Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Heinz Pürer
Читать онлайн книгу.sondern generell in den Sozialwissenschaften streng allgemein gültige Theorie-Aussagen (sog. Allaussagen) nicht gibt, wird oftmals nicht von Theorien, sondern richtiger – und bescheidener – von »theoretischen Ansätzen« gesprochen (vgl. Burkart 2002, S. 423).
Die internationale Kommunikationswissenschaft verfügt über zahlreiche theoretische Ansätze unterschiedlicher Herkunft, Reichweite und Güte. Auch die deutschsprachige Zeitungs-, Publizistik- und Kommunikationswissenschaft hat zahlreiche solcher Ansätze hervorgebracht. Auf folgende theoretische [23]Ansätze kann man verweisen, die sowohl die Entwicklung des Faches im deutschen Sprachraum wie auch die Vielfalt unterschiedlicher theoretischer Zugänge widerspiegeln (hier in etwa in der Chronologie ihres Entstehens):
• der (bereits aus den 1930er-Jahren stammende) normative Denkansatz Emil Dovifats (vgl. Dovifat 1968; Pürer 1978; Hachmeister 1987, S. 79ff; Pürer 1998, S. 141f);
• der ursprünglich auf Karl d’Ester sowie Otto Groth (1960) zurückgehende (im Fach wenig rezipierte und diskutierte) zeitungswissenschaftliche Denkansatz, wie er von Hans Wagner vertreten wird und von ihm auch fortentwickelt wurde (vgl. Groth 1960ff; Wagner 1978, 1995a, 1995b; Groth 1995 [Reprint]; Wagner 1997).
• der in den 1950er-Jahren formulierte Ansatz der systematischen Publizistik Walter Hagemanns (vgl. Hagemann 1966; Pürer 1978; Hachmeister 1987, S. 130ff; Pürer 1998, S. 142ff; Hemels et al. 2000; Wiedemann 2012);
• die in den 1960er-Jahren entstandene funktionale Publizistik Henk Prakkes (vgl. Prakke 1968; Pürer 1978; Hachmeister 1987, S. 230ff; Pürer 1998, S. 145ff; Hemels et al. 2000 sowie v. a. Klein 2006)
• der 1963 erstmals veröffentlichte Ansatz Gerhard Maletzkes (vgl. Maletzke 1963; Pürer 1978, 1998, S. 149ff, Wagner 1995b; Burkart 2002, S. 499ff), dessen viel beachtetes Prozessmodell der Massenkommunikation von Roland Burkart und Walter Hömberg im Hinblick auf computervermittelte (Gemeinschafts-)Kommunikation weiterentwickelt wurde (vgl. Burkart/Hömberg 1998, 2012);
• die ideologiekritischen Ansätze aus dem Umfeld der Frankfurter Schule, die Ende der 1960er-/Anfang der 1970er-Jahre aufgekommen sind (vgl. Enzensberger 1973; Negt 1973; Baacke 1974; Pürer 1978; Glotz 1997; Pürer 1998, S. 163ff; Schicha 2010; aktuell Scheu 2012);
• die ebenfalls aus den 1970er-Jahren stammenden materialistischen bzw. neomarxistischen Ansätze (vgl. Holzer 1973; Dröge 1973; Hoffmann 1973; Schreiber 1984; Pürer 1973, 1998, S. 168ff; Holzer 2012; aktuell Scheu 2012);
• der demokratietheoretische Ansatz von Rainer Geißler (vgl. Geißler 1973, 1976, 1979; Burkart 2002);
• die Ende der 1960er-Jahre erstmals formulierten, vorwiegend auf den Journalismus bezogenen und in der Folge vielfältig im Fach verorteten und weiterentwickelten systemtheoretischen Überlegungen Manfred Rühls (vgl. Rühl 1969, 1980, 1996; Löffelholz 2000; Scholl 2002; Weber 2010a; Saxer 2012) sowie die systemtheoretische Medientheorie Niklas Luhmanns (vgl. Luhmann 1996; zuletzt 2004);
• der verständigungsorientierte Ansatz nach Jürgen Habermas (die sog. Theorie des kommunikativen Handelns – vgl. Habermas 1981, 1984, 1990; Burkart 2002; Burkart/Lang 2012) sowie auch handlungstheoretische Ansätze (vgl. Esser 2007; Reinemann 2007; Bucher 2000);
• der in den 1990er-Jahren auf die Kommunikationswissenschaft allgemein sowie auf den Journalismus im Besonderen bezogene (radikale) Konstruktivismus (vgl. Schmidt 1994; Merten 1995, 1999; Weber 1995, 1997; Scholl/Weischenberg 1998; Scholl 2002; Weber 2010 b);
• der auf Journalismus und Medien bezogene organisationstheoretische Ansatz (Altmeppen 2006, 2007; Bruch/Türk 2007);
• der auf Journalismus und Medien bezogene institutionentheoretische Ansatz (Kiefer 2010; Donges 2006; Künzler et al. 2013)
• milieu- und lebensstilbezogene Ansätze, insbesondere mit Bezugnahme auf das Kapital-, Feld-, Habitus-Konzept von Bordieu (Raabe 2005, 2007; Hanitzsch 2007, Hradil 2007; Willems 2007; Meyen/Riesmeyer 2009);
• ökonomikorientierte Ansätze (Jäckel 2007, Fengler/Russ-Mohl 2007, 2005; Just/Latzer 2010);
[24]• nicht zuletzt auch allgemeine und spezielle Ansätze mittlerer Reichweite in den Public Relations, wie sie dem »Handbuch der Public Relations« (Bentele et al. 2007; vgl. auch Signitzer 2012) zu entnehmen sind.
• Weiter zu erwähnen sind Theorien der Werbung (u. a. Rust 2012), der Medienpädagogik (u. a. Baacke 2012), Theorien der Cultural Studies (u. a. Pirker 2010); sowie etwa auch Feministische Medientheorien (u. a. Moser 2010).
Hinzu kommen zahlreiche, mehrheitlich aus dem angloamerikanischen Raum stammende und in die deutschsprachige Kommunikationswissenschaft übernommene theoretische Ansätze unterschiedlicher Reichweite, die sich z. B. auf Prozesse journalistischer Aussagenentstehung (wie die Gatekeeper- und Nachrichtenwerttheorien – vgl. u. a. Galtung/Ruge 1965; Schulz 1976; Staab 1990; Eilders 1997; Fretwurst 2008; Maier et al. 2010) sowie v. a. auf individuelle und gesellschaftliche Wirkungen bzw. Folgen von Publizistik und Massenkommunikation beziehen (vgl. u. a. Schenk 2007; Bonfadelli 2003,2004; Jäckel 2005; Winterhoff-Spurk 2004). Dazu gehören auch Theorieansätze über Wirkungen von Gewaltdarstellungen in den Massenmedien (vgl. u. a. Kunczik/Zipfel 2006; Kunczik 2002; Brosius/Schwer 2008). Bezüglich der zahlreichen in der Kommunikationswissenschaft vorzufindenden Wirkungstheorien soll der Hinweis nicht fehlen, dass die von Elisabeth Noelle-Neumann (1980) entworfene Theorie der Schweigespirale (vgl. Kap. 5.2.7) sowie der von Werner Früh und Klaus Schönbach (1982) entwickelte dynamisch-transaktionale Ansatz (vgl. Kap. 4.4.3.4) Theorieentwürfe deutschsprachiger Provenienz sind, die auch außerhalb Deutschlands, v. a. in der angloamerikanischen Kommunikationswissenschaft, rezipiert und diskutiert werden.
Zu vielen der oben erwähnten (sowie zahlreichen hier nicht angesprochenen) Theorien bzw. theoretischen Ansätzen gibt es mehrere Überblicksdarstellungen und Sammelbände (vgl. u. a. Kunczik 1984; Bentele/Rühl 1993; Bentele/Beck 1994; Weber 2010c; Burkart/Hömberg 2012; Rühl 2012). Modelltheoretische Darstellungen sind u. a. z. B. den Publikationen von Roland Burkart (2002), Denis McQuail (2012), Michael Kunczik und Astrid Zipfel (2005) sowie Heinz Bonfadelli et al. (2010) zu entnehmen. Viele theoretische Ansätze sind auch in die Ausführungen mehrerer Abschnitte der vorliegenden Publikation integriert.
Aus dem eben Ausgeführten über den Theorienpluralismus des Faches geht hervor, dass es die eine (Gesamt-)Theorie für Kommunikation, Massenkommunikation oder Onlinekommunikation, für Journalismus, PR, Organisationskommunikation oder Werbung etc. nicht gibt. Gerhard Maletzke resümierte 1998 kritisch, dass die Kommunikationswissenschaft von dem Ziel eines empirisch kohärenten Systems von Allgemeinaussagen noch weit entfernt sei. »Gegenwärtig besteht diese Wissenschaft unter dem Aspekt der Theorienbildung aus einer großen Zahl von Einzelsätzen, Hypothesen, Konzepten, die unverbunden und oft untereinander unstimmig auf sehr verschiedenen Abstraktionsebenen im Raum stehen« (Maletzke 1998, S. 102). Dies gilt – teils zumindest – auch heute noch. So heißt es etwa im 2008 verabschiedeten Selbstverständnispapier der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft (DGPuK 2008), dass im Fach »keine alles dominierende Theorie [existiert]«. Die Kommunikationswissenschaft sei vielmehr »durch einen Pluralismus der Theorien, Methodologien und Konzepte geprägt« und leiste »mit ihren Kommunikations- und Medientheorien einen wichtigen interdisziplinären Beitrag. Der im Fach häufig vertretene Typ von ›Theorien mittlerer Reichweite‹ ist mit dem Anspruch verbunden, Aussagen über klar begrenzte Phänomene der Wirklichkeit zu treffen und immer wieder zu prüfen« (DGPuK 2008, S. 3).
Ob es angesichts des Theorien- (und übrigens auch des Methoden-)Pluralismus jemals eine einheitliche Theorie von zwischenmenschlicher Kommunikation, Massenkommunikation, Onlinekommunikation, Werbekommunikation etc. geben wird, ist nicht absehbar und z. B. im Hinblick auf Medienwirkungen wohl auch nicht wünschenswert. Man stelle sich vor, es gäbe etwa in der sog. [25]wissenschaftlichen Rhetorik, wo es um Überzeugungskommunikation geht, empirisch absolut abgesicherte, einschlägige Erkenntnisse über die Wirkung von Argumentationen und Schlussfolgerungen in der (öffentlichen) politischen Kommunikation – der Manipulation der Leser, Hörer, Zuschauer und User wäre Tür und Tor geöffnet.
Um zu einer einheitlichen Theorie im Bereich der Kommunikationswissenschaft