Politische Ideengeschichte. Ralph Weber
Читать онлайн книгу.1: Sexistische Sprache
Wäre es nicht gerade in einem Lehrbuch nötig, auf geschlechtsneutrale Sprache zu achten? Nicht alle Autoren der politischen Ideengeschichte waren Männer und auch nicht deren Adressaten oder Leser. Die standardmäßige Verwendung der männlichen Form suggeriert eine falsche Normalität. Umgekehrt kann eine geschlechtsneutrale Sprache über die faktisch vorherrschenden patriarchalen Verhältnisse hinwegtäuschen. Das Dilemma lässt sich nicht leicht umgehen. Im einen Fall laufen wir Gefahr, Studierende an eine sexistische Konvention zu gewöhnen. Im andern Fall würden wir einem idealisierenden Anachronismus erliegen, indem wir unser heutiges Selbstverständnis in die Vergangenheit projizieren.
Für uns ausschlaggebend war die Befürchtung, mit einer konsequent geschlechtsneutralen Sprache oder mit im Deutschen ungebräuchlichen Alternativen die Reflexion über Ansätze in der politischen Ideengeschichte zu erschweren. Wir haben uns daher in einigen Fällen des Schlüsselvokabulars für die Verwendung des generischen Maskulinums entschieden, ohne zu meinen, damit die richtige Lösung, oder auch nur die beste aller schlechten, gefunden zu haben.
1 Siehe z. B.: Ball, Terence. 1995. Reappraising Political Theory. Revisionist Studies in the History of Political Thought. Oxford: Clarendon, S. 5; Sontag, Susan. 2009. „Against Interpretation“. In: dieselbe, Against Interpretation and Other Essays. London: Penguin, S. 3–14.
2 Busen, Andreas und Weiß, Alexander. 2013. „Ansätze und Methoden zur Erforschung politischen Denkens: The State-of-the-Art?“. In: dieselben (Hg.), Ansätze und Methoden zur Erforschung des politischen Denkens. Baden-Baden: Nomos, S. 15–39.
3 Siehe z. B.: Kersting, Wolfgang. 2009. Die Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft; Riklin, Alois. 2006. Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
4 Gunnell, John. 2011. „History of Political Philosophy as a Discipline“. In: Klosko, George (Hg.), The Oxford Handbook of the History of Political Philosophy. Oxford: Oxford University Press, S. 60–72; hier S. 60.
5 Ottmann, Henning. 1996. „In eigener Sache: Politisches Denken“, Politisches Denken, Jahrbuch 1995/96: S. 1–9; Ottmann, Henning. 2001a. Geschichte des Politischen Denkens. Band 1/1: Die Griechen. Von Homer bis Sokrates. Stuttgart: Metzler, S. 1–6.
6 Für einen Klassiker, siehe: Collingwood, Robin George. 1994. The Idea of History. Oxford/New York: Oxford University Press.
7 Zum Unterschied zwischen Politik und dem Politischen, siehe: Röttgers, Kurt und Bedorf, Thomas (Hg.). 2010. Das Politische und die Politik. Berlin: Suhrkamp Verlag.
8 Löwith, Karl. 2004. Weltgeschichte und Heilsgeschehen: Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart: Metzler.
9 Lefort, Claude. 1988. Democracy and Political Theory. Cambridge: Polity Press.
10 Ottmann, 2001a, S. 2.
11 Siehe: von Rotterdam, Desiderius Erasmus. 1978. „Copia: Foundations of the Abundant Style (de duplici copia verborum ac rerum commentarii duo)“, übersetzt von Betty I. Knott, in: Collected Works of Erasmus: Literary and Educational Writings 2, hg. von Craig R. Thompson, Toronto: University of Toronto Press, S. 348–354.
12 Skinner, Quentin. 2009. Visionen des Politischen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 74–75.
13 Gadamer, Hans-Georg. 1990. Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr, S. 303.
Kapitel 1 Der analytische Ansatz: Am Beispiel des Federalist Paper Nr. 10
Der analytische Ansatz zur Interpretation von Texten der politischen Ideengeschichte – zuweilen auch Oxford Ansatz genannt – bedarf im Grunde nicht langatmiger Erläuterung. Er bezeichnet das, was wir ohnehin intuitiv tun zu müssen glauben, wenn wir uns einen Text nicht nur ansehen, sondern ihn wirklich studieren wollen. Anstatt das Geschriebene nur zu überfliegen und ein wenig in die Einleitung und den Schluss hineinzulesen, nehmen wir uns vor, genau zu betrachten, was die einzelnen Sätze des Texts besagen. Wir versuchen uns in die Lage zu bringen, den Text in eigenen Worten wiederzugeben, um dessen Inhalt uns selbst und anderen erklären zu können. Weil der analytische Ansatz vergleichsweise ebenso naheliegend wie theoretisch schlicht und praktisch einfach zu handhaben ist, findet er in Lehrbüchern wie Vorlesungen zur politischen Ideengeschichte (und Philosophie) nur selten Erwähnung.
Drei Gründe sprechen dennoch für eine systematische Darlegung des analytischen Ansatzes. Erstens kann nicht davon ausgegangen werden, dass jedem völlig klar ist, wie gemäß dem analytischen Ansatz genau vorzugehen ist. Zweitens erachten unseres Wissens alle heutigen Fachexegeten von Texten der politischen Ideengeschichte den analytischen Ansatz als defizitär und legen ihren Arbeiten andere Interpretationsansätze zugrunde. Die genaue Kenntnis des analytischen Ansatzes ist also auch deshalb wichtig, weil wir sonst nicht wissen können, welche Grenzen unserer intuitiven Herangehensweise an Texte gesetzt sind. Schließlich ist die Kenntnis des analytischen Ansatzes für die ideengeschichtliche Interpretationspraxis deshalb von Vorteil, weil er Analysestrategien bereitstellt, auf die fast alle anderen Ansätze trotz ihrer Ablehnung des analytischen Ansatzes in „Reinform“ in der ein oder anderen Weise doch zurückgreifen.1
Der analytische Ansatz versteht Textinterpretation nach seinen Maßstäben als eine recht bescheidene Aufgabe. Es sollen lediglich im Text befindliche Fragen, Thesen, Argumente, Theorien und Antworten identifiziert werden. Die Aufgabe der kritischen Prüfung, ob die im Text identifizierten Fragen, Thesen, Argumente, Theorien und Antworten funktionstüchtige politiktheoretische Werkzeuge und somit für uns relevant sind, wird vom analytischen Ansatz nicht übernommen. Er verrichtet nur die notwendige Vorarbeit dafür. Er unterzieht die Texte einer deskriptiven Analyse, um eine systematische Diskussion zu ermöglichen. Vereinfachend gesagt wird ein Text zu verstehen gesucht, indem zerlegt, sortiert und zusammengefasst wird, was Schwarz auf Weiß im Text geschrieben steht.
1. Zur Theorie des analytischen Ansatzes
Der analytische Interpretationsansatz ist theoretisch und in der praktischen Anwendung maßgeblich durch Philosophen und Philosophinnen geprägt worden, die im 20. Jahrhundert an der Universität Oxford tätig waren. Ihr Beitrag bestand dabei nicht zuletzt darin, dass sie die „analytische Methode“ (die vorab durch Philosophen aus Cambridge wie G.E. Moore entwickelt wurde), auf den Bereich der politischen Philosophie übertrugen.2 Für die Interpretation von Texten bedeutete dies zunächst, dass man sich auf die sprachphilosophische Klärung von politischen Begriffen und den Nachweis konzeptueller Fehler und methodischer Missverständnisse beschränkte. In der Folge ging man aber dazu über, in weniger destruktiver Absicht die logische Verknüpfung der politischen Begriffe zu Argumenten und Theorien nachzuvollziehen und die Texte als Antwortversuche von politischen Autoren auf „permanente oder zumindest wiederkehrende Probleme der Philosophie“ zu deuten.3
Reflexionsbox 2: Überzeitliche Ideen
Der Begründer der Disziplin der politischen Ideengeschichte, Arthur Oncken Lovejoy, gab als Ziel der Disziplin das Studium von überzeitlichen Grundideen (unit ideas) aus. In detaillierten Analysen sollte die Geschichte dieser überzeitlichen Grundideen nachvollzogen werden, d. h. wie Begriffe (z. B. Recht, Freiheit, Vertrag) im Laufe der Geschichte bestimmt, modifiziert, mit anderen Begriffen kombiniert und artikuliert wurden.4 Die Vertreter des analytischen Ansatzes insistierten nicht unbedingt auf der Existenz von überzeitlichen Ideen, suggerierten aber wohl, dass sich einige Ideen (oder zumindest Fragen) als ziemlich langlebig erwiesen und sich historisch nur wenig verändert haben. Kritiker, die von einer stärkeren Beeinflussung von Autoren durch ihren historischen intellektuellen Kontext ausgehen, charakterisieren das Ideengeschichtsverständnis des analytischen Ansatzes deshalb überspitzt als fiktives Gespräch zwischen antiken, neuzeitlichen und modernen Autoren in einem zeitlosen Elfenbeinturm. Die Vertreter