Blackout, Bauchweh und kein' Bock. Timo Nolle

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Blackout, Bauchweh und kein' Bock - Timo Nolle


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Unter dem Deckmantel »Prüfungsangst« verbirgt sich oft ein komplexes Gewebe verschiedenster Themen, die weit über den Schulhof oder den Campus hinausreichen. Die eine Herausforderung besteht darin, methodisch auf der ganzen Klaviatur von Lerntechnik und Arbeitsverhalten über Mental-Training wie im Leistungssport bis zur Reflexion von tradierten Glaubenssätzen sowie Beziehungs- und Familienthemen zu spielen. Eine weitere Herausforderung ist die Geschwindigkeit: Prüfungs- und Auftrittscoaching (PAC) muss häufig extrem schnell wirksam sein. Nicht selten heißt es: heute Coaching, morgen Prüfung. Auch eine einzige Sitzung am letzten Tag vor einer Prüfung sollte nützlich sein.

      Nach etwa zwei Jahren Erfahrung mit diesen spezifischen Anliegen beobachtete ich, dass sich Themenkonstellationen bei den Klienten und meine Prozessschritte offenbar wiederholten und einem bestimmten Muster folgten. Bei der Durchsicht Hunderter Beratungsprotokolle identifizierte ich drei zentrale Themenbereiche, die sich getrennt und in Wechselwirkung zueinander betrachten lassen. Diese drei Bereiche bilden ein Dreieck (Abb. 1).

      Bei meinem Versuch, die spezifische Dynamik zu verstehen, standen nicht wissenschaftliche Gütekriterien im Vordergrund. Mir ging es darum, ein Prozessmodell zu entwickeln, mit dem sich Beratungs- und Therapieprozesse initiieren lassen.

      Die bestehenden theoretischen, wissenschaftlichen Erklärungsmodelle (Fehm u. Fydrich 2011) zum Phänomen Prüfungsangst beruhen meist auf kognitionspsychologischen oder tiefenpsychologischen bzw. psychoanalytischen Ansätzen. Prüfungsangst und aufschiebendes Verhalten werden von vornherein als Problem und Störung definiert und wenig in Wechselwirkung zu anderen Verhaltens- und Erlebensweisen oder in biografischen oder sozialen Zusammenhängen gesehen.

      Wissenschaftliche Erklärungsmodelle haben den Anspruch, objektiv richtig zu sein. Die den wissenschaftlichen Studien zugrunde liegenden Erklärungsmodelle stehen daher in Konkurrenz zueinander. Mein Anspruch bestand darin, einerseits die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu nutzen – auch, weil ich dies für die Arbeit in akademischen Kontexten wichtig finde –, andererseits wollte ich die verschiedenen wissenschaftlichen Modelle integrativ nutzen und zu einem Gesamtbild zusammenstellen.

       Abb. 1: PAC-Dreieck mit Wechselwirkungen

      Das PAC-Dreieck (Abb. 1) ist daher nicht als Diagnoseinstrument gedacht, sondern es ermöglicht die Entwicklung erster nachvollziehbarer und handlungsleitender Arbeitshypothesen über die zirkulären Zusammenhänge. Die Herausforderung liegt darin, wie durch eine Brille mit drei Gläsern zu blicken und die drei Bereiche einzeln und zugleich in ihrer Wechselwirkung zu betrachten. Die sechs Wechselwirkungen sind in Abbildung 1 dargestellt. Die drei PAC-Bereiche sind zugleich mit unterschiedlichen Rollen assoziiert, zwischen denen hin und her gependelt wird.

       1.2.1Lerntechnik und Arbeitsverhalten

      Innerhalb des Bewertungskontextes, in dem die Schwierigkeiten der Klienten auftreten, existieren meist bestimmte Bewertungskriterien und eine Definition von richtig und falsch. Aus dieser Perspektive heraus lässt sich analysieren, ob z. B. die Lernstrategien effektiv sind und zum Lerninhalt passen, ob die für Prüfungen angewendeten Strategien nützlich sind und ob die verfügbaren Ressourcen (z. B. Zeit zum Lernen) zur Bewältigung der gestellten Aufgaben ausreichen. Der Bewertungskontext ermöglicht ein Denken in Ist- und Soll-Kategorien, anhand derer man den Lernfortschritt bewerten kann. Wenn der Lernfortschritt dem Soll nicht entspricht, ist die Wahrscheinlichkeit zum Bestehen einer Prüfung gering.

      Wenn wir im Prüfungscoaching in diesen Kategorien denken, stehen technische Aspekte im Vordergrund. Die Schwierigkeiten der Klienten werden zu technischen Schwierigkeiten, für die entsprechende Lösungen gesucht werden. Die gewählte Rolle ist die eines Lehrers und Experten, der zuerst auf Basis der kontextuellen Bewertungskriterien das Verhalten des Klienten begutachtet und anschließend erprobte Lösungen vermittelt. Es besteht keine Neutralität gegenüber dem Ziel, den äußeren Bewertungskriterien zu entsprechen. Die Beziehung zum Klienten ist eher distanziert, weil der Lehrer als Experte für die Probleme des Klienten gilt, und nicht der Klient. Mit dieser Rolle ist man Teil des Bewertungskontexts, es findet keine Selbstbeobachtung von außen statt. Diese Haltung kann für den Klienten entlastend sein, weil das Problem kein Hinweis auf einen psychologischen Defekt ist, sondern sich durch Techniken verändern lässt.

       1.2.2Selbstregulation

      Selbst, wenn die fachliche Prüfungsvorbereitung optimal erscheint, kann es in einer Leistungssituation zu einer starken emotionalen und körperlichen Erregung der Klienten kommen, wodurch deren kognitive, kreative und koordinative Leistungsfähigkeit eingeschränkt wird. In dem Fall kann das Potenzial in Leistungssituationen nicht genutzt werden. Menschen, die das erleben, wissen und können eigentlich genug, sie versagen jedoch, wenn es darauf ankommt, und berichten hinterher von sogenannten Blackouts. Angst und Erregung können bereits das Lernen und die Vorbereitung auf die Prüfung beeinträchtigen. Die Konzentration beim Lernen ist dann nicht auf den Lernstoff gerichtet, sondern auf die möglichen negativen Konsequenzen der Prüfung. In der Folge sinkt der Lernerfolg, es entstehen reale Wissensund Kompetenzdefizite.

      Wenn im Prüfungscoaching diese Aspekte im Vordergrund stehen, passt die Rolle des Coaches. Das übergeordnete Ziel, den Bewertungskriterien des jeweiligen Leistungskontextes zu entsprechen, wird auch als Ziel für das Coaching akzeptiert. Oft wird dies auch gar nicht thematisiert. Diesbezüglich besteht also keine Neutralität. Anders als bei der Rolle des Lehrers ist hier aber eine andere Beziehung zum Klienten erforderlich. Das Erleben der Klienten, z. B. Prüfungsangst, ist das Ergebnis einer selbsterzeugten Wirklichkeit, basierend auf der subjektiven Verarbeitung der lebensgeschichtlichen, affektiven und kognitiven Beziehungserfahrungen. Entsprechend ist der Klient selbst Experte für sein Problem und verfügt über die entsprechenden Ressourcen zur Veränderung. Die Rolle des Coaches besteht darin, den Klienten dabei zu unterstützen, selbst die für ihn passenden Ressourcen und Lösungen zu finden. Aber auch mit dieser Rolle befindet man sich im gleichen Wertekontext wie der Klient. Das Ziel, den gesetzten Erwartungen zu entsprechen, wird mehr oder weniger stillschweigend akzeptiert. Dies kann gerade bei drängenden Anliegen wichtig sein, wenn es heißt: Ärmel hoch, Augen zu und durch!

       1.2.3Motivation und Blockaden

      In Lern- und Leistungskontexten gibt es meist nicht nur einen bestimmten Bewertungsrahmen, anhand dessen z. B. Prüfungsleistungen bewertet werden, sondern implizit auch eine Entwicklungsrichtung oder einen Wertekanon. In unterschiedlichem Maße gilt, dass das, was Menschen in der Schule, im Studium, in einer Ausbildung oder im Beruf tun, zu ihrer Weiterentwicklung und Bildung beiträgt oder für den Erhalt einer bestimmten Position sorgt. Wenn dies ins Stocken gerät, wird das von den Betroffenen häufig als Blockade oder Motivationsschwierigkeit bezeichnet. Es kommt zu einer Reduktion der Aktivitäten für Schule, Studium oder Ausbildung. Wichtige anstehende Aufgaben werden verschoben (Prokrastination) oder mit vermindertem Engagement erledigt. Oft entstehen diffuse Ängste im Hinblick auf Prüfungen, jedoch nicht nur singulär in einem Fach, sondern eher ein Hadern mit der Schule, der Ausbildung oder dem Studium generell.

      Wenn im Prüfungscoaching die Motivation zum Thema wird, ist die passende Rolle die eines Therapeuten oder Beraters – nicht, weil er heilkundlich tätig ist, sondern weil nun Neutralität gegenüber dem Bewertungskontext und der impliziten Entwicklungsrichtung wichtig ist. Damit löst sich das Prüfungscoaching von dem Ziel, den Bewertungskriterien zu entsprechen. Das sogenannte Problem kann eine neue Bedeutung annehmen. Es kann als Ausdruck einer Ambivalenz verstanden werden und wird so zu einem wertvollen Hinweis auf z. B. nicht ausreichend berücksichtigte


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