der Unendlichkeit der Wolkendecke herab. Gebannt schaute er nach oben. Er konnte den Blick nicht abwenden. Eine hypnotische Bewegung, von ganz weit oben hinab ins Bodenlose, wo sich das Bewusstsein in einem weißen Flimmern auflöst.
Er gab sich einen Ruck, trocknete mit einem Taschentuch die tränenden Augen und ging zum Auto. Nach einigen Versuchen gelang es ihm, den Motor zu starten, und vorsichtig fuhr er los, als spürte er noch die Langsamkeit der Flocken.
8
Am nächsten Morgen wurde er von einem Anruf des Kaiser-Wilhelm-Instituts überrascht. Professor Fischer war persönlich am Apparat und unterbreitete ihm das Angebot, seinen besten Doktoranden zu treffen. Leider sei er selbst verhindert, es würde ihm jedoch Vergnügen bereiten, wenn sein Promovend dem Korrespondenten des Standard die in der Fachwelt hoch gerühmte anatomische Sammlung zeige, zu der auch er, Fischer, sein Scherflein beigetragen habe, eine Sammlung mit teils aufsehenerregenden Präparaten, die von unschätzbarem Wert für die moderne Anthropologie sei.
Nachdem der Professor eingehängt hatte, kam Dolphin ins Grübeln. Hatte es Sinn, sich mit einem Subalternen zu treffen, dazu noch ohne Fotografen? Letzterer war bei dieser Thematik ohnehin unabdingbar, wenn es zu einer Titelgeschichte im Sunday Standard kommen sollte. Aber da gerade ein Interviewtermin im Reichstag geplatzt war, entschied Dolphin sich, zum Institut zu fahren.
Im weißen Kittel des Wissenschaftlers stand Hubert Bleichert schon vor dem Eingang, um ihn in Empfang zu nehmen. Lebhaft gestikulierend führte ihn der pausbäckige Mann die Treppen hinauf zum Dachgeschoss, wo sich die anatomische Sammlung befand. In dem Speicher lagerten, dicht gedrängt in Regalreihen, Tausende von Skeletten und Knochen, von denen viele aus dem damaligen Deutsch-Südwestafrika stammten, wie Bleichert stolz bemerkte. Dolphin wurde flau im Magen. Vielleicht lag es an der stickigen Atmosphäre, vielleicht an dem undefinierbaren Geruch mit einem Stich ins Modrig-Süßliche, der über allen Dingen lag. Um sich Luft zu verschaffen, musste er etwas sagen, und da ihm nichts Besseres einfiel, wollte er von dem Anthropologen wissen, wie diese Sammlung zustande gekommen sei.
Bleicherts Augen leuchteten. Er schien auf diese Frage gewartet zu haben und begann, vom früheren Direktor des Berliner Völkerkundemuseums zu erzählen, der kurz nach Niederschlagung des Hereroaufstands angeregt habe, ohne Erregung von Ärgernis, wie er sich ausdrückte, Leichenteile für die Wissenschaft zu retten. Und so sandten Forschungsreisende Schädel von verdursteten Herero an das Museum, die nach der Schlacht am Waterberg von den deutschen Schutztruppen in die Omaheke-Wüste getrieben worden waren, um dort den Tod zu finden. In einem anderen Fall, und jetzt trat Bleichert an das Regal heran und deutete auf gelbliche Knochenreste, handelte es sich um die Gebeine von Arbeiterinnen, die versucht hatten, der Farm eines deutschen Kolonisten zu entfliehen, und dementsprechend ihrer gerechten Strafe zugeführt wurden, und nachdem die Leichen als Corpus Delicti ans Obergericht in Windhuk gelangt waren, schickte sie die Kolonialverwaltung nach dem Gerichtsprozess zu Forschungszwecken nach Berlin.
Dolphin setzte der Geruch zu. Er griff nach seinem Taschentuch und hielt es sich vor die Nase. Unbeeindruckt davon fuhr Bleichert fort. Nur durch Unterstützung von Kolonialbeamten, Rassekundlern, Schutztruppenärzten und Missionaren sei es gelungen, noch in letzter Minute, ehe weitgehende Vernichtung und der Einfluss der modernen Kultur den ursprünglichen Sachverhalt weiter verwischten, die sterblichen Überreste für die Wissenschaft zu sichern. So erst konnte man, vor allem anhand von Schädelreihen, die Merkmale primitiver Rassen genauer bestimmen.
Als der Doktorand kurz innehielt, nutzte Dolphin die Unterbrechung, um auf seine Armbanduhr zu deuten und von einer unaufschiebbaren Telefonkonferenz mit London zu sprechen. Mit Bedauern nahm Bleichert dies auf und führte ihn hinunter zum Eingangstor.
Dolphin atmete tief durch. Er war froh, draußen auf der Straße zu sein, sog die Luft ein, den Geruch von Benzin und Braunkohle. Er sah Bleichert vor sich, mit geröteten Wangen, die sich beim Sprechen zu blähen begannen. Das fanatische Leuchten in seinen Augen, das einen unweigerlich abstieß, als seien Ideen alles und die Objekte seiner Wissenschaft nichts. Und Dolphin wusste nicht, wie er auf den Gedanken kam, der Forscher trage den Ausdruck eines Menschen auf dem Gesicht, der etwas gestohlen hatte.
Zurück im Büro erreichte ihn ein Anruf von Bakerfields Sekretärin, die einen Besuch des Verlegers in der Reichshauptstadt ankündigte. Schon morgen Nachmittag lande er auf dem Zentralflughafen und beabsichtige, im Hotel Adlon abzusteigen. Als Redaktionsleiter werde er gebeten, sich zur Verfügung zu halten.
Dolphin spürte, wie Nervosität in ihm aufstieg. Wie sollte er diese Visite deuten? Bislang hatte der Verleger sich noch nie im Berliner Büro blicken lassen. Kam er, um ihn womöglich noch früher abzuziehen? Oder ging es um die Themen kontinentaler Lebensart? Vielleicht wollte er auch nachschauen, wie weit die Recherche gediehen war. Im Moment verfügte Dolphin lediglich über die wenigen Informationen, die er sich stichwortartig bei den Gesprächen mit Fischer und Bleichert notiert hatte. Ohne ein weiteres Interview mit dem Institutsdirektor, ohne hochwertige Fotos von der Sammlung und eventuell auch historischen Aufnahmen aus Deutsch-Südwest, ergänzt durch aktuelle Auskünfte des Direktors des Völkerkundemuseums, konnte er die Titelgeschichte unmöglich publizieren. Und es gab noch nicht einmal den vereinbarten Folgetermin mit Fischer, der sich, wieder einmal, auf Reisen befand.
Für alle Fälle wies Dolphin die Sekretärin an, Kuchen zu kaufen, denn, so viel wusste er, der Lord liebte Süßigkeiten. Er selbst fuhr zum Kaufhaus des Westens, um dort Bakerfields Lieblingswhisky zu besorgen. Danach saß er lange in seinem Bürosessel, in das kahle Geäst vor seinem Fenster starrend, um vielleicht dort Klarheit zu finden, was dieser