Grundlagen der Visuellen Kommunikation. Stephanie Geise

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Grundlagen der Visuellen Kommunikation - Stephanie Geise


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oft experimentelle bzw. standardisierte Verfahren eingesetzt werden. Um Aussagen über das Verständnis und/ oder die Wirkungspotenziale des Plakates treffen zu können, würden sich beispielsweise Befragungen in einem experimentellen Setting anbieten. Auch eine empirischqualitative Vorgehensweise, bei der etwa fokussierte Gruppendiskussionen eingesetzt werden, wäre denkbar (vgl. Mayring 2010; Schreier 2012).

      Ob eine enge oder eine weite Fragestellung für das Forschungsprojekt gewählt wird, ist abhängig von der zur Verfügung stehenden Zeit sowie von dem Anspruch der Studie. Ein typischer Anfängerfehler ist hierbei, die Fragestellung viel zu weit zu ziehen und dann im Verlauf des Schreibens den Überblick zu verlieren, um dann zum Schluss der Arbeit die bereits eingangs formulierte These ohne kritisch-abwägende Erörterung zu bestätigen. Lieber klein anfangen, solide beschreiben, analysieren und die Befunde reflektiert einordnen und interpretieren (vgl. Kapitel 4).

      Zu Beginn Ihrer visuellen Forschung sollten Sie sich auch einen Überblick über die zur Verfügung stehenden Methoden verschaffen. Hierzu ist ein Methodenhandbuch geeignet, herausgegeben von Thomas Petersen und Clemens Schwender, »Die Entschlüsselung der Bilder. Methoden zur Erforschung visueller Kommunikation«. Köln: Halem, 2011.

      Für MA-Arbeiten und Dissertationen empfiehlt sich zudem die Beobachtung der einschlägigen Fachgesellschaften und der Besuch der Jahrestagungen, auf denen aktuelle Forschungsthemen vorgestellt werden. Für den deutschsprachigen Raum ist dies die Fachgruppe Visuelle Kommunikation der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft (DGPuK): www.dgpuk.de/fachgruppenad-hocgruppen/visuelle-kommunikation. International gibt es Fachgruppen Visuelle Kommunikationsforschung in der International Communication Association (ICA), in der Association for Education in Journalism and Mass Communication (AEJMC) sowie der International Visual Sociology Association (IVSA). Zudem ist es lohnenswert, die Publikationen in den drei auf visuelle Forschung spezialisierten internationalen Zeitschriften im Auge zu behalten: Visual Communication Quarterly, Visual Communication und Visual Studies. Für Rezeptionsstudien im Besonderen ist es zudem ratsam, die Betreuerin bzw. den Betreuer Ihrer Arbeit hinsichtlich der Möglichkeit einer Einbettung in ein laufendes Forschungsprojekt anzusprechen. Teamarbeit ist hier die Regel.

      Die vorangegangenen Kapitel haben verdeutlicht, dass Bildbedeutungen von vielen Faktoren beeinflusst werden. Dabei sind die beabsichtigten, intendierten Bedeutungen der Bildproduzenten von den später auch zeitlich desynchronisiert erfolgenden zugewiesenen bzw. attribuierten Bedeutungen zu unterscheiden. Intendierte Bedeutungen können im Rahmen einer visuellen Produktionsanalyse ermittelt werden. Die Aufdeckung attribuierter Bedeutungen ist ein Ziel der visuellen Rezeptions- und Wirkungsanalyse. Idealerweise werden Produktions- und Rezeptionsanalyse in einem Multi-Methoden-Design vereint, so dass ein Vergleich der von den Bildmachern intendierten und vom Publikum attribuierten Bildbedeutungen möglich wird. Praktisch sind jedoch sowohl nicht-standardisierte, qualitative Verfahren wie auch standardisierte, quantitative bzw. experimentelle Verfahren, häufig bereits isoliert eingesetzt, sehr aufwendig und können daher selten im Rahmen eines einzigen Forschungsdesigns realisiert werden.

      Auf das Beispiel des Obama-HOPE-Plakates angewandt (vgl. Abb. 8, S. 38) würde der Forscher beispielsweise – ausgehend von den intendierten Bedeutungen des Plakatgestalters Shepard Fairey – diese mit den tatsächlich von Rezipienten attribuierten Bedeutungen vergleichen und/oder auf Basis einer bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe durch Befragung ermitteln, auf welche Personen- und Wählergruppen das Plakat zu einem bestimmten Zeitpunkt (z. B. zum Zeitpunkt der Veröffentlichung) wie gewirkt hat. An diesem Beispiel wird auch deutlich, vor welchen Herausforderungen die empirische Visuelle Kommunikationsforschung steht, denn nachträglich sind wahrgenommene und attribuierte Bedeutungen nur schwer zu ermitteln. Hier wäre also eine möglichst zeitnahe Erfassung der Bilddeutungen und ihrer persönlichen Bedeutungen für die Betrachter wichtig gewesen, auch um das möglicherweise gewandelte Bild von Obama in seinem Wiederwahlkampf 2012 mit seiner ersten Präsidentschaftswahlkampagne zu vergleichen.

      Der Bedeutungskonstruktion (meaning) vorgelagert ist die Deutungskonstruktion (interpretation). Wie Sie zu einer möglichst differenzierten Deutung des von Ihnen ausgewählten Bildmotivs gelangen, wird in Kapitel 4 ausführlich beschrieben: Hier führt der Analysepfad von der Beschreibung zur Bildanalyse und schließlich zur Bildinterpretation. Die spezifische Bedeutung, die dem Bild kontextbezogen zugewiesen wird, kann dann durch eine vertiefte Kontextanalyse ermittelt und in einem weiteren Schritt zu einer umfassenden Interpretation erweitert werden, die auch die konkreten Formen des Bildeinsatzes untersucht und dabei mögliche Bedeutungswechsel des Bildes aufdecken kann.

      Was hier bereits angedeutet wird, ist für Visuelle Kommunikationsforschung essentiell: Deutung und Bedeutung, Interpretation und Sinn eines Bildes sind, jeweils auf unterschiedliche Weise, kontextabhängig. Während bei dem Prozess der Deutung bzw. der Interpretation die Person des Interpreten einen subjektiven Interpretationsfaktor darstellt, der das Ergebnis des Deutungsprozesses beeinflusst, sind die analysierten Bildbedeutungen auch von den jeweiligen Produktions- und Rezeptionskontexten abhängig, innerhalb derer die Deutung erfolgt. Dem identischen Bildmotiv können intersubjektiv, aber auch interkulturell ganz unterschiedliche, manchmal sogar konträre Bedeutungen zugewiesen werden, abhängig von dem jeweiligen Interpreten, seinem Kenntnisstand, seiner Erfahrung mit ähnlichen Bildmotiven und seiner eigenen kulturellen Prägung. So kann eine Karikatur, die zum Ziel hatte, das Publikum, für die sie entworfen wurde, zu amüsieren, in einem anderen kulturellen Rezeptionskontext als verletzend, wenn nicht sogar als beleidigend empfunden werden. In einem weitgehend globalisierten Rezeptionskontext spielen so auch interkulturelle Überlegungen bereits bei der Bildproduktion eine Rolle. Wie unten am Beispiel deutlich wird, ist es für die Bildanalyse und Bildinterpretation daher entscheidend, den konkreten »Bildeinsatz« (und damit die Frage: Wie wurde das Bild in welchem Kontext eingesetzt?) zu berücksichtigen, da sich konkrete Bildbedeutungen und daraus resultierende emotionale Reaktionen oft nur aus dem konkreten Bildeinsatz und dem spezifischen Rezeptionskontext erklären lassen. Bildbasierte Spannungen und Konflikte können sich aus der Bedeutungsverschiebung ergeben, die zwischen ursprünglichem Produktionskontext und dem Transfer in einen anderen kulturellen Rezeptionskontext entsteht. Dabei gilt es sowohl die zeitliche als auch die räumliche Dimension der Kontexte zu beachten. Mithin führt die zeitliche Distanz zu einer Entkontextualisierung der Bildbedeutung, aber auch die räumlich-kulturelle Distanz kann das Bild entkontextualisieren.

      Um die Rolle von Deutung, Bedeutung und Bildeinsatz an einem Beispiel zu erläutern: Die kolumbianische Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt befand sich bereits über fünf Jahre in den Händen der militanten FARC-Guerilla als eine Fotografie (vgl. Abb. 9, S. 43) von ihr veröffentlicht wurde. Formal betrachtet handelt es sich hierbei um eine querformatige Farbfotografie, die eine sitzende Frau mit gefalteten Händen und langem dunklen Haar aus leicht aufsichtiger Perspektive darstellt. Der Blick der Frau ist nach unten gerichtet. Sie erscheint dünn, ausgemergelt und ist sehr blass. Sie ist sitzend auf einer einfachen Holzbank porträtiert, vor ihr ein Brett, das auf vier Holzpfeiler gelegt ist und eine Art Tisch darstellt, auf dem links hinten ein weißes Gefäß steht sowie zwei Holzstäbe, die wie Pinsel aussehen. Die Szene ist umgeben von dünnen Baumstämmen und Blattwerk. Die leidende, passiv erscheinende Haltung Betancourts, ihr abwesender Blick, aber auch ihre langen Haare erinnern an Madonnenbildnisse und tragen dazu bei, eine beinahe spirituelle Aura zu erzeugen. Die Darstellung, so ließe sich folgern, impliziert damit die Aufforderung, dem leidenden Menschen zu helfen. Die Fotografie ist ein Standbild aus einer Video-sequenz, die von den Geiselnehmern aufgenommen wurde, vermutlich am 24. Oktober 2007, und die im Gepäck von festgenommenen FARC-Guerrilas entdeckt wurde (STERN.DE 30.11.2007).


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