Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Heinz Pürer

Читать онлайн книгу.

Publizistik- und Kommunikationswissenschaft - Heinz Pürer


Скачать книгу
Schmuddel-Talkshows, Fälschungen von Michael Born und Tom Kummer, Prominentenprozesse wie der Fall Kachelmann etc.). Auch die beinahe täglich erfolgenden Verletzungen des Persönlichkeitsschutzes und der Unschuldsvermutung in der lokalen Kriminal- und Unfallberichterstattung lassen Fragen aufkommen, z. B.: Wie steht es um Moral, Ethik und Verantwortung im Journalismus? Sind Journalisten persönlich und alleine verantwortlich dafür, was sich im Mediensystem tut oder gibt es noch eine Reihe anderer Verantwortlichkeiten? Liegt – nicht zuletzt im Sinne einer Medienökologie – nicht auch Verantwortung beim Publikum, bei den Zeitungslesern, Radiohörern, Fernsehzuschauern und Internetsurfern? Diese und ähnliche Fragen sollen im Folgenden angesprochen und erörtert werden.

      Zunächst kurz zur Klärung von Begriffen: Mit Moral (lat. mos = Gewohnheit, Sitte, Brauch) ist jenes uns anerzogene Werte-, Sitten- und Normengeflecht gemeint, auf dessen Basis wir täglich bewusst oder unbewusst unsere Handlungen vollziehen. Unter Ethik versteht man die Lehre von den sittlichen Werten und Forderungen, eine Morallehre, die einer »praktischen Philosophie« vergleichbar ist. Ethik meint also das Nachdenken über unsere (moralisch bedingten und moralisch zu bewertenden) Handlungen. Und ethische Prinzipien sollen, auch und insbesondere im Journalismus, [150]»den Spielraum des rechtlich nicht Verbotenen auf das moralisch Verantwortbare eingrenzen«. (Wilke 1998, S. 292; Hervorhebung H. P.). Das Gewissen wieder ist das Mitwissen um die von uns getätigten Handlungen. Medienethik befasst sich folglich mit moralischen Prinzipien des Journalismus, nicht zuletzt also damit, wie Journalisten auf der Basis demokratischer Werte und anderer allgemeiner gesellschaftlicher Übereinkünfte handeln sollen. In einer wertepluralen Gesellschaft, deren gemeinsame Wertebasis immer schmäler wird, ist dies eine nicht einfach zu beantwortende Frage.

      Auch die Begriffe Recht bzw. Gesetz sollen hier noch kurz erwähnt werden. Sie sind Sammelbegriffe für Ordnungssysteme mit dem Ziel, das Zusammenleben in einer Gesellschaft verbindlich für alle Gesellschaftsmitglieder zu regeln, um Konflikte möglichst zu vermeiden – ein denkbar schwieriges Unterfangen. Beide – Moral/Ethik sowie Recht/Gesetz – stellen gesellschaftliche Steuerungssysteme dar, und dies ist auch in Journalismus und Massenmedien der Fall.

      Bei Verstößen gegen Normen, seien dies nun verbindliche Gesetze oder auf freiwilliger Basis eingehaltene Berufskodizes, stellt sich in aller Regel auch die Frage nach der Verantwortung. Daher sei hier auch der Schlüsselbegriff Verantwortung angesprochen. »Verantwortung bedeutet, dass wir für etwas eintreten und die Folgen tragen, dass wir unser Handeln vor anderen rechtfertigen müssen. Die anderen, das können Justiz, die Gesellschaft oder einzelne Mitmenschen sein – und auch wir selbst. Erweist sich bei unserer Rechtfertigung das Handeln als nicht korrekt, können wir dafür belangt werden« (Hömberg/Klenk 2010, S. 41f). Verantwortliches Handeln schließt 1) Freiwilligkeit ein, meint 2) dass es Handlungsalternativen gab bzw. gibt und postuliert 3), dass die Folgen einer Handlung absehbar sind. Dies ist im Journalismus nicht immer der Fall und tangiert, was v. a. gesellschaftliche Folgen journalistischen Handelns betrifft, komplexe Fragen der Medienwirkungen (vgl. Kap. 4.4.3, 5.2 sowie 5.3). Mit dem Thema Verantwortung im Journalismus haben sich u. a. Bernhard Debatin (1998a) und Rüdiger Funiok (2007) befasst.

      In der Kommunikationswissenschaft gibt es unterschiedliche theoretische Denkmodelle darüber, wer im Journalismus Verantwortung trägt. Erste Synopsen individualethischer, mediensystemethischer und publikumsethischer Überlegungen legte Anfang der 1990er-Jahre Heinz Pürer vor (Pürer 1991, 1992). Im medienethischen Diskurs der zurückliegenden Jahre haben sich neben mehreren anderen (vgl. Schicha/Brosda 2010) Perspektiven herausgebildet, die hier erörtert werden: die individualethische, die professionsethische, die institutionenethische sowie die publikumsethische.

      Die journalistische Individualethik weist, wie ihr Name sagt, die Verantwortung für journalistisches Handeln dem einzelnen Journalisten persönlich zu und fordert von ihm ein hohes Maß an Moral, Ethik und Verantwortungsbewusstsein. Der Publizistikwissenschaftler Emil Dovifat z. B. sprach von der begabten publizistischen Persönlichkeit, die durch Studium und Erfahrung zur Entfaltung gebracht werden könne (Dovifat 1967, S. 33). Der Journalist und Wissenschaftler Otto Groth forderte Charaktereigenschaften wie Gewissenhaftigkeit, Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Einsatzbereitschaft, Takt und Ton (Groth 1962, S. 387ff). Für den langjährigen Journalisten und bekennenden Ethiker Hermann Boventer hat im Journalismus Wahrhaftigkeit besondere Bedeutung. Er postuliert darunter folgende Maximen: Ehrlichkeit im Beobachten, Sorgfalt beim Recherchieren sowie Unabhängigkeit im Urteil, Fähigkeit zur Kritik und v. a. auch zur Selbstkritik (Boventer 1989, S. 131ff). Orientierung für ethisches Handeln findet der einzelne Journalist (wie erwähnt) neben gesetzlichen Bestimmungen insbesondere auch in journalistischen Berufskodizes wie etwa dem Kodex des Deutschen Presserates, also der Professionsethik (s. u.).

      Im Zusammenhang mit dem Aspekt Verantwortung sei hier – in Anlehnung an Max Weber – auf die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik hingewiesen (siehe dazu Möller 1983, Wilke 1987, Wilke 1996; Kunczik/Zipfel 2001, Kepplinger/Knirsch 2000). Der gesinnungsethisch Handelnde fühlt sich der Wahrheit verpflichtet und achtet nicht auf die Folgen seines Handelns. Der verantwortungsethisch Agierende hat auch die Folgen seines Handelns im Auge. Journalisten [151]handeln stets im Spannungsfeld zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Sie sollten daher stets auf die Verhältnismäßigkeit der angewendeten Mittel achten (d. h. z. B., auf den kleinen Ladendieb nicht mit ›journalistischen Kanonen‹ schießen). Für Hermann Boventer spielt das Prinzip Verantwortung eine wichtige Rolle. Sie sei »eine Funktion von Macht und Wissen« und begründe die »Vorbildfunktion des Journalisten« (Stapf 2006, S. 120 mit Bezugnahme auf Boventer).). Stapf ordnet die Thematik Gesinnungs-/Verantwortungsethik der Professionsethik zu (Stapf 2006, S. 138).

      Der individualethische Ansatz enthält zweifellos wichtige ethische Anhaltspunkte für das Wirken im Journalismus, »vernachlässigt allerdings die praktischen Gegebenheiten auf politischer, institutioneller und mediensystemischer Ebene« (Stapf 2006, S. 123), denen der einzelne Journalist bei seiner Arbeit unterliegt. Der Wiener Kommunikationswissenschaftler Maximilian Gottschlich wendete bereits 1980 ein, dass eine verbindliche Beurteilungsgrundlage journalistischen Handelns die Berufswirklichkeit idealisiere, berufliche Abhängigkeitsverhältnisse verschleiere und auch das Problem ethischer Divergenz in einer pluralistischen Gesellschaft aufwerfe. Außerdem seien ethische Normierungen schwer zu operationalisieren. Dies gelte v. a. auch für die Pressekodizes, die die Berufswirklichkeit idealisierten. Solche Kodizes (vgl. w. u.) würden Werte absolut setzen, die für moderne, bzw. pluralistische Gesellschaften nur relative Wertigkeit besitzen (vgl. Gottschlich 1980, S. 146ff; siehe dazu auch Weischenberg 2004, S. 219f).

      Die journalistische Professionsethik verfolgt im Wesentlichen folgende Ziele: die Erstellung von Richtlinien für die journalistische Arbeit sowie »die Vermeidung von Fremdkontrolle« durch Selbstkontrolle (vgl. Stapf 2006, S. 138). Dazu im Einzelnen: Richtlinien für die journalistische Arbeit sind in nationalen und internationalen Pressekodizes zu sehen, die in aller Regel von der Profession, also von Berufsverbänden (Journalistengewerkschaften, oft in Zusammenarbeit mit Verlegerverbänden) und Presseräten erarbeitet werden. Solche Kodizes sollen dem Berufsstand der Journalisten Orientierungsmöglichkeiten für ethisch möglichst nicht konfligierendes journalistisches Handeln liefern; sie sollen Berechenbarkeit stiften und Standards sowie Regeln für die tägliche Arbeit in einem Medienunternehmen vermitteln (vgl. Pörksen 2005, S. 217). Solche Regeln sind:

      • allgemeine Appelle an das Verantwortungsbewusstsein des Journalisten bei der Erfüllung seiner öffentlichen und dem Gemeinwohl dienenden Aufgabe;

      • Achtung vor der Wahrheit und Streben nach Wahrhaftigkeit;

      • Appelle zur Wahrung journalistischer Unabhängigkeit;

      • korrekte Beschaffung und Wiedergabe von Information;

      • Richtigstellung unzutreffender Mitteilungen;

      • Wahrung der Vertraulichkeit, des journalistischen Berufsgeheimnisses und des Zeugnisverweigerungsrechts;

      • Respektierung des Privatlebens und der Intimsphäre von Betroffenen der Berichterstattung;

      • Eintreten für Menschenrechte und Frieden;

      • keine Verherrlichung


Скачать книгу