Ich hatte einen Schießbefehl. Paul Küch
Читать онлайн книгу.Gesülze zum Halse heraus. Mir wurde langsam kalt und müde war ich sowieso, aber das Begrüßungszeremoniell schien kein Ende zu nehmen. Zu guter Letzt erfolgte eine zentrale Anwesenheitskontrolle, bei der jedem einzelnen Rekruten eine Nummer zugeordnet wurde, die der künftigen Kompaniezugehörigkeit entsprach. Hier trennten sich die Wege von Jörg und mir. Auch den bekannten Fußballer verlor ich vorläufig aus meinen Augen.
Auf der Kompanie sahen alle Stuben gleich aus. Trotzdem durfte man sich keine aussuchen, die Zimmerbelegung stand vorher fest. Sogar die Betten hatte man mit winzigen Namensschildern versehen. Ich lag unten rechts, gleich neben der Tür, und musste immer den Lichtschalter betätigen, weil ich am dichtesten dran war. Die neuen Kameraden, alle älter als ich, kamen aus der Hauptstadt, aus Sachsen-Anhalt und dem Spreewald. Auf einer Stube wohnten sechs Mann, die eine Gruppe bildeten. Ein Zug bestand aus zwei Gruppen. Am ersten Abend blieb wenig Zeit zum Kennenlernen, weil der Unteroffizier vom Dienst (UvD) ins Zimmer platzte, um verschiedene Anzugsordnungen zu befehlen, obwohl wir noch gar keine Uniformen hatten. Offensichtlich fehlte dem Vorgesetzten der militärische Durchblick und mir das Verständnis für eine Dialektik in seinen Überlegungen.
Anschließend marschierten wir in Zivilklamotten zum Speisesaal, der am Ankunftstag ausnahmsweise bis 22.00 Uhr geöffnet hatte. Die Schlange vor der Küchenluke war übersichtlich, denn viele Kollegen verzehrten den mitgebrachten Proviant. Ich zog das hiesige Abendbrot vor und merkte auf den ersten Blick, dass die Zusammensetzung des Essens dem Abiturlehrstoff in Biologie entsprach. Ausgewogene Mahlzeiten sollten alle Nährstoffgruppen enthalten. Es gab Kohlenhydrate in Form von Mischbrot, Fett stammte aus der Butter und ein Schmelzkäseriegel in goldenem Stanniolpapier, lieferte Eiweiß. Dabei hätte die warme Milch ausgereicht, um uns mit den notwendigen Nährstoffen zu versorgen. Nach einer Katzenwäsche fiel ich müde ins Bett. Für Leute mit langen Haaren wurde es weit nach Mitternacht, weil beim Friseur ein Riesenandrang herrschte. Manch ein Rekrut musste mehrmals zum Nachschneiden, da den Vorgesetzten die Schnittlänge missfiel. Meine Frisur war für die Ausbildung praktisch und pflegeleicht.
Die offizielle Einkleidung fand erst am nächsten Morgen nach dem Frühstück statt. Übereifrige Offiziere trieben uns in ein verwirrendes Labyrinth, das sich Zentrale Bekleidungs- und Ausrüstungskammer nannte. Zuerst erhielten wir eine große Zeltplane, die alle Utensilien aufnehmen sollte. Die verantwortlichen Unteroffiziere wurden bei der Ausgabe von Soldaten unterstützt, die zu rotieren begannen, nachdem uns die Vorgesetzten mit bloßen Augen vermessen hatten. Für meine tatsächliche Konfektionsgröße interessierte sich niemand. Schuhe, Stiefel, Koppel und Stahlhelm flogen in hohem Bogen auf die Zeltbahn. Die Stiefelpaare waren der Ordnung halber mit derbem Bindfaden aneinander gebunden. Beim Anprobieren musste man aufpassen, um nicht zu stolpern. Ich kam nur schleppend voran, weil der Kollege hinter mir ständig auf meiner Plane rumtrampelte. Ein weißer Kreidestrich am Boden wies den Weg von einer zur nächsten Station. Überall roch es streng nach Waschpulver. Ein Teil der Klamotten kam direkt aus der chemischen Reinigung. In der ganzen Hektik fiel es schwer, an jeder Station das passende Wäschestück zu ergattern. Vorgesetzte achteten mehr auf die Vollständigkeit der Klamotten. Eine Dienstuniform, eine Ausgangs- bzw. Paradeuniform und zwei Felddienstuniformen für Sommer und Winter nannte ich mein eigen. Um die Winter-Felddienstuniform in der Ausbildung zu schonen, bekamen wir eine steingraue Watteuniform, die offiziell bereits lange ausrangiert war.
Auf unserem Zimmer herrschte ein heilloses Durcheinander, als sechs Leute ihre gefüllten Seesäcke vor dem Spind einfach fallen ließen. Die Sachen purzelten kreuz und quer durch die Stube, dass niemand mehr genau wusste, welches Kleidungsstück zu wem gehörte. Um die Bezeichnungen der einzelnen Uniformen zu trainieren, befahlen die Vorgesetzten verschiedene Anzugsordnungen und es begann eine richtige Modenschau. Raus aus den Klamotten, rein in die Klamotten. Auf diese Art und Weise überprüfte man die Vollständigkeit unserer Ausrüstung. Kleidung, die nicht passte, durfte innerhalb einer Woche umgetauscht werden. Es dauerte den ganzen Vormittag, die einzelnen Uniformteile zusammenzubasteln. Mit einem scharfen Taschenmesser wurden widerspenstige Knopflöcher vergrößert. Die Lederriemen der Hosenträger schmierte man mit Melkfett ein, um sie geschmeidig zu machen. Beim Anknüpfen der Schulterstücke half mir ein freundlicher Ausbilder, weil ich mich so ungeschickt anstellte, dass er an mir ein Exempel statuieren konnte. Das Dummstellen brachte Vorteile mit sich, wenn man es nicht übertrieb. Während dieser Modenschau demonstrierte der Gehilfe des Unteroffiziers vom Dienst (GuvD) das ordnungsgemäße Einräumen der Schränke. Sportzeug, Pullover, Hemden, Unterwäsche und Kragenbinden gehörten auf Kante, Geldbörse und Wehrdienstausweis ins abschließbare Wertfach, Essbesteck und brauner Plastikbecher ins Lebensmittelfach mit dem Lüftungsschlitz auf der Rückseite, Schuhe und Stiefel ins Fach links unten, alle Uniformen auf Kleiderbügel sowie Teil 1 und 2 mit Schutzanzug, Gasmaske und Stahlhelm auf den Spind. Der UvD kontrollierte. Missfiel ihm die Ordnung, kippte er die Schränke so weit nach vorne, dass alle Klamotten herausfielen. Nach diesem Geduldspiel streiften wir die normale Winterdienstuniform über und marschierten zum ersten Mittagessen in Eisenach. Es gab langen Kohl, kurz gekocht, mit reichlich Kümmel für die Verdauung.
Am Nachmittag ging es in Ausgangsuniform zum Regimentsfotografen, da wir im Wehrdienstausweis ein Passbild in Uniform brauchten. Der anfängerhafte Gleichschritt hin und zurück erinnerte mich an den von der Abschiedsparty mit Jörg daheim. In Eisenach mussten wir ein Bein stramm durchdrücken und das andere mindestens 30 Zentimeter über den Erdboden anheben. Das nannte man richtig marschieren.
Auf der Kompanie wurde die Modenschau fortgesetzt. Wir streiften die braunen Trainingsanzüge über und liefen zum Med-Punkt, wo uns Doktor Schnelltod eine Tetanusspritze verabreichte. Das Lazarett beherbergte zu dieser Zeit zahlreiche Innendienstkranke, die ungeniert mit erschlichenen Attesten prahlten und Dienstbeflissene auslachten. Im Med-Punkt lernte ich Nachtblinde kennen, die sich bei Einbruch der Dunkelheit am Koppel des Vordermannes festhielten, wenn wir marschierten. Anfangs hatten wir nur einen einzigen Nachtblinden auf der Kompanie. Während der Ausbildung wurden daraus drei, weil diese Rekruten von bestimmten Nachtübungen befreit waren. Die Rolle eines Simulanten kam für mich nicht in Frage.
Nach dem Abendbrot verabschiedeten wir uns endgültig vom Zivilleben. Jeder Soldat erhielt einen Karton, um seine Privatklamotten nach Hause zu schicken. Am Ende dieses hektischen Tages hatte ich nur das Bedürfnis, schnell ins Bett zu kommen. Trotzdem nervte uns der UvD mit einem wissenschaftlich erprobten, minutiös geplanten Tagesdienstablaufplan, der ab sofort praktiziert werden sollte. Ich lag auf meiner Pritsche, verfluchte den Kerl mit der roten Armbinde und fragte mich, warum er die Unteroffizierslaufbahn eingeschlagen hatte? War er ein Mensch, der aus politischer Notwendigkeit drei Jahre zur Fahne ging oder ein Intellektueller, bei dem ein künftiger Studienplatz als intensives Druckmittel eingesetzt wurde? Da dieser Mann weder überzeugt noch sonderlich schlau wirkte, konnte es nur das Geld gewesen sein, das ihn zur Fahne brachte. Die vierte Möglichkeit, als Unteroffizier herauszufinden, was er im späteren Leben machen wollte, konnte ich an diesem Abend nicht mehr abwägen, denn der Schlaf übermannte mich.
Am nächsten Morgen machten die Vorgesetzten ernst, um 6.00 Uhr ertönte der erste Pfiff aus einer Trillerpfeife auf dem Flur. Das schrille Weckkommando konnte man nicht überhören. Ich sprang unverzüglich aus dem Bett, schaltete das grelle Neonlicht im Zimmer an, warf die Zudecke zum Auslüften über den vorderen Bettgiebel und streifte die knallrote Turnhose mit aufgenähter Tasche, das gelbe, gerippte Turnhemd, den braunen Trainingsanzug und die schwarzen Lederturnschuhe über. Wer gleich beim Aufstehen trödelte, handelte sich unnötige Strafrunden beim Frühsport ein. Während sich die selbstbewussten Berliner nochmal im Bett umdrehten, beeilte ich mich, aufs Klo zu kommen, weil ich einer der Ersten an den Urinalen sein wollte. Niemand mag es, den Andrang auf der Toilette in zweiter oder gar dritter Reihe abzuwarten, wenn man pinkeln muss. An der täglichen Morgengymnastik hatten alle gesunden Soldaten teilzunehmen, die Innendienstkranken mussten während dieser Zeit spazieren gehen. Drückeberger standen in dunklen Ecken und rauchten. Im Vergleich zur militärischen Körperertüchtigung (MKE) bei den Streitkräften der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) empfand ich Frühsport in Eisenach äußerst human. Die Soldaten der ruhmreichen Sowjetarmee traf ich daheim kilometerweit von der Kaserne entfernt, wo sie in Stiefeln, mit Uniformhose und freiem Oberkörper durch die Wälder rannten. Bei den Grenztruppen hingegen begnügte man sich mit gemütlichen Dauerläufen und gymnastischen Verrenkungen, die selbst Schwangere