Politische Ideengeschichte. Ralph Weber

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Politische Ideengeschichte - Ralph Weber


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unterschiedlichen Annahmen, eröffnet spezifische Möglichkeiten und impliziert spezifische Grenzen. Manche Analysestrategien eignen sich zum Beispiel zu ergründen, was Autoren gedacht haben oder was ihre Texte aussagen; andere erschließen, was ihre Texte mitteilen wollten, und wieder andere, welche Bedeutung die Texte vermittelt haben. Ein kritisches Bewusstsein über die Möglichkeiten und Grenzen unterschiedlicher Interpretationsansätze in der politischen Ideengeschichte zu erlangen ist nicht zuletzt deshalb nützlich, weil ein solches Bewusstsein vonnöten ist, um die Möglichkeiten des Machbaren auszureizen und um die Grenzen des Machbaren nicht zu ignorieren.

      Dieses Lehrbuch setzt sich zum Ziel, die Möglichkeiten und Grenzen grundlegender Interpretationsansätze in der politischen Ideengeschichte theoretisch zu bestimmen und praktisch zu illustrieren. Wir teilen nicht die Vermutung, dass ein Ansatz allgemein richtig ist und alle anderen inadäquat. Vielmehr gehen wir davon aus, dass Möglichkeiten auf Chancen zur Erkenntnisgewinnung hinweisen und Grenzen auf etwas, das mit wissenschaftlicher Redlichkeit nicht zu überschreiten gehofft werden darf. Insofern ein Ansatz derartige Möglichkeiten hat – und nur so weit – ist er notwendigerweise adäquat.

      Bevor wir zur theoretischen Darstellung und praktischen Anwendung der Interpretationsansätze übergehen, gilt es noch vorab zu klären, womit sich die Disziplin befasst und woran Interpreten überhaupt ansetzen, wenn sie Texte der politischen Ideengeschichte erforschen.

      Die Disziplin der politischen Ideengeschichte studiert die Geschichte der politischen Ideen. Was meint das genau? Fachvertreterinnen und Fachvertreter geben auf diese Frage sehr unterschiedliche Antworten. Grund dafür ist zunächst der Terminus der „Ideen“, der in seiner Bedeutung eine Bandbreite von einer mit metaphysischem Anspruch ausgestatteten Idee bis zu einem bloßen Gedanken aufweisen kann. Grob vereinfacht ausgedrückt hat sich die politische Ideengeschichte seit ihren Anfängen als selbstständige Disziplin immer weiter von einem starken Ideenbegriff verabschiedet. Ging man zunächst davon aus, dass über die Jahrhunderte hinweg dieselben Ideen gleichsam zeit- und ortsunabhängig verhandelt worden sind (in der deutschsprachigen Tradition paradigmatisch bei Meinecke, in der amerikanischen Tradition bei Strauss und bei Lovejoy), so werden diese – insoweit heute überhaupt noch von Ideen gesprochen wird – heuristisch oder im Sinn von „Motiven“ verstanden. Aller Unkenrufe zum Trotz ist es aber keineswegs so, dass stärkere Ideenbegriffe gar nicht mehr vertreten würden. Dies zeigt sich zum einen in systematischen Untersuchungen, die mehrere Schriften und Autoren versammeln und sie auf ein Problem hin analysieren oder die Entwicklung einer sich formierenden und ausdifferenzierenden Idee historisch nachzeichnen.3 Vielleicht wäre es aus dieser Perspektive betrachtet angemessener zu sagen, dass sich im Zuge einer disziplinären Weiterentwicklung eine Reihe weiterer Verständnisse neben dasjenige einer metaphysischen Idee gestellt haben, womit die Bezeichnung politische Ideengeschichte für viele zunehmend befremdender, in heutiger Zeit für einige gar schlicht anachronistisch geworden ist.

      Es erstaunt daher nicht, dass derzeit mehrere Bezeichnungen eine weitgehend deckungsgleiche Verwendung finden, so etwa „Geschichte des politischen Denkens“, „Geschichte der politischen Philosophie“, oder „Geschichte der politischen Theorie“. John Gunnell hat dementsprechend kürzlich festgestellt:

      Ob man von der Geschichte der politischen Philosophie, von der Geschichte der politischen Theorie oder von der Geschichte des politischen Denkens spricht, der Verweis zielt für gewöhnlich auf eine grundsätzlich gleiche fachliche Tätigkeit.4

      Die Bedeutungen dieser Bezeichnungen sind natürlich nicht vollends deckungsgleich. Jede Bezeichnung trägt eigene Konnotationen: „politisches Denken“ mag eine besondere Breite anzeigen, „politische Philosophie“ der Kanonisierung von „Klassikern“ Tribut zollen und „politische Theorie“ eine systematische Vorgehensweise mit besonderem Anspruch auf Gegenwartsrelevanz verbinden.5 Auch die Bezeichnung „politische Ideengeschichte“ trägt, wie wir gesehen haben, eine solche besondere Konnotation. Vereinfacht lässt sich sagen, dass die Bezeichnungen und Konnotationen den unterschiedlichen Gewichtungen, Fokussierungen, Interessen und Zielen geschuldet sind, mit denen die „grundsätzlich gleiche fachliche Tätigkeit“ im Rahmen der Fachdisziplinen der Politikwissenschaft, Philosophie und Geschichtswissenschaft betrieben werden.

      Wir sprechen in diesem Band durchgängig von „politischer Ideengeschichte“, ohne aber damit einer bestimmten Konnotation den Vorzug geben zu wollen. Vielmehr gebrauchen wir die Bezeichnung, die historisch der Disziplin ihren Namen gegeben hat, weil sie noch am Besten geeignet scheint, um das überlappende Feld der „grundsätzlich gleiche[n] fachlichen Tätigkeit“ abzustecken. Im Grunde rekurrieren wir auf eine geläufige Begebenheit. In Bibliotheken werden in der Regel Bücher in einem gemeinsamen Regal, z.B. unter der Rubrik „Einführungen in die politische Ideengeschichte“, versammelt, von denen manche einen systematischen Fokus auf Argumente, andere einen historischen Fokus auf klassische Autoren und Werke und noch andere den Fokus auf Diskurse legen. Aus der Perspektive, die diesem Band zugrunde gelegt ist, stehen diese drei Bücher mit Fug und Recht im selben Regal; sie könnten aber auch ohne Weiteres in drei verschiedenen Regalen auf Leserschaft warten, je eines z. B. im Fachbereich der Politikwissenschaft, der Geschichtswissenschaft und der Philosophie. Immerhin stützt man sich trotz der Kontroverse, ob es um „Ideen“, „Theorien“, „Denken“ oder „Denker“ geht, unisono auf die Termini „Geschichte“ und „Politik“.

      Das heißt nicht, dass es nicht auch zu den Termini der „Geschichte“ und „Politik“ viel Kontroverses zu berichten oder gar ganze Ideengeschichten zu schreiben gäbe.6 Beide Termini verhalten sich zur Disziplin in einem zirkulären Verhältnis, insofern neue Verständnisse von „Geschichte“ neue Wege, politische Ideengeschichte zu schreiben, ermöglichen und neue Verständnisse von „Politik“ (oder auch „des Politischen“7) den Gegenstandsbereich möglicher Objekte der Reflexion erweitern oder auch einengen. Wenn beispielsweise Karl Löwith seine Ausführungen in Weltgeschichte und Heilsgeschehen mit der Gegenwart beginnen lässt und sich sukzessive in die Vergangenheit vorarbeitet, dann begründet er dies zum einen didaktisch; zum andern ist das Vorgehen aber auch Ausdruck einer grundsätzlichen Neubestimmung des Historischen selbst.8 Oder wenn ein feministisches Politikverständnis, welches die Privatsphäre für politisch erklärt, neu artikuliert wird und Verbreitung findet, dann lassen sich neue politische Ideengeschichten schreiben. Sie fordern uns dann beispielsweise zur Berücksichtigung von Forschungen auf, die zuvor eher in der Sozialgeschichte (also außerhalb der politischen Ideengeschichte) verortet waren.

      Um theoretische Werkzeuge zu bergen und in Auseinandersetzung mit der Vergangenheit uns selbst besser zu verstehen, untersucht man in der politischen Ideengeschichte in der Regel Texte. Texte können aber recht unterschiedlicher Art sein. Welche Textarten zählen also zu den relevanten medialen Ressourcen des ideengeschichtlichen Studiums? Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts ist man immer mehr von einer restriktiven Antwort auf diese Frage abgekommen. Heute gilt es, Texte unterschiedlicher Formate und soziokultureller Herkunft zu berücksichtigen.

      Vom engen zum weiten Textbegriff

      Texte sind der Gegenstand der ideengeschichtlichen Reflexion, und zunächst finden wir diese in der Form von Büchern. Wir gehen in die Bibliothek, steuern das entsprechende Regal an und nehmen Aristoteles’ Politik oder Das kommunistische Manifest zur Hand. Texte der politischen Ideengeschichte finden sich in Monografien; dazu kommen Sammelbände, Zeitschriften und Zeitungen, in denen politische Denkerinnen und Denker ihre Artikel und Interviews veröffentlichen und viele weitere Textformate, die wir beim Gang in die Bibliothek leicht vergessen: Hannah Arendt hat ihr politisches Denken zu Teilen über Radiovorträge vermittelt, Michel Foucault und Noam Chomsky ihre philosophischen Differenzen in Fernsehsendungen verhandelt. Wichtige Einblicke in das politische Denken der Renaissance sind uns mit Gemälden gegeben. Claude Lefort sieht die aussagekräftigsten Texte für den ideengeschichtlichen Übergang vom Absolutismus zur modernen Demokratie gar in monarchischen Begräbniszeremonien.9


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