Ich hatte einen Schießbefehl. Paul Küch
Читать онлайн книгу.Ich küsste Corinna zärtlich und streichelte ihr sanft über das Haar. Natürlich begehrte ich diese Frau, die energisch versuchte, mich abzuwimmeln. Warum bemühte sich Corinna, mir zu widerstehen? War ich tatsächlich zu jung für sie? Sie blieb hartnäckig und rückte den Haustürschlüssel nicht heraus. Allein die Kälte dieser Oktobernacht wäre ein guter Grund gewesen, mich aus reiner Nächstenliebe mit nach oben zu nehmen. Kurz vorm Morgengrauen gab sie endlich nach und zog mich die Treppe hoch in ihre Einraumwohnung unterm Dach des Mehrfamilienhauses. Verrückt nach Liebe landeten wir auf der gemütlichen Klappcouch, wo ich eine so bedingungslose Hingabe und Leidenschaft spürte, wie ich sie bisher nicht kannte. Ich schloss Corinna in die Arme und drückte ihren weichen, warmen Körper zärtlich gegen meinen. Sie wehrte sich nicht und wir liebten uns in tiefer gegenseitiger Hingabe. Noch Tage später atmete ich ihren unwiderstehlichen Duft an meinem Körper. Die Frau ging mir förmlich unter die Haut. Von Beginn an stand für mich fest, dass Corinna eine Nummer zu groß für mich war. Liebevoll erzog sie ihre kleine Tochter Meike. Pflichtbewusst arbeitete sie als Sekretärin im LPG-Büro. Während der Urlaubszeit half sie auf dem Feld oder im Stall. In ihrer praktisch eingerichteten Mansarde herrschten Ordnung und Sauberkeit. Corinna konnte waschen, kochen und backen. Sie mochte Rockmusik aus England, romantische Liebesfilme und verschiedene Literaturklassiker. Mir imponierte, dass sie die Bücher in ihrem Regal tatsächlich alle gelesen hatte. Was sich Corinna in den Kopf setzte, zog sie konsequent durch und vergeudete dabei keinen Augenblick. Damit legte sie hohe Maßstäbe an sich selbst. Von dieser Frau konnte ich mir eine ordentliche Scheibe abschneiden, denn sie wusste, worauf es im Leben ankam. Obwohl ich mir kaum Hoffnung auf eine feste Beziehung machen durfte, schwor ich mir damals, die oder keine.
Nach meinem Abschiedsspiel vor dem Grundwehrdienst gab es nicht nur Siegerbier in der Umkleidekabine. Mein Torwartkollege Norbert brachte selbstgemachten Pflaumenschnaps mit. Der Likör schmeckte lecker und verursachte anfangs kein Kopfweh, doch nach einer gewissen Zeit drehte sich alles vor meinen Augen.
Mannschaftsfoto vorm Abschiedsspiel am 30.10.1982
Zwei Mitspieler brachten mich nach Hause, wo ich meinen Rausch ausschlief. Als mich Norbert am Abend zur Abschiedsparty abholte, hätte ich lieber weiter geschlafen, aber meine Freunde erwarteten mich in der Bahnhofsgaststätte. Auf dem Weg dorthin bekam ich mächtig Schlagseite. Allein hätte ich die Strecke sicher nicht geschafft. Vorm Dorfkonsum begegnete uns eine Nachbarin mit ihrem Hund Scharik. Der Name entstammte dem treuen Gefährten von Janek aus der polnischen Fernsehserie „Vier Panzersoldaten und ein Hund“. Ich muss mächtig getorkelt sein, weil mich der Schäferhund in diesem Zustand nicht erkannte. Auf gleicher Höhe angekommen, sprang Scharik an mir hoch und biss mir in den linken Unterarm. Vor Schreck war ich sofort wieder nüchtern. Glücklicher Weise trug ich meine Jeansjacke unterm Anorak, so dass Fleisch und Knochen wenig abbekamen.
Trotz des Missgeschickes wurde es ein geselliger Abend. Die Wirtsleute Emmi und Heiner hatten den Billardtisch zu einer festlichen Tafel umgestaltet. Heiner schützte den grünen Filz mit einer exakt angepassten Holzplatte, Emmi deckte ein weißes Tafeltuch darüber. Ich mochte das freundliche Ehepaar mit den kleinen Macken. Emmi sah heimlich Westfernsehen. Wenn Heiner sie dabei überraschte, schaltete er sofort auf einen Ostsender um. Als aktives Mitglied der Kampfgruppe des Ortes befürchtete er, dass sich Emmi im Dorf verplappern könnte. Dabei guckten viele Einwohner täglich ARD und ZDF, aber nur wenige sprachen darüber. Den Abschied feierte ich gemeinsam mit Jörg, der wie ich zur Ausbildung nach Eisenach musste. Mein Mitstreiter war ein Jahr älter als ich und wohnte direkt neben der Gaststätte. Wie unser Land im Großen bildeten wir eine geschlossene Gesellschaft im Kleinen an diesem Abend, was ein Schild am separaten Eingang zum Billardraum dokumentierte. Im hinteren Teil der Gaststätte lief der normale Kneipenbetrieb weiter. Emmi und Heiner hatten viel Arbeit. Zur Einstimmung auf den Grundwehrdienst übten wir zu zweit marschieren. Anstelle einer Waffe schulterte jeder einen Billardqueue. Der Gleichschritt stellte für Jörg kein Problem dar, nur ich verlor das Gleichgewicht und rammte den Tresen. Päckchenbauen beendete unser vormilitärisches Treiben. In Anlehnung an das Fertigmachen zur Nachtruhe bei der Armee wurden sämtliche Klamotten nach Größe geordnet auf einem Hocker zusammengelegt. Wir übten mit der Kampfgruppenuniform und der langen Baumwollunterwäsche vom Gastwirt. Leider verstand Jörg die Aufgabe falsch, denn er zog sich vor den Anwesenden splitternackt aus, was einigen Mitschülerinnen die Schamesröte ins Gesicht trieb. Wie ein schwankender Leuchtturm versuchte er, die Unterwäsche überzustreifen. Da er mit beiden Beinen in ein und dasselbe Hosenbein stieg, kam mein Freund ins Schwanken. Als er sich am Tisch abstützte, verlor er das Gleichgewicht und landete mit den Händen auf den Tellern seiner Nachbarinnen. Zwei Zigeunersteaks und ein Teil der Sättigungsbeilage landeten auf der Tischdecke. Fettflecken zierten das weiße Tafeltuch und die lange Unterwäsche von Heiner. Während der Wirt sich den Ärger nicht anmerken ließ, starrten die Mädchen ihren Mitschüler Jörg entsetzt an. Der Rest der Feier fehlt in meinem Gedächtnis.
Am nächsten Morgen war das Aufwachen umso schöner. Gemeinsam mit Corinna und Meike genoss ich den vorläufig letzten Sonntag in ziviler Freiheit. Meine äußerliche Gelassenheit war gespielt. Seit ich den Einberufungsbefehl in der Tasche hatte, zerriss es mir das Herz, sobald ich an Abschied dachte. Ich wollte nicht weg, befürchtete den Verlust menschlicher Wärme und Geborgenheit. Abseits von persönlichen Verpflichtungen, Planerfüllung und Vorbildwirkung in der Gesellschaft hatten wir eine Nische gefunden, in der der Altersunterschied zwischen Corinna und mir keine Rolle mehr spielte, wo wir gleichberechtigte Menschen mit Träumen, Wünschen und Hoffnung waren. Insofern bildeten die beiden Wochen vor meiner Einberufung die glücklichste Zeit meines Lebens, die Lust auf mehr machte. Von der großen Liebe hatte ich keine Ahnung, weil ich das Gefühl bisher nicht kannte. Noch nicht. Ich war damals zu jung, um zu begreifen, dass ich bereits liebte. Wahrscheinlich überforderte mich dieses Eingeständnis, mit dem ich mich konkret auf einen Menschen festlegte. Dabei hatte ich die Liebe des Menschen, den ich am meisten mochte, längst angenommen.
Am 3. November 1982 brach eine neue Zeitrechnung für mich an, 542 Tage Grundwehrdienst lagen vor mir. Die Kälte dieses Herbsttages stand in krassem Gegensatz zu meinem Abschied von Corinna. Ein langer Kuss beschrieb alles, was wir in diesem Augenblick für einander empfanden. Immer wieder riss ich mich los und kam zurück, um sie noch fester zu umarmen. Schließlich kehrte ich nicht mehr um. Mein Vater fuhr Jörg und mich zum Bahnhof in die Kreisstadt, dem so genannten Gestellungspunkt, wo sich alle Rekruten des Kreises zur Abfahrt nach Eisenach trafen. Ich hatte keinen Alkohol eingepackt, wollte mit klarem Kopf im Grenzausbildungsregiment ankommen. Meine Haare waren kurz, dass ich in der Ausbildung nicht aneckte. Wäre ich mit meinem Vater allein im Auto gewesen, hätte ich wieder gefragt, wie viele Menschen er im Krieg erschossen hatte, um sein Leben zu verteidigen. Die Antwort blieb er mir leider schuldig. Vor Aufregung brachte ich kein Wort heraus. Mein Leidensgenosse hinter mir blieb ebenfalls still. Er machte Blasen mit seinem Kaugummi, was den nervösen Fahrer sichtlich störte. Regelmäßig schaute er in den Rückspiegel. Mir war klar, dass er etwas auf dem Herzen hatte. Der Vulkan neben mir brodelte heftig. Es schien eine Frage der Zeit, wann er ausbrechen würde. Mit einem Glückspfennig schob ich die Haut über die Halbmonde meiner Fingernägel zurück und wünschte mir nichts sehnlicher als eine Autopanne, um den Zug zu verpassen. Aber unser 408er Moskwitsch, Baujahr 1970, lief zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk. „Diese Russenkarren sind unverwüstlich“, prahlte unser LPG-Vorsitzender oft und der musste es wissen. Schließlich transportierte er mit seinem Mossi riesige Findlinge vom benachbarten Acker in seinen Steingarten.
Der Motor vom Moskwitsch dröhnte in den unteren Gängen fast so laut wie ein Traktor. Ein Autoradio auf voller Lautstärke hätte es nicht geschafft, dieses Geräusch zu übertönen. Wir besaßen kein Radio im Fahrzeug, mein Vater musste sich auf den Verkehr konzentrieren. Er hielt sich konsequent an die Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung. Manchmal rollten wir im Leerlauf die Lieper Berge hinunter oder schlichen untertourig im höchsten Gang. Kurz vorm Abwürgen des Motors schaltete er herunter. Dabei umklammerte er in Zehn vor Zwei-Stellung das Lenkrad wie im Lehrbuch. Wenn Vati am Steuer saß, wusste ich nie so richtig, ob ich die Augen öffnen oder besser schließen sollte. Doch zum Meckern fehlte mir die Lust. Ich gebe zu, dass wir uns nicht immer verstanden haben. Aber ich zweifelte nie daran, dass ich mich auf meinen Vater verlassen