Ich hatte einen Schießbefehl. Paul Küch

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Ich hatte einen Schießbefehl - Paul Küch


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Hause zu schaffen. Ein weiterer Vorteil bestand darin, dass mich niemand kannte. Ich brauchte keine Zeugen, die mir später nachsagten, dass ich mich blöd angestellt hätte. Diese Anonymität ließ meine Unsicherheit langsam weichen und meine Angst, den Kittel-und Uniformträgern hilflos ausgeliefert zu sein, schien unbegründet. Die Übermacht hatte ich mir größer vorgestellt. Natürlich flößten mir Menschen in Uniformen Respekt ein, aber ich gewöhnte mich schnell an die durchdringenden Blicke. Die Prozedur selbst bestand aus vier Abschnitten, die akribisch im Gesundheitsbuch festgehalten wurden. Dieses G-Buch musste ein wichtiges Dokument sein, denn auf der Titelseite prangte das Wappen unseres Arbeiter- und Bauern-Staates. Teil A beinhaltete Namen, Adresse, Geburtsdatum und Schulbildung. Im Teil B erfolgte eine Aufnahme von Erkrankungen in unserer Familie. Ein freundlicher Weißkittel mit Hornbrille auf der untersten Nasenspitze fragte nach Unfällen, ambulanten und stationären Behandlungen. Als er das mächtige Gestell abnahm, glich er einem schlitzäugigen Chinesen. Er rieb sich ein Auge und kniff das andere zu, was Krähenfüße in den Winkeln entstehen ließ. Der Brillensteg hatte auf der Nase einen terrassenähnlichen Abdruck hinterlassen. Sein Zinken wirkte wie eine Skisprungschanze. Der Arzt hauchte gegen die Gläser, polierte sie blitzblank und riskierte einen flüchtigen Kontrollblick. Das benutzte Stofftaschentuch verschwand jedoch nicht wieder in seiner Hosentasche. Er zwirbelte eine Ecke zu einer fingerdicken Wurst und steckte sich die Spitze abwechselnd in beide Nasenlöcher. Dazu bückte er sich unter den Schreibtisch, wobei seine Stirn beinahe gegen die Tischkante gestoßen wäre. Ich verschwieg, dass mein Vater während des Afrikafeldzuges im Zweiten Weltkrieg mit Malaria im Lazarett lag. Besonderen berufsbedingten Einflüssen wie Lärm, radioaktiven Strahlen und giftigen Substanzen war ich als Schüler der elften Klasse nicht ausgesetzt. Die Frage nach Nikotin konnte ich verneinen, der Gestank ekelte mich an. Erste heimliche Versuche, Filterzigaretten zu rauchen, lagen hinter mir. Schokolade schmeckte mir besser. Beim Thema Alkohol nickte ich zwar, aber der Doktor fand keine Anzeichen einer Abhängigkeit. Bettnässer war ich schon lange nicht mehr. Die Schwimmfertigkeit lag mit erreichter dritter Schwimmstufe vor. Bei sportlicher Betätigung trug der Arzt ein, dass ich organisiert Fußball spielte.

      Teil C umfasste die körperliche Untersuchung durch den Musterungsarzt. Nur in Unterhosen betrat ich barfuß einen Raum, in dem Einzelabfertigung herrschte. Bei einer Körpergröße von 185 Zentimetern wog ich 82,5 Kilogramm. Als mir der Doktor einen trockenen Holzspatel in den Rachen schob, musste ich würgen. Die Blutentnahme wurde von der Krankenschwester vorgenommen, die Protokoll führte. Der Musterungsarzt prüfte Ohren, Augen, Nase, Mundhöhle, Hals, Wirbelsäule, Lunge, Herz, Milz, Nieren und die Haut. Mein leichter Silberblick störte ihn nicht. Den dezenten Griff an die Männlichkeit begleitete ein „Husten sie mal!“, was die Schwester animierte, genauer hinzuschauen.

      Auf Grund der Befunde sollte im Teil D eine geeignete Waffengattung für mich festgelegt werden. Die Entscheidung der Musterungskommission bestand aus zwei Worten, motorisierter Schütze. Das hieß Angehöriger der Landstreitkräfte der NVA, kurz Mucker. „Ich, warum ausgerechnet ich?“, bohrte sich eine Frage in mein Hirn, die gewiss tausende Rekruten vor mir beschäftigt hatte. War das Zufall oder Schicksal? Keine andere Waffengattung hätte mich mehr treffen können, denn motorisierte Schützen galten im Krieg bestenfalls als Kanonenfutter. Enttäuscht von dieser Einstufung hätte ich fast die Frage nach der Dauer der Dienstzeit überhört. Länger als 18 Monate zu dienen, stand für mich nicht zur Debatte. Ich erhielt den grauen Wehrdienstausweis und eine persönliche Erkennungsmarke, auf der meine Personenkennzahl und die Staatsangehörigkeit DDR eingeprägt waren. Die sogenannte Hundemarke sollte im Ernstfall um den Hals getragen werden. Von meinem Vater wusste ich, dass er einmal das ovale Aluminiumschild eines Kameraden in der Mitte auseinanderbrach, als der Soldat im Zweiten Weltkrieg verstarb. Er nahm den unteren Teil mit und gab ihn beim Vorgesetzten ab. Der obere Teil verblieb zur Identifizierung bei der Leiche. In dem Zusammenhang erzählte mein Vater auch von ehemaligen Kameraden, die vor ihrer Erschießung im Kriegsgefangenenlager die Hundemarken zusammenrollten und verschluckten, um später erkannt zu werden. An ein solches Szenario wagte ich nicht zu denken.

      Trotz düsterer Aussichten fiel mir ein Stein vom Herzen, weil ich die Musterung überstanden hatte. Dafür belohnte ich mich mit Bier in der Wildgaststätte „Weidmannsheil“. Kurz nach 11.00 Uhr war ich der erste Gast, der den kalten Rauch vom Vorabend einatmen musste. Das vergilbte Schild „Bitte warten, Sie werden platziert!“ am Hirschgeweih überm Eingang ignorierte ich bewusst. Ich setzte mich an den verwaisten Stammtisch vorm Tresen und orderte hastig ein Bier, weil mir nur eine halbe Stunde bis zur Abfahrt des Busses blieb. Das erste Glas leerte ich in einem Zug und bestellte sofort ein zweites Bier nach. Als ich Soljanka verlangte, riet mir die kesse Kellnerin ab, weil die Suppe vom Vortag angeblich aus dem Topf stank. Dafür bekam ich einen doppelten Kräuterlikör auf Rechnung des Hauses, mit dem der Objektleiter einen Eintrag ins Gästebuch, dem Beschwerdebuch in Kneipen, verhindern wollte. Entgegen der Annahme des Wirtes war ich nicht der Typ, der sich beklagte. Wenn mir etwas nicht schmeckte, habe ich es stehengelassen, meine Rechnung bezahlt und das Lokal künftig gemieden.

      Hundemarke des Autors

      Wehrdienstausweis des Autors

      Ein Jahr später, am 10. September 1982, fand meine Einberufungsüberprüfung statt, was dafür sprach, dass ich bald zur Armee musste. Jede Veränderung gegenüber den früheren Musterungsbefunden trug ein Militärarzt penibel ins Gesundheitsbuch ein. Übereinstimmungen hakte er gewissenhaft ab, ohne sich dabei aus der Ruhe bringen zu lassen. Die trügerische Routine unterbrach ein Offizier mit einer Frage, die so viel Sprengstoff in sich barg, dass ich ihre Bedeutung nicht gleich erfassen konnte. „Genosse Küch, würden sie bei einem Angriff auf ihre Person von der Schusswaffe Gebrauch machen?“, bohrte der Uniformierte. In diesem Moment, in dem man mich mit einer scheinbar simplen Frage konfrontierte, deren Tragweite ich nicht übersah, fühlte ich mich total überfordert. Sollte ich ja sagen, um mein Studium nicht zu gefährden? Durfte ich überhaupt nein sagen und wenn ja, welche Konsequenzen würde das für mich haben? Selbstverständlich hätte ich mich verteidigt. Jeder Mensch verteidigt sich, wenn er angegriffen wird und mit einer Waffe ist das einfacher als mit bloßen Händen, sagte mir meine innere Stimme. Deshalb antwortete ich mit dem Wort aus zwei Buchstaben. Ich hielt mein Ja in dieser Situation für normal und merkte, dass alle Anwesenden mit der Antwort gerechnet hatten. Die Mitglieder der Einberufungskommission, die nicht an meiner grundsoliden sozialistischen Einstellung zweifelten, werteten meine Zustimmung als Bereitschaft und steckten mich an die innerdeutsche Grenze.

      Grenztruppen der Deutschen Demokratischen Republik hörte sich plötzlich so bedeutend an, viel wichtiger als motorisierter Schütze oder Mucker. Man hätte fast annehmen können, es würde sich um eine Auszeichnung handeln, denn ich war ein Kind zweier Genossenschaftsbauern, die in der Hierarchie der Klassen und Schichten im Lande hinter den Angehörigen der Arbeiterklasse lagen. Irrtümlich dachte ich, dass nur Söhne von Betriebsleitern, Kombinatsdirektoren oder Parteisekretären an die Grenze kamen. Bei den Grenztruppen herrschte eine bunte Mischung, was die Herkunft der Rekruten betraf. Damals habe ich dem Grenzdienst gleichgültig gegenübergestanden, weil ich wenig darüber wusste. Ich kannte die olivgrünen Uniformen, die mit dem Muster aus einem Strich und dann wieder keinem Strich abwechselnd verziert waren. Von dieser Anordnung stammte der Begriff Einstrich-Keinstrich, das Kurzwort für unsere Uniformen.

      Zur Ausbildung sollte ich ab November 1982 ins Grenzausbildungsregiment 11 nach Eisenach einrücken. Mit dieser Stadt verband ich die Wartburg und den gleichnamigen Pkw, das Aushängeschild der einheimischen Automobilindustrie. Dabei zählte Eisenach neben Weimar zu den deutschen Kulturhochburgen. Martin Luther versteckte sich hier auf der Wartburg, übersetzte als Junker Jörg das Neue Testament aus dem Griechischen ins Deutsche und schuf somit die Grundlage der deutschen Schriftsprache. Johann Sebastian Bach wurde am Frauenplan 21 geboren, Walter von der Vogelweide und Goethe waren in der Stadt zu Gast und der Dichter Fritz Reuter verbrachte hier seine letzten Jahre. Auf Grund ihrer Bedeutung in der deutschen Geschichte präsentierte sich Eisenach in einem für DDR-Verhältnisse erstaunlich gepflegten Zustand. Unsere Staatsführung verwendete erhebliche finanzielle Mittel, dass nicht nur die Wartburg für Touristen


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