Grundlagen der Visuellen Kommunikation. Stephanie Geise
Читать онлайн книгу.(vgl. Abb. 26, S. 71)? Die Produktion, Auswahl und Veröffentlichung von Bildern ist insofern ein hochkomplexer Prozess, der viele unterschiedliche Akteurs- und Entscheidungsebenen einschließt. Produktionsanalysen erfordern deshalb methodisch meist einen historisch-sozialwissenschaftlichen Zugang, der nach den Entstehungsbedingungen sowie dem Wandel der spezifischen Produktionsbedingungen und -kontexte fragt. Hierbei können auch Interviews mit den Bildproduzenten und -herausgebern eine sinnvolle methodische Ergänzung bieten.
Die Produktionsanalyse untersucht die Entstehungsbedingungen und die Produktionsstrukturen visueller Kommunikation. Sie fragt nach dem Entstehungskontext:
Wann ist das Bild wie entstanden?
Bei der Produktanalyse liegt der Schwerpunkt auf der Ebene der Bedeutungspotenziale des analysierten Bildes. Hierbei wird von dem Bildmaterial ausgegangen. Die erste Herausforderung der Produktanalyse besteht darin, das Bild zunächst detailgenau und intersubjektiv nachvollziehbar zu beschreiben. Form, Größe, Produktionstechnik, Materialität und Motiv müssen bestimmt werden. Während der Motivanalyse kommt automatisch die Frage nach Vorbildern auf (vgl. Abb. 19–24, S. 66–67).
An dieser Stelle ist von »Produktanalyse« und nicht von dem auch naheliegenden Begriff der »Inhaltsanalyse« die Rede, weil Letzterer in der Kommunikations- und Medienwissenschaft eine ganz spezifische Bedeutung hat, die zudem mit einer speziellen Methode verknüpft ist (zur standardisierten Inhaltsanalyse vgl. Merten 1995; Rössler 2010; Früh 2011; zu qualitativen Ansätzen vgl. Mayring 2010; Schreier 2012). Zwar wurde die Methode der Inhaltsanalyse gerade auch in ihrer Anwendung auf Bilder in den letzten Jahren erheblich weiterentwickelt (vgl. Grittmann/Lobinger 2011; Geise/Rössler 2012; vgl. Kapitel 9) – und stellt gegenwärtig eine der wichtigsten Methoden der Visuellen Kommunikationsforschung dar (vgl. Lobinger 2012) – doch ist die hier gemeinte Form der Inhaltsanalyse als Produktanalyse noch weiter gefasst und soll sowohl der Kommunikationswissenschaft als auch anderen Disziplinen den Zugang zur Thematik erleichtern, ohne ihn zugleich auf eine spezifische kommunikationswissenschaftliche Analysemethode einzuengen. Beispielsweise können im Bereich der Produktanalyse, jenseits der Inhaltsanalyse, auch Formen der qualitativen Befragung (z. B. Leitfadeninterviews, Fokusgruppen) mit den Bildproduzenten oder Bildsortierstudien eine hilfreiche methodische Ergänzung bzw. Informationsquelle für den Forscher sein. Vorsicht ist jedoch geboten, die Aussagen der Bildproduzenten, etwa hinsichtlich ihrer Produktinterpretationen, als absolut zu setzen. Denn die meisten Bilder sind mehrdeutig und werden von unterschiedlichen Publika ganz verschieden interpretiert. Insofern sind sowohl die Motivgeschichte als auch der mit den Bildmotiven verbundene Bedeutungswandel für eine komplexe Interpretation zu berücksichtigen. Zudem gibt es neben bewussten Vorbildern auch unbewusste bzw. nur implizit wahrgenommene Bildtypen bzw. Bildstereotypen (vgl. Marquardt 2005; Grittmann 2007), die auf den Produktions- und Selektionsprozess erheblichen Einfluss haben können. Methodisch erscheinen sowohl kommunikationswissenschaftliche, zeichentheoretische, psychologische als auch kunsthistorische Ansätze für die Ebene der Produktanalyse besonders geeignet.
Die Produktanalyse untersucht Materialität und Motiv des Bildes. Sie fragt nach den bildimmanenten Bedeutungen:
Was ist auf dem Bild wie dargestellt?
Die Rezeptions- und Wirkungsforschung untersucht die Formen, Strukturen und Prozesse der Wahrnehmung und Rezeption des Bildes sowie die damit verbundenen Wirkungen auf Rezipienten. Wirkungsanalyse wird im Folgenden als übergeordneter Begriff verstanden, der sowohl die wirkungs- als auch die rezeptionsspezifischen Fragestellungen umfasst. In diesem Sinn fragt die visuelle Wirkungsanalyse nach den Adressaten bzw. nach den Rezipienten der Bilder: Was machen die Menschen mit den Bildern? – aber auch: Was machen die Bilder mit den Menschen?
Da die hiermit implizierten Fragen zu einem Großteil empirischer Natur sind, werden bei der Wirkungsanalyse quantitative und/oder qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung eingesetzt. Insbesondere kommunikationswissenschaftliche sowie psychologische und kognitionswissenschaftliche Methoden bieten sich zur Bearbeitung des Rezeptions- und Wirkungsaspektes von Bildern an (vgl. Kapitel 5). So ist eine bislang immer noch ungeklärte – und vermutlich aufgrund der Komplexität der Kommunikationssituation niemals vollständig zu klärende – Frage im Bereich der visuellen politischen Kommunikationsforschung die nach dem Einfluss von Visueller Wahlkampfkommunikation auf die Wahlentscheidung. Warum sich Wählerinnen und Wähler für eine bestimmte Partei oder einen bestimmten Kandidaten entscheiden, ist von sehr vielen unterschiedlichen Faktoren abhängig (vgl. Brettschneider 2002, 2005). Insofern kann der konkrete Einfluss eines bestimmten Wahlplakats auf die Wahlentscheidung (vgl. Abb. 26, 30–32, S. 71, 89) kaum isoliert gemessen werden. Dieses Beispiel verdeutlicht die enorme wissenschaftliche Herausforderung, handlungs- und einstellungsrelevante Wirkungen von Bildern nachzuweisen. Wo die Forschung hingegen bereits größeren Erfolg hat, ist bei dem Nachweis wahrnehmungsrelevanter bzw. physiologischer und affektiver sowie auch kognitiver Wirkungen von Bildern (vgl. etwa Geise 2011a, b, 2013; Müller/Kappas/Olk 2012).
Die Wirkungsanalyse untersucht Formen, Strukturen und Prozesse der Wahrnehmung und Rezeption von Bildern sowie die damit verbundenen Wirkungen auf Rezipienten. Sie fragt dabei nach den Adressaten und Rezipienten Visueller Kommunikation:
Was machen die Menschen mit den Bildern?
Was machen die Bilder mit den Menschen?
Ungleich komplexer als die Analyse der Rezeption und Wirkung von Einzelbildern ist die Analyse bewegter Bilder. Obwohl hier die Bildanalyse um Text- und Audioanalyse ergänzt werden muss, gilt die prinzipielle Dreiteilung in Produktions-, Produkt- und Wirkungsanalyse auch für filmisches Bildmaterial. Diese Dreiteilung ist eine idealtypische Unterscheidung, die für das Begreifen visueller Kommunikationsstrukturen hilfreich ist. In der Realität vermischen sich diese Ebenen, weshalb es sinnvoll erscheint, die drei Analyseebenen zumindest in der Gesamtbetrachtung zu integrieren und dabei die zuvor in ihre Einzelteile zerlegten Elemente zu einem komplexen Ganzen zusammenzufügen. Wie oben bereits angedeutet, steht jedoch am Beginn jeder visuellen Kommunikationsanalyse die Bildbeschreibung, die in Kapitel 4 an praktischen Beispielen erläutert wird.
2 Was ist ein Bild?
Bilder sind medienhistorisch eine anthropologische Konstante: Seit Menschen im Paläolithikum die ersten bildlichen Botschaften erzeugt haben, waren Bilder wesentlicher Bestandteil menschlicher Ausdrucksformen. Für Boehm (2001: 10) ist der Mensch daher ein »Homo Pictor«. Doch was macht ein Bild zu einem Bild? Was ist ein Bild?
Diese scheinbar simple Frage stellte W. J.T. Mitchell, einer der führenden Bildtheoretiker, 1986 in einem bis heute grundlegenden Artikel. Für Mitchell (1986: 9) ist das theoretische Verständnis der Bildlichkeit in sozialen und kulturellen Praktiken verankert. Doch was bedeutet das? Zunächst einmal, dass unser Verständnis von Bildlichkeit und von Bildern relativ ist, denn es basiert auf Vorerfahrungen, die aus zeitlichen, kulturellen, sozialen und individuellen Wahrnehmungsdifferenzen resultieren (Mitchell 1986: 8–9) und zu Unterschieden in Bildverständnis und Bildinterpretation führen. Um diese Beobachtung an einem Beispiel zu illustrieren: Wenn zwei Menschen dasselbe Bild von einem Apfel betrachten, bedeutet das nicht automatisch, dass sie dasselbe in diesem Apfel sehen – vielleicht ist das Bild für den einen einfach eine visuelle Repräsentation eines Apfels, für den anderen aber ein Symbol für gesunde Ernährung, für den Sündenfall oder eine bekannte Computerfirma. Ebenso wird eine Person ein Klassenfoto zum Zeitpunkt seiner Entstehung anders beurteilen als im Rückblick Jahrzehnte später. Auf diese enge Verbindung von materiellem Abbild und immateriellem Denkbild hatte bereits der Kulturwissenschaftler und Kunsthistoriker Aby Warburg