Ich hatte einen Schießbefehl. Paul Küch
Читать онлайн книгу.an die Leistungsspitze in der Klasse zu suchen, sammelte ich fleißig Tadel für undiszipliniertes Verhalten und wäre um ein Haar von der Penne geflogen.
Den ersten Tadel gab es fürs Schulschwänzen, so formulierte es der Klassenlehrer später. Dabei war ich am Tag der vierstündigen Matheklausur krank, was ein Attest bestätigte. Die ganze Woche blieb ich zu Hause und hütete das Bett. Da ich am Sonntag Fußball spielen wollte, fuhr ich am Samstag zur Penne in der Annahme, dass die Klausur längst geschrieben wäre. Auf dem Schulhof traf ich einen Streber aus meiner Klasse, der mir mitteilte, dass die Klausur genau auf diesen Tag verlegt wurde. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Sicherheitshalber machte ich mich wieder auf den Heimweg, denn die Mathematikarbeit wollte ich nicht verhauen. Mein Mitschüler verpetzte mich, sodass ich am nächsten Montag vor die Klasse treten durfte, um Farbe zu bekennen. Als ich meine kurzfristige Anwesenheit an dem besagten Samstag leugnete, erhob sich der Streber vom Platz und widerlegte meine Version der Geschichte. So stand Aussage gegen Aussage und es blieb dem Klassenlehrer nichts anderes übrig, als mich zu bestrafen. Den zweiten Tadel zog eine Nichtteilnahme am Sportunterricht, meinem Lieblingsfach, nach sich. Unser Lehrer hatte in der Vorwoche versprochen, mit uns Hallenfußball zu spielen. Als die Sportstunde anbrach, wollte er nichts mehr von seinem Versprechen wissen. Er jagte alle Schüler aus der Turnhalle nach draußen auf den Sportplatz, wo sie Ausdauerlauf trainierten. Nur der harte Kern der Klasse wehrte sich gegen diese Verfahrensweise. Gemeinsam mit drei anderen Jungs blieb ich in der Halle sitzen. Unsere Sturheit wurde zu einem regelrechten Politikum aufgebauscht, das sich angeblich am 1980 begonnenen Streik auf der Lenin-Werft in Danzig orientierte, aus dem später die freie Gewerkschaft Solidarnosc entstand. Der dritte Tadel war politisch noch brisanter als der zweite. Ausgangspunkt der Strafe bildete der 60. Geburtstag meines Vaters, wofür ich an diesem Freitag schulfrei bekam. Am folgenden Samstag hätte ich wieder zur Penne gemusst, doch ich lag verkatert im Bett und dachte überhaupt nicht ans Aufstehen. Meine Mitschüler hatten an diesem Samstag unterrichtsfrei, weil sie am Vortag in Berlin eine Delegation aus Laos verabschieden mussten, die vom 11. bis 16. April 1981 am
X. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) teilnahm. Natürlich hätte ich mit in die Hauptstadt fahren müssen, aber die aufgezwungene Stimmungsmache ging mir mächtig gegen den Strich. Freiwillig beteiligte sich niemand aus der Klasse am Personenkult, da dieser von ganz oben befohlen wurde und mit hohem Aufwand verbunden war. Im Kunstunterricht bastelten wir rote Nelken, weiße Friedenstauben und blaue Papierfähnchen. Mit diesen Winkelementen wedelte man in der Luft herum bis das Flugzeug abhob. Im Bus nach Berlin wurden Verpflegungsbeutel verteilt. Sie waren mit einem Kakaotrunk, zwei trockenen Brötchen, einer Wurstkonserve, einem Riegel Schmelzkäse und einem Apfel bestückt. Jeder Abiturient erhielt eine Spalierkarte mit genauer Platzangabe, um sich auf dem großen Rollfeld nicht zu verlaufen. Dabei konnte man sich bei dem Aufgebot an Sicherheitskräften überhaupt nicht verirren, wie mir meine Mitschüler berichteten. Wahrscheinlich befürchteten die Genossen, dass man bei dieser Gelegenheit ein Flugzeug in den Westen besteigen könnte.
Meine Mitschüler fuhren mit in die Hauptstadt, um am Samstag nicht zur Penne zu müssen. Keiner gab offen und ehrlich zu, was er über derartige Pflichtveranstaltungen dachte. Nur ich tanzte wieder aus der Reihe. „Ich fahre doch nicht nach Berlin, nur um dort den Haufen zu vergrößern“, prahlte ich in einem benachbarten Partykeller, wo wir uns nach Tanzveranstaltungen trafen und gemeinsam feierten. Die Tochter des Hauses war mit einem Stasi liiert, flüsterte man sich im Dorf. Diese Bezeichnung für Nachwuchskader des Ministeriums für Staatssicherheit ist üblich gewesen bei uns. Schon als Kind hielt ich ihn für ein unbeschriebenes Blatt, denn er war ruhig und zurückhaltend. Mit seinem unauffälligen Äußeren konnte der Stasi keinem Menschen Angst einflößen. Als ich die neunte Klasse der Penne besuchte, legte er dort gerade das Abitur ab und gab mir wertvolle Tipps über einzelne Lehrer und deren Klassenarbeiten. Den wahren Grund seines Kriminalistikstudiums, die Karriere im obersten Kontrollorgan des Staates, erwähnte der Stasi nicht. Der Freund der Tochter des Hauses reagierte verzögert auf meine Prahlerei, was wohl am Alkohol lag. Schwankend erhob er sich vom Stuhl und blickte mich vorwurfsvoll an. Der Stasi zog seinen Ausweis aus der Tasche, hielt mir diesen vor das Gesicht und fragte, ob ich den Satz wiederholen würde. Was folgte, war Totenstille. Niemand traute sich, etwas zu sagen. Ich hatte mit meinem unüberlegten Satz eine Linie überschritten und keiner wusste, wie damit umzugehen war. Alle schwiegen, versteckten sich, um die Angst vor den Folgen einer eigenen Meinungsäußerung zu ertragen. Ich sah dem Stasi in die Augen und spürte, wie mein Gesicht rot anlief. Während die Gastgeberin noch versuchte, ihren Freund zu besänftigen, stichelte dieser munter weiter. Anscheinend erwartete er eine Reaktion von mir. Die anderen Gäste schauten still auf den Fußboden, um den Blicken des Stasi auszuweichen. „Das wird mir jetzt zu heiß hier“, antwortete ich wütend und lief die paar Schritte nach Hause. Nachts konnte ich nicht schlafen, weil ich Angst davor hatte, dass man mich in der Penne verpfeifen würde. Dann wäre mein Abitur dahin und ohne Abi durfte man nicht studieren. Ich befürchtete Verhaftung, Jugendwerkhof oder Knast. Den ganzen Vormittag lag ich im Bett und grübelte. Mittags besuchte mich mein Kumpel Hardy, der als Augenzeuge alles mitbekommen hatte. „Du hast doch nur ausgesprochen, was du gedacht hast, Paule!“ Genau da lag mein Problem. Man durfte nie offen sagen, was man wirklich dachte. Schweigen wäre besser gewesen, das hatte ich für einen Moment vergessen. „In der DDR existieren zwei Wahrheiten“, predigte mein Vater stets. Die erste, die man im Herzen trug, kursierte in den eigenen vier Wänden und durfte nicht nach außen dringen. Die andere Wahrheit galt für Schule, Arbeitsstelle und Partei. Überall traf man diese Doppelzüngigkeit bei uns an. Etwas zu wissen und nicht darüber reden zu dürfen, die eigene Meinung zurückhalten und lieber schweigen oder nur das Geforderte sagen. Man hatte eine Rolle zu spielen und viele machten mit. Bereits als Jugendlicher war ich genauso verlogen wie Erwachsene. Entweder belogen wir uns gegenseitig oder man belog sich selbst und hielt damit das kaputte System in unserem Staat am Leben. Das wurmt mich noch heute. Die politische Wende in der DDR wäre früher gekommen, wenn mehr Menschen den Mut gehabt hätten, sich die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. „Der Stasi wird dich nicht verpetzen“, meinte Hardy. Sein ehrliches, aber naives Mitgefühl konnte mich nicht aufheitern. Würde mich der Stasi anzinken, um Pluspunkte für seine Laufbahn zu sammeln? Ich war mir nicht sicher und rechnete mit dem Schlimmsten. Der folgende Montag sollte endgültig Klarheit bringen.
Meine Eltern waren morgens im Stall, als ich meine Garderobe auswählte. Ich kleidete mich seriös, wollte die erwarteten Anfeindungen umgehen und verzichtete auf Jeans, Abzeichen und Aufnäher. Stattdessen entschied ich mich für eine braune Anzughose aus Präsent 20, einem Stoff aus Chemiefasern, den man zum 20. Geburtstag unserer Republik kreiert hatte. Dazu trug ich ein helles Oberhemd und eine beigefarbene Cordjacke von Jumo, dem Ausstatter für Jugendmode in unserer Republik. Die braunen Halbschuhe polierte ich, bis ich mich darin spiegeln konnte. Mir fehlte nur der Schlips und ich wäre selbst als Pauker durchgegangen. Die neugierigen Blicke auf dem Weg zum Bahnhof, die meine ungewohnte Verkleidung anzog, verunsicherten mich noch mehr. Ich spürte, dass dieser Montag nicht mein Tag werden würde. Im Zug geriet ich prompt in eine der eher seltenen Kontrollen und stellte entsetzt fest, dass meine Wochenkarte bereits abgelaufen war. Wütend warf ich das alte Ticket auf den frisch geölten Fußboden des Abteils. Mein rowdyhaftes Verhalten veranlasste den Schaffner, die Bahnpolizei am Zielbahnhof zu verständigen. Auf dem letzten Bahnsteig trainierte ein freundlicher Ordnungshüter mit mir, wie man einen ungültigen Fahrausweis zielsicher in den Papierkorb wirft. Der Bahnpolizist entließ mich mit der Maßgabe, eine neue Wochenkarte zu kaufen. Nun musste ich noch an den asozialen Elementen vorbei, die an der Ecke vorm Intershop auf milde Gaben der Kundschaft lauerten. Abwechselnd hielt einer der Gelegenheitstrinker seine Bierflasche gegen das erwachende Sonnenlicht und prüfte, ob der Inhalt noch für einen Schluck ausreicht. Sein Kumpel wedelte mit einem lilafarbenen Forumscheck, um seinen Reichtum zu zeigen. Ich bog um die Ecke in die Heinrichstraße und erkannte von weitem unseren Direktor, der auf der obersten Treppenstufe thronte wie Lenin vorm Olympiastadion in Moskau. Alle Schwerter samt Pflugscharen passierten den Schulleiter, sogar die rollenden Steine durften dieses Mal rein. Herr Doktor ignorierte sämtliche Embleme, denn er wartete nur auf mich. Obwohl ich auffällig unauffällig gekleidet war, verwehrte er mir den Zutritt ins Schulgebäude. „Küch, folgen sie mir ins Lehrerzimmer!“, fuhr mich der Pauker energisch von der Seite an. Im Sekretariat redete ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte, auf den Parteisekretär