Grundlagen der Visuellen Kommunikation. Stephanie Geise
Читать онлайн книгу.sehr reizvoll ist, gestaltet sich der Transfer auf die Bildpraxis schwierig, denn auch Doelker trennt mit seinen beiden Bedingungen der Bildlichkeit – der Materialität (Herstellung) und dem Publikum (Darbietung vor Betrachtern) – zwischen materiellen und immateriellen Bildern und klammert so die immateriellen Bestandteile aus der Bilddefinition aus. Problematisch ist auch die Idee, der »Zweck der Betrachtung oder Verständigung« sei entscheidend für das Bildsein (Doelker 1997: 187). Zwar muss ein Bild immer erst als Bild intentional hergestellt werden (vgl. Belting 2005; Brandt 2005, 2009), doch ist die Intention der Bildherstellung gerade nicht konstitutiv für das »Bildsein«: Auch ein Bild, das nicht der nachfolgenden Betrachtung, Kommunikation oder Interaktion dienen soll – etwa, weil gerade der Prozess der Bilderstellung der intendierte Zweck ist – bleibt ein Bild. Aus dieser Perspektive definiert Stephanie Geise (2011: 63–67) das Bild als »intentionale, höchstens zwei-dimensionale, medial gebundene Visualisierung oder visuelle Repräsentation von Bedeutungsinhalten, die nicht vorher fixiert sein müssen«, die aber »Bezug zu situativen, zeitlichen, räumlichen, individuellen und sozialen Kontexten« haben. Das Bild wird damit als eine intentionale Schöpfung betrachtet, bei der das Bild physisch an ein Medium gebunden und damit materialisiert wird. Die Diskussion, ob Bilder materiell oder immateriell sind, geht damit in der Frage auf, was als Medium gilt. Während in einer weiten Auslegung Medium unspezifisch ein Träger von Informationen ist – auch das menschliche Gehirn kann in diesem Sinn »Medium des Denkens« (Aebli 1981: 279) sein und immaterielle Denkbilder binden – stellt Medium aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive ein materielles Kommunikationsmittel dar.
Da Ähnlichkeit von Bild und Abgebildetem nicht als konstitutiv angesehen wird, drückt der in der Definition eingebundene Begriff der Visualisierung aus, dass Bilder auch in hohem Maße Ungegenständliches oder Nichtexistentes darstellen, und dadurch das »Unsichtbare« visualisieren, während die Konzeption der visuellen Re-Präsentation eine abbildende Wiedergabe bezeichnet. Dass die Bedeutung von Bildern relativ ist, wurde oben bereits skizziert; entscheidend ist demnach, dass im Produktions-, Rezeptions- oder Kommunikationsprozess Bedeutungsinhalte zugewiesen werden, und nicht wann sie zugewiesen werden.
Ausschlaggebend für die Qualifizierung als Gegenstand Visueller Kommunikationsforschung ist somit weder die ästhetische oder künstlerische Qualität der Bilder, noch die Frage, welchem Zweck sie dienen sollen oder ob sie von Menschen oder von Maschinen gemacht sind. Relevant ist lediglich, dass Bilder visuelle mediale Kommunikate sind, d. h. visuell Bedeutungen kommunizieren und sich in einer materialisierten Form ausdrücken (vgl. Geise 2011a). In dieser Form sind sie »Quellenmaterial«, das kommunikationswissenschaftlich untersucht werden kann. Gegenstand Visueller Kommunikationsforschung sind also materielle und immaterielle Bilder. Dabei geht die Forschung zunächst von den konkreten materiellen Abbildern aus. Rein immaterielle Bilder, die keine Vergegenständlichung erfahren, sind nicht (oder nur in Grenzbereichen) Teil Visueller Kommunikationsforschung. Diese Überlegungen münden in folgende Definition Visueller Kommunikation bzw. Visueller Kommunikationsforschung (vgl. Müller 2003, 2007; Geise 2011a; Lobinger 2012):
Visuelle Kommunikation bezeichnet sämtliche Entstehungs-, Vermittlungs- und Austauschprozesse von Bedeutungsinhalten, sofern sich diese auf visuelle Phänomene beziehen, die sich in Form von Bildern materialisieren.
Visuelle Kommunikationsforschung untersucht empirisch-analytisch Entstehungs-, Vermittlungs- und Austauschprozesse von Bedeutungsinhalten und deren Wirkungen, sofern sich diese auf visuelle Phänomene beziehen, die sich in Form von Bildern materialisieren.
Grundsätzlich kann der in der Visuellen Kommunikationsforschung angewandte Bildbegriff dabei in zwei Aspekte unterteilt werden: in immaterielle, geistige Bilder (mental images) und in materielle Bilder (material images). Beide Aspekte sind untrennbar miteinander verbunden. Bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit visuellen Kommunikaten kann der Schwerpunkt auf eine der beiden Bildaspekte gelegt werden. Die jeweilige Fokussierung hängt von der Forschungsfrage ab und hat Auswirkungen auf die Methodenwahl und den Umfang des Forschungsprojektes.
2.1 Gestalttypen und Kontexte des Bildes
Bilder können ganz unterschiedliche Formen und Gestalten annehmen: Sie können als Grafik, als Fotografie, als Gemälde, als Bewegtbild auftreten, sogar als Skulptur, Relief oder Architektur (vgl. Abb. 1, S. 25). Dabei lassen sich die Gestalttypen sieben verschiedenen Produktionskontexten zuordnen. So können beispielsweise digitalisierte Bilder im Internet
1) künstlerischen,
2) journalistischen,
3) kommerziellen oder
4) wissenschaftlichen Ursprungs sein; ebenso kann ihre Herstellung aber auch
5) politisch,
6) privat oder
7) religiös motiviert sein – und auch Mischformen sind denkbar.
Noch komplexer werden die Zusammenhänge auf der Rezeptionsebene, wo etwa künstlerische Bilder kommerziell rezipiert oder umgekehrt kommerzielle Produkte künstlerisch rezipiert werden. Zudem können alle vier unterschiedlichen Rezeptionsmodi zeitgleich auftreten. Das Wahlplakat, mit einem Motiv des Aktionskünstlers Joseph Beuys, 1979 für die Partei DIE GRÜNEN zur ersten direkten Wahl des Europäischen Parlaments (vgl. Abb. 2, S. 26), sprach beispielsweise (mindestens) fünf Rezeptionsebenen an: als Kunstwerk, als Werbung, als Reproduktion in der Printberichterstattung, als Teil des kunstwissenschaftlichen Diskurses sowie als Mittel politischer Kommunikation. Das Modell in Abb. 1 unterscheidet zwischen drei verschiedenen Kontextdimensionen:
1) Form oder Gestalt des Bildes,
2) Produktion oder Herstellungskontext und
3) Rezeption oder Wirkungskontext.
Innerhalb des Modells werden sozio-kulturelle und politische Aspekte mit den unterschiedlichen Einflussfaktoren im visuellen Produktions- und Rezeptionsprozess integriert. Dabei ist die formal-gestalterische Ebene im Kontext der sozialwissenschaftlichen Bildforschung recht neu. Hingegen findet sich die Unterscheidung zwischen der Produktions- und der Rezeptionsebene bereits in der Pionierstudie von Hans Mathias Kepplinger (1987) zu »Nonverbaler Kommunikation und Darstellungseffekten« (vgl. zu Nonverbaler Medienkommunikation auch Kapitel 12). In Kepplingers Modell (2010: 13) wird zwischen der analysierten Situation, der Disposition und der Reaktion unterschieden. Dabei wird zwischen situationsspezifischen »Produktions-Filtern« und dispositionsspezifischen »Rezeptions-Filtern« getrennt.
Der dem in Abb. 1 dargelegten Modell zugrundeliegende Bildbegriff unterscheidet zwischen materiellen und immateriellen, mentalen Bildern und knüpft damit direkt an Warburgs Unterscheidung zwischen Abbildern und Denkbilder an, die jedoch als zwei Facetten eines einzigen Prozesses gedacht sind (vgl. Müller 2011). Dabei erzeugt jedes Abbild automatisch korrespondierende Denkbilder. Dies wird in Abb. 1 durch den durchgezogenen Pfeil verdeutlicht. Hingegen nehmen nicht alle Denkbilder automatisch eine materielle Form an. In der Grafik ist dies durch einen gestrichelten Pfeil verdeutlicht. Sprachliche Metaphern, Spiegelbilder oder visuelle Seheindrücke zählen zu den mentalen Bildern, die in der Regel keine materielle Form annehmen. Für die Visuelle Kommunikationsforschung sind hingegen nur jene Bilder von Interesse, die sowohl eine immaterielle als auch eine materielle Ausprägung erfahren. Denn die prozesshafte Wechselwirkung zwischen Abbild und Denkbild ist ihr eigentlicher Analysegegenstand. Dabei fungiert das Abbild als Schlüssel zu den mit ihm verbundenen Denkbildern. Abbilder sind historische Quellen für die Bewusstseinsstrukturen einer bestimmten Gesellschaft und Kultur zu einer gegebenen Zeit (vgl. zum Bild als Quelle auch Kapitel