Ich hatte einen Schießbefehl. Paul Küch
Читать онлайн книгу.wird man aus dem Bezirk Frankfurt an der Oder in den Bezirk Erfurt befohlen? Einfach deshalb, weil unser Staat kriegsähnliche Verhältnisse simulierte und junge Leute so weit wie möglich von zu Hause wegschickte. Aus dem Osten des Landes verfrachtete man sie an die Westgrenze und umgekehrt. Jungs aus dem Norden mussten im Süden dienen und anders herum.
Die Aussicht, dass mir zwei Winter an der Grenze bevorstanden und nicht zwei Sommer, war vorteilhaft, da man sich in der warmen Jahreszeit angenehmer vergnügen konnte als in der kalten. Das galt vor allem, wenn eine Freundin, Verlobte oder Ehefrau daheim existierte. Der Grundwehrdienst bildete einen echten Prüfstein für die Liebe. Genau an diesem Punkt begann mein Problem. Sollte ich so kurz vor der Armeezeit das Risiko einer neuen Beziehung eingehen?
Aller Abschied fällt schwer
Auf dem Weg zur Penne kam mir täglich eine junge Frau mit einem Moped entgegen. Man konnte die Uhr nach ihr stellen, denn pünktlich um 7.00 Uhr brauste sie an mir vorbei und grüßte jedes Mal freundlich. Wie sich Corinna mit ihrer orangefarbenen Schwalbe in die Kurven legte, war sehenswert.
Sie arbeitete als Sekretärin in der LPG, wo auch meine Eltern unseren Lebensunterhalt verdienten. Corinna gefiel mir mit ihrer mittelblonden Mähne und dem schelmischen Lächeln auf Anhieb. Sie hatte graugrüne Augen, einen begehrenden und zugleich begehrenswerten Blick sowie Kurven satt. Ihre Weiblichkeit verlieh jedem Kleidungsstück etwas Besonderes, das nicht nur meine Sinne, sondern auch mein Herz berührte. Wenn ich Corinna sah, ging es mir gut.
Um an Informationen über sie zu kommen, bemühte ich ihren jüngeren Bruder, der die Berufsschule in der Nachbarkreisstadt besuchte und ebenfalls mit dem Zug fuhr. Doch Ralf verstand nicht, dass ich Gefallen an seiner Schwester gefunden hatte. Er war so verschlossen, dass ich nichts aus ihm herausbekam. Also musste ich mich selber kümmern. Sehnsüchtig fieberte ich dem wöchentlichen Training der Damen-Gymnastikgruppe unseres Dorfes entgegen und beobachtete Corinna, die sich elegant über den Mattenboden bewegte. Während der Festumzüge am 1. Mai und 7. Oktober stand ich am Straßenrand, um Corinna zu sehen, die im Gleichschritt des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) der DDR marschierte. Die pure Lebensfreude, die von ihr ausging, wirkte ansteckend. Wenn ich Corinna mit meinen bisherigen Eroberungen vergleiche, müsste ich die jungen Frauen kränken. Um nicht missverstanden zu werden: Alle Mädels waren auf ihre Art nett, liebenswert und ich bereue keine der Beziehungen. Jedoch steckte der Damennachwuchs wie ich in der pubertären Erkundungsphase. Corinna wirkte mit ihrer Lebenserfahrung wesentlich reifer. Ich machte mir wenig Hoffnung, da sie fünf Jahre älter war und zwischenzeitlich auch verheiratet. Mit diesen Tatsachen wollte ich mich nicht abfinden. Auf der Suche nach einer passenden Gelegenheit, meinen Schwarm wiederzusehen, half mir der Zufall.
Mein lahmes Moped, das ich mir vom Jugendweihegeld kaufte, hatte ich mit Wertausgleich gegen ein Motorrad vom Typ MZ TS 150 eingetauscht, das nicht anspringen wollte. Trotz neuer Zündkerze gab das Motorrad keinen Laut von sich. Wütend warf ich das Werkzeug durch die Garage, bis diese einem Schlachtfeld glich. Ich gebe zu, dass ich von Technik keine Ahnung hatte. Auch mein Sinn fürs Praktische ließ zu wünschen übrig, aber ich erkannte, dass ich fachmännische Hilfe brauchte. Da nur ausgewählte Haushalte in unserem Dorf über einen Telefonanschluss verfügten, radelte ich zum LPG-Büro. Von dort aus wollte ich eine Werkstatt anrufen, um einen Reparaturtermin zu vereinbaren.
Als ich schüchtern den Raum betrat, verflog der ganze Ärger mit dem Motorrad. Meine Traumfrau, die auf eine Optima-Schreibmaschine einhämmerte, grüßte freundlich, ohne das Tippen zu unterbrechen. Hinter ihrem rechten Ohr klemmte ein angespitzter Bleistift, was mir Respekt einflößte. In dem Moment vergaß ich alle Komplimente, die ich mir mühsam ausgedacht hatte. Ich war so nervös, dass ich erst nach einigen Augenblicken den Mut fand, sie anzusprechen. Mit hochrotem Kopf schilderte ich das technische Problem und bat die Sekretärin um Unterstützung. Corinna unterbrach ihre Arbeit und musterte mich von oben bis unten. Wenn ich das geahnt hätte, wäre mein Blaumann in der Garage geblieben. Wer bei uns im Dorf nicht in Arbeitsklamotten oder im Trainingsanzug umherlief, der hatte entweder Geburtstag oder es war Feiertag. Corinna verschränkte beide Arme, sah mitleidig zu mir rüber und bemerkte, „dass der Teufel so manches Mal direkt im Detail stecken würde.“ Ich hielt die treffliche Fehlerdiagnose der Tippse für blanken Wahnsinn und sah sie mit einer Mischung aus Erstaunen und Zuneigung an. Corinna blätterte im Telefonbuch, wählte die Nummer der Werkstatt und reichte mir den Hörer. Aufgeregt griff ich daneben und spürte ihre warme, weiche Hand, die ich nicht loslassen wollte. Mein Telefonat geriet völlig zur Nebensache, als sie sich lässig zurücklehnte und die Arme hinterm Kopf verschränkte. Verlegen schielte ich auf ihr pralles Dekolleté, das die Rüschenbluse in Altrosa ausfüllte. Mir wurde schlagartig klar, dass Corinna mehr verdient hatte als meine heimliche Bewunderung.
Diese Frau hätte man mit Zärtlichkeiten überschütten müssen in jeder Sekunde des Tages und warum sollte ich das nicht tun. Wenn der LPG-Vorsitzende nicht ins Zimmer geplatzt wäre, hätte ich wahrscheinlich die Beherrschung verloren. Stattdessen bedankte ich mich höflich und verließ das Büro in der Hoffnung, dass ich der freundlichen Sekretärin in Erinnerung bleiben würde.
Der Autor mit seiner MZ TS 150
Ein anderes Mal traf ich Corinna in unserem Dorfkonsum, wo sie in der Mittagspause regelmäßig einkaufte. Sie trug ein braunes Sommerkleid, das vorne durchgehend zu knöpfen war. Die oben und unten offene Knopfleiste gestattete mir tiefe Einblicke. Ich hätte beinahe die Konsummarken vergessen, die meine Mutter sammelte. Corinna stand vorm Feinkostregal, sah einmal nach links, einmal nach rechts und wieder nach links. Scheinbar unbeobachtet, griff sie gezielt nach dem Mostrich aus Bautzen. Es blieb jedoch nicht bei einem Becher. Sie hortete emsig, denn ich zählte 36 Stück in ihrem Einkaufskorb. Wofür brauchte man nur so viel Senf? Während ich noch überlegte, fand der Hamsterkauf bereits erste Nachahmer. Alle Kundinnen, die Corinna beobachtet hatten, griffen eilig zum Mostrich. Es entbrannte ein heißer Kampf um die verbliebenen Becher im Regal. Die Leute tuschelten, dass demnächst ein Senfmangel im Handel bevorstände. Ich staunte über das auffällige Kaufverhalten, das meine Traumfrau mit ihrer Hamsteraktion auslöste. Während sie die Ware an der Kasse bezahlte, ging ich zurück und packte sicherheitshalber zwei Becher Senf in meinen Einkaufskorb. Man konnte ja nie wissen, wann es wieder Mostrich gab. Ich hätte mehr genommen, aber das Feinkostregal war leergefegt.
Genau 14 Tage vor meiner Einberufung sah ich Corinna bei einer Disko, wo sie in einem grünen Strickpulli und hautengen Bluejeans den Saal rockte. Dieser Anblick bestätigte meinen Entschluss, endlich anzugreifen. Aber das Auseinandertanzen lag mir nicht. Die Frau auf diesem Wege zu erobern, fiel also aus. Ich tanzte lieber zusammen oder rockte bei „Hiroshima“ von Wishful Thinking kniend auf dem Fußboden. Dabei konnte man keinem auf die Schuhe treten. Einen Kompromiss bildete die langsame Runde, die häufig als seichtes Vorspiel am Ende der Veranstaltung gespielt wurde. Im Dunkeln hätte niemand einen Fehltritt bemerkt. Wenn ich schon nicht alt genug war, musste ich wenigstens für mein Alter perfekt wirken. Ich bestellte mir beim Diskjockey mein Lieblingslied, „Am Fenster“ von City, das er sowieso zum Abschluss spielen wollte. Als die ersten Geigenklänge aus den Lautsprecherboxen auf der Bühne zu hören waren, forderte ich Corinna zum Tanzen auf. Sie lächelte verschmitzt und folgte mir aufs Parkett. Die neugierigen Blicke ihrer staunenden Freundinnen ignorierte ich. Beim Tanzen bewegten wir uns kaum von der Stelle. Während ich ihre Nähe genoss, plapperte Corinna munter drauflos wie das Frauen so an sich haben. Da ich nur die Hälfte der Nettigkeiten verstand, schmiegte ich mich noch enger an sie heran. Für diesen Augenblick hatte ich den ganzen Aufwand betrieben und wurde nicht enttäuscht. Irgendwann küsste ich Corinna flüchtig auf den Mund. Sie erwiderte meinen Kuss und ich legte nach. Das klebrige, rote Zeug auf ihren weichen Lippen reichte für zwei. Unsere kleinen, heimlichen Zärtlichkeiten bestärkten meinen Wunsch, dass der gemeinsame Abend kein Ende nehmen sollte. Nach der Disko brachte ich Corinna bis vor die Haustür und fragte zuerst nach dem Senf, worauf eine simple Erklärung für den Hamsterkauf folgte. Corinnas Mutter, die Verkaufsstellenleiterin des Konsums in der Nachbargemeinde, hatte einfach vergessen, Senf zu bestellen. Die kluge Geschäftsfrau beauftragte ihre Tochter, Mostrich im Nachbardorf