Ich hatte einen Schießbefehl. Paul Küch

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Ich hatte einen Schießbefehl - Paul Küch


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Jahre den Fotozirkel und begleitete uns zu Konzerten sowie zum Fußball. Damit weckte er in uns die Lust auf das Leben und begeisterte indirekt für die Schule. Leider stieß mein Klassenlehrer mit seinen fortschrittlichen Erziehungsmethoden an Grenzen, die der Direktor unserer Schule bestimmte. Herr Klippenroder zog daraus die Konsequenzen. Auf Grund seines chronischen Heuschnupfens, wie später von offizieller Seite zu hören war, siedelte er an die Ostsee um, wo er heute mit seiner Familie ein kleines Eiscafé betreibt. Er schuf Arbeitsplätze und bereitet kleinen und großen Naschkatzen viel Freude.

      Doch zurück zu mir. Im Sommer 1978 delegierte mich der Direktor an die Erweiterte Oberschule (EOS) der Nachbarkreisstadt. Ich war zwar ein ausgezeichneter Schüler, aber die Lehrer übertrieben die positive Benotung bei mir. Im Grunde genommen musste man nur genau das sagen, was die Pauker von uns hören wollten. Der Lehrer, der uns in die sozialistische Produktion einführte, verlangte alle Definitionen Wort für Wort, als käme es in der Praxis nur darauf an. Manchmal war es mir regelrecht peinlich, dass man mich mit Einsen überhäufte. Sogar in den Kopfnoten Betragen, Fleiß, Mitarbeit und Ordnung standen nur sehr gute Zensuren. Meine Lehrer entschieden damit, dass ich Abitur machen durfte. Die Anzahl der Abiturienten, die sich nach volkswirtschaftlichem Bedarf richtete, bestimmte der Staat. Mit Beginn der neunten Klasse sollte ich mich zwei Jahre lang an die höheren Anforderungen der Abiturstufe gewöhnen. Da man mich in der Penne nicht mehr wegen meiner Leibesfülle hänseln konnte, prangerten die Älteren meine Herkunft an. Ich kam nicht vom Lande, sondern man nannte mich den Bauern. Das war eines der schlimmsten Schimpfworte im Osten und folgte gleich hinter Assi, dem Kürzel für asoziale Elemente, die keiner geregelten Arbeit nachgingen und täglich zehn Mark für Verpflegung vom zuständigen Amt bekamen. Von diesem Geld konnte ein DDR-Bürger auf Grund staatlich subventionierter Preise für Grundnahrungsmittel satt werden. Wer wenig Alkohol vertrug, wurde sogar besoffen davon. Die armen Menschen tauchten in keiner Arbeitslosenstatistik auf, weil es die im Sozialismus nicht gab.

      Der neue Schulleiter hätte es gern gesehen, wenn alle Pennäler in den gleichen Uniformen herumgelaufen wären. Morgens stand er auf der Treppe vor dem Eingang und musterte jeden Schüler von oben bis unten. Lange Haare und Ohrringe bei den Jungen mahnte er an, spitze Kanülen verschwanden sofort vom Kragen. Die Spritzenaufsätze wurden getragen, um zu zeigen, dass man sich den Sozialismus nicht einimpfen lassen wollte. Herr Doktor hatte Spaß, Pins der Rolling Stones einzusammeln. Wenn wir Glück hatten, durften die beschlagnahmten Abzeichen am Ende des Schuljahres im Sekretariat wieder abgeholt werden. Bei einem Pfarrerssohn aus meiner Klasse beanstandete der Direktor den Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ am Ärmel. Das Zitat aus der Bibel, das für Frieden und Abrüstung stand, wurde seit 1980 zum Symbol der Friedensbewegung in unserem Lande. Propagandaträchtig setzte sich die DDR international für den Weltfrieden ein, aber Frieden schaffen ohne Waffen wollte unser Staat nicht. Aus dem Grund zwang der Direktor meinen Mitschüler, den Aufnäher abzutrennen. Der Schulleiter quälte nicht nur Schüler, sondern auch die Mitarbeiter der Schule. Von den Reinigungsfachkräften verlangte er, ihn stets mit „Herr Doktor“ anzusprechen. Die klugen Putzfrauen revanchierten sich, indem sie den Titel mehrmals in einem Satz verwendeten. „Herr Doktor, wünschen Herr Doktor, dass wir die Aula putzen, Herr Doktor?“ Diese Provokation schien dem Direktor zu gefallen. Der einzige Mensch, der dem Oberpauker Paroli bot, war unser Hausmeister. Sobald der alte Egon das Lied „Flieg nicht so hoch, mein kleiner Freund!“ durch seine dritten Zähne pfiff, verschwand der Schulleiter mit bösem Blick im Lehrerzimmer.

      In der EOS galt unter den Schülern eine spezielle Hackordnung. Wer die Rolling Stones nicht mochte, wurde als Weichei verschrien. Also beschäftigte ich mich intensiv mit dieser Musik, ohne die Texte richtig zu verstehen. Nächtelang überspielte ich mit einem befreundeten Schallplattenunterhalter die Lieder der rollenden Steine vom Tonband auf meine Kassetten. Ich trug das Abzeichen der Gruppe am Kragen und die herausgestreckte Zunge am Ärmel meiner Jeansjacke, denn mit meiner Vorliebe für die City-Rockband aus Ostberlin wäre ich weit weg vom Fenster gewesen.

      Als Jüngling zählte man ebenfalls zu den Außenseitern. Deshalb bevorzugte ich ältere Mädchen, die Erfahrung mitbrachten und nicht von der Penne stammten, um späterem Getratsche vorzubeugen. Ich wollte nicht, dass die Mädels in der Schule erzählten, was gelaufen war und was nicht.

      Nach Unterrichtsschluss lernte ich zufällig eine hübsche Verkäuferin kennen, die zu den freundlichen ihrer Zunft gehörte. „Haben wir heute leider nicht, bitte fragen sie morgen wieder nach!“, lautete eine ihrer versierten Alibiantworten. Anstelle von Alkohol kaufte ich täglich 200 Gramm Kokosflocken mit Schokoladenüberzug, wenn Kirsten am Süßwarenstand bediente. Ich schaute ihren spröden, zierlichen Händen gern beim Eintüten zu. Mit einer kleinen, silbern glänzenden Schippe transportierte sie leckere Süßigkeiten in eine spitze Papiertüte mit dem Aufdruck „Gut gekauft - gern gekauft“. Jeden Tag fielen mehr Pralinen daneben. Ich merkte der errötenden Verkäuferin an, dass ich sie mit meinem Schmunzeln zur Verzweiflung brachte. In ihrer Verlegenheit fragte sie stets, ob es denn ein wenig mehr sein dürfte. Natürlich wollte ich mehr von ihr als kalorienreiche Süßigkeiten, aber sollte ich deshalb gleich mit der Wahrheit herausrücken? Das gehört sich doch nicht. Nach genau zwei Wochen, zwei Kilogramm Kokosflocken und 14 Mark weniger in der Geldbörse, traute ich mich endlich, Kirsten einzuladen. Ich überraschte sie beim Sortieren in der Leergutannahme. Während mich Kirsten anstarrte, zerschellten einige Flaschen auf dem Steinfußboden. Das Scherbenaufsammeln beruhigte mich. Als leidenschaftlicher Kinogänger schlug ich für den Abend einen Besuch im Filmtheater vor, weil der schummrige Kinosaal eine hervorragende Kulisse zum Näherkommen bot. Sie schien sprachlos, willigte aber sofort ein. Meine Freude war riesig. Gleich nach Ladenschluss holte ich Kirsten ab. Dem Glaskasten am Eingang der „Uckermärkischen Lichtspiele“ konnten wir entnehmen, dass ein preisgekrönter sowjetischer Heimatfilm auf dem Programm stand. Die Vorstellung fiel aus, weil der Filmvorführer das Gerät für vier Leute nicht anwerfen wollte. Kamen weniger als fünf Besucher ins Kino, durfte die Veranstaltung abgesagt werden.

      Ersatzweise knutschten wir auf einer ramponierten Parkbank, während eine Gruppe alkoholisierter Rentner nebenan darüber stritt, ob die Erde eine Kugel oder ein Diskus wäre. Da die Verkäuferin zwei Jahre älter war, bekam sie von meinen Erzeugern keine faire Chance. Ich schlich mich abends aus dem Haus und fuhr zu Kirsten, um die Nächte mit ihr zu verbringen. Wenn meine Eltern morgens von der Arbeit aus dem Stall kamen, saß ich müde am Frühstückstisch. Den fehlenden Schlaf holte ich im Unterricht nach, was auf Dauer nicht gut gehen konnte. Obwohl wir einander nicht treu waren, verlobten wir uns heimlich. Wahrscheinlich fühlten wir uns beringt erwachsener, dabei waren wir eigentlich noch Kinder. Irgendwann begannen Streitereien, bei denen wir ständig aneinander vorbeiredeten. Über die Monate trennten wir uns einige Male und rauften uns wieder zusammen. Unsere Beziehung endete im Fiasko. Wir warfen uns nicht nur schmutzige Wörter an den Kopf, sondern auch die für Ostverhältnisse teuren Verlobungsringe. Trotzdem blieben wir sprichwörtlich gute Freunde und grüßen uns noch heute. Um im Falle einer Entlobung nicht ohne Freundin dazustehen, hielt ich parallel Kontakt zu einem Mädchen aus dem Nachbarort. Jana verkörperte in meinen Augen den Kumpeltyp, mit dem man Pferde stehlen konnte. Sie hörte verständnisvoll zu, wenn ich meine Probleme schilderte und tröstete mich über die beschriebenen Misserfolge hinweg. In der Woche arbeitete Jana im Halbleiterwerk der Bezirksstadt, wo sie Mikrochips nach japanischem Vorbild fertigte. An den Wochenenden halfen wir ihren Eltern und dem Opa in der Landwirtschaft. Die Freizeit verbrachten wir entweder in der freien Natur oder in der Disko. Leider kamen wir uns körperlich kein bisschen näher. Außer kuscheln und küssen passierte nichts. Jana wies all meine Bemühungen energisch in die Schranken und pochte vehement auf das Recht der ersten Nacht. Das fand ich zum Kotzen, doch meine Freundin blieb eisern. Angeblich waren wir nie allein, was ich nicht kapierte, da ich die Gelegenheiten stets günstig abpasste. Eines Tages hieß es, dass ihre Mutter das Essen vorbereitete, in der Küche war aber niemand. Deshalb durchsuchte ich die Wohnung, um den wahren Grund für Janas Zurückhaltung zu finden. Wie erwartet blieb meine Suche erfolglos. Der einzige Mensch, der kochte, war ich, allerdings innerlich. Enttäuscht über diese Begebenheit habe ich mich einfach aus dem Staub gemacht. So verloren wir uns drei Wochen vor meiner Einberufung für immer aus den Augen. Derart beschäftigt, fiel es mir schwer, mich auf den Lehrstoff zu konzentrieren. Mein Zensurendurchschnitt sank von 1,0 in der achten Klasse auf 3,0 in der Abiturstufe. Diese Note galt als die Eins


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