Politische Ideengeschichte. Ralph Weber

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Politische Ideengeschichte - Ralph Weber


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einen zunehmend bedeutsamen Platz findet. Und wenngleich es nahe liegt, sich die unterschiedlichen Textformate entlang einer Achse vorzustellen, dessen einer Pol einen (alten) engen und dessen anderer Pol einen (neuen) weiten Textbegriff kennzeichnet, so ist zu bedenken, dass selbst die Klassiker des politischen Denkens weit über diese Achse verstreut sind. Aristoteles’ Politik basiert auf Vorlesungen und hat in der Form eines Buchs erst im Mittelalter, vermittelt über arabische Kommentatoren, Eingang in unsere Regale gefunden. Das kommunistische Manifest war ursprünglich eine Flugschrift.

      Von der Hoch- zur Populärkultur

      Während in der Disziplin schon immer auf ideengeschichtliche Texte unterschiedlichsten Formats als Reflexionsgegenstand zurückgegriffen wurde, so besteht eine genuine Neuerung hinsichtlich der Einbeziehung von Texten unterschiedlicher soziokultureller Herkunft. Erst im späten 20. Jahrhundert wurde der Blick von Texten der sogenannten ‚Hochkultur‘ systematisch auf die ‚Populärkultur‘ ausgedehnt. Texte der politischen Ideengeschichte werden seither nicht mehr nur bei akademischen und politischen Eliten vermutet, sondern auch im Alltagsleben gesucht. Die Gründe hierfür sind dreierlei: Erstens sind bedeutende politische Ideen nicht selten aus den Niederungen des politischen Tagesgeschäfts hervorgegangen, ehe sie philosophisch geschärft und modifiziert in Texten der Hochkultur artikuliert werden konnten.10 Zweitens kann nie mit Sicherheit vorausgesagt werden, aus welchem gesellschaftlichen Kreisen ein Text von herausragender ideengeschichtlicher Bedeutung und Qualität hervorgeht. Die Autorschaft des anonymen Online-Pamphlets Der kommende Aufstand, das für große Aufregung sorgte, wurde zunächst bei einer Gruppe Nonkonformisten aus dem Dorf Tarnac vermutet, woraufhin die französische Polizei im Jahr 2008 einen Klarinettisten, eine Krankenschwester und einen Gemüsehändler festnahm, auch wenn sie deren Urheberschaft schließlich nicht nachweisen konnte.

      Schließlich ist ein dritter Grund, dass ideengeschichtliche Texte nicht auf einen Ort auf einer Achse soziokultureller Textwertigkeit festgeschrieben sein müssen, weil Hochkultur und Populärkultur in einem dynamischen Verhältnis stehen. Kulturelle Wertigkeit impliziert Bewertung, und diese kann sich gerade mit historischem Abstand deutlich verändern. Hochkultur kann Populärkultur werden, und umgekehrt, wie Machiavellis Der Fürst für beiderlei Dynamiken belegen mag. Ist die Schrift doch sicherlich keine repräsentative Quelle des frühneuzeitlichen Gelehrtentums, wird sie seit Langem zum Grundkanon politischer Ideengeschichte gezählt; im 20. Jahrhundert hat sie den Status von Ratgeberliteratur wiedergewonnen (unter Titeln wie Machiavelli für Frauen, Machiavelli für Manager, oder Machiavelli für Streithammel), wenngleich in etwas vulgärer Form.

      Politische Ideengeschichte ist also vornehmlich eine Textwissenschaft, wobei je nach engem oder weitem Textbegriff und soziokultureller Herkunft verschiedene Objekte Gegenstand der Untersuchung und Reflexion sein können. Ausgangspunkt ist die Identifizierung eines als interpretationsbedürftig wahrgenommenen Textmaterials. Die Herausforderung für die Ausdifferenzierung von Interpretationsansätzen besteht darin, die Analyseschritte aufzuzeigen, mithilfe derer ein als interpretationsbedürftig wahrgenommenes Textmaterial ausgelegt wird. Welche Analyseschritte für die Interpretation zielführend sind, hängt natürlich von dem genauen Leitinteresse ab, ob also wie zuvor erwähnt das Denken des Autors oder die Aussage seiner Texte erschlossen werden soll, oder die in den Texten angelegte Mitteilung an eine Leserschaft, oder aber die Bedeutung, die die Texte ihrer Leserschaft vermittelt haben. Die unterschiedlichen Leitinteressen suggerieren ihrerseits aber wiederum spezifische Verständnisse dessen, als was ein Text im Allgemeinen überhaupt zu verstehen ist. Die nachfolgende Typologie versucht daher Klarheit in das Dickicht der vielfältigen Interpretationsansätze zu bringen, indem die Interpretationsansätze anhand des angesetzten Textverständnisses geordnet werden.

      Textzentrierte Ansätze: „ein Text ist der Gehalt seiner Aussagen“

      Ein Text kann einfach als Text verstanden werden, als ein Argument, das jenseits der Prosa des Texts im Gehalt seiner Aussagen besteht. Der analytische Ansatz abstrahiert dementsprechend von der sprachlichen Präsentation, um den Gedanken selbst zu erfassen. Für den analytischen Interpreten macht es keinen Unterschied, ob ein Satz auf Englisch, Deutsch oder Sanskrit geschrieben ist, wie auch grammatikalische Konstruktionsarten, Akzentuierungen oder schlicht Rhetorik nicht ins Gewicht fallen. Ein einziger Aussagegehalt kann daher auf vielfache Weise ausgedrückt werden. Erasmus von Rotterdam zählte beispielsweise 195 lateinische Varianten des Satzes „Ihr Brief hat mir sehr gefallen“ auf; die Aussage des Satzes war ihrem Gehalt nach stets dieselbe.11 Bei einer analytischen Textinterpretation steht also der Aussagegehalt im Vordergrund. Im Idealfall lässt sich dieser in Form von Prämissen und Schlussfolgerungen darstellen, so dass im Anschluss an die Interpretation, der argumentative Inhalt des Texts auf Validität und Konsistenz geprüft werden kann.

      Interessante Ansätze, die ebenfalls als textzentriert gelten können, sich bisher jedoch noch nicht innerhalb des Mainstreams etablieren konnten, sind in der Semiotik (Umberto Eco) und im (Post)-Strukturalismus zu verorten. Im Gefolge von Roland Barthes’ und Michel Foucaults Erklärungen zum Tod des Autors und Jacques Derridas Dekonstruktivismus haben sich neue Möglichkeiten ergeben, auch Texte aus der politischen Ideengeschichte neu zu interpretieren. Bei der ausführlichen Darstellung und Illustration von textzentrierten Ansätzen beschränken wir uns jedoch auf den analytischen Ansatz.

      Autorzentrierte Ansätze: „ein Text ist von jemandem geschrieben“

      Man kann einen Text aber auch als etwas verstehen, das von jemandem geschrieben wurde; der Autor rückt ins Zentrum. Die damit einhergehende Prämisse ist, dass man etwas über den Autor des Texts in Erfahrung bringen muss, möchte man das interpretationsbedürftige Textmaterial verstehen. Explizit finden autorzentrierte Ansätze in der ideengeschichtlichen Praxis Anwendung, wenn biografische Informationen über den Autor argumentativ in eine Textinterpretation eingewoben werden. Häufig wird beispielsweise behauptet, der Leviathan von Thomas Hobbes lasse sich nicht ohne dessen Erfahrung des englischen Bürgerkriegs verstehen. Nur impliziter, aber nicht weniger prämissenbehaftet, wird von einem solchen Zusammenhang des Lebens eines Autors und der Bedeutung eines seiner Texte ausgegangen, insofern der inhaltlichen Diskussion eine biografische Notiz vorangestellt wird. Warum sonst sollte das intime Verhältnis von Simone de Beauvoir mit Jean-Paul Sartre erwähnenswert sein in einer Abhandlung, die sich mit de Beauvoirs Text Das andere Geschlecht zu befassen behauptet? Misst man dem Zusammenhang von der Person des Autors einerseits und der Bedeutung des Texts andererseits die Hauptrolle zu, so kann man von einem biografischen Ansatz sprechen. Genau genommen wird dann ein Text als Ausdruck des Lebens eines Autors verstanden: Der Text hätte, angesichts der Biografie des Autors, gar nicht anders lauten können als er lautet.

      Im Unterschied dazu unterstellt ein werkimmanenter Ansatz, dass man einen Text eines Autors am besten dann versteht, wenn man ihn im Zusammenhang mit den anderen Texten des Autors sieht. Dieser Ansatz kommt etwa zum Tragen, wenn man bei der Interpretation eines Texts die Qualifizierung hinzufügt, dass es sich um einen frühen Text des Autors handelt, da die späteren Texte doch alle durch das Hinzutreten eines bestimmten Motivs gekennzeichnet sind. (Hinsichtlich des Werks von Platon wird beispielsweise häufig gesagt, dass Sokrates nur anfangs eine zentrale Rolle einnimmt und in späteren Schriften immer mehr in den Hintergrund rückt.) Im Extremfall wird ein Text unter Anwendung des werkimmanenten Ansatzes in seiner Stellung innerhalb des Gesamtwerks der einem Autor zugeschriebenen Texte verstanden. Das Leben des Autors ist nicht primär für die inhaltliche Interpretation ausschlaggebend. Aber nur mittels der Identifikation des Autors können die verschiedenen Texte überhaupt als Texte des Gesamtwerks eines Autors verstanden werden.

      Adressatenzentrierte Ansätze: „ein Text ist für jemanden geschrieben“

      Ein Text kann aber auch so verstanden werden, dass er in der Hauptsache „für jemanden geschrieben“ ist; ein bestimmter Adressatenkreis nimmt also den Platz des Autors im Zentrum des Textverständnisses ein. Es wird daher nach der Botschaft gesucht, die der Autor mit seinem Text an seine Zeitgenossen vermitteln wollte oder tatsächlich sendete.

      Der esoterische Ansatz von Leo Strauss bezieht die Möglichkeit in Betracht, dass Autoren nicht beabsichtigt


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