Kommunikationswissenschaft. Roland Burkart

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Kommunikationswissenschaft - Roland Burkart


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einer solchen Gruppe mitteilen konnten, desto erfolgreicher musste sie sein, desto größer war die Überlebenschance einer Horde. Dasselbe gilt für die Techniken, die zur Jagd entwickelt wurden und die an die Nachkommenschaft mitgeteilt werden mussten. Das an die Jagd anschließende Verteilen der Beute, das die ersten Fähigkeiten zur Quantifizierung entwickelt haben dürfte, hatte eine überaus wichtige Bedeutung für die Denk- und Sprachentwicklung“ (Soritsch 1975: 17). Mittlerweile ist bekannt, dass „menschliche Kommunikation in einer Weise kooperativ strukturiert ist, wie das bei anderen Primaten nicht der Fall ist“ (Tomasello 2011: 18). Diese kooperative Kommunikation entstand irgendwann im Verlauf der Evolution „als ein Mittel, diese Aktivitäten der Zusammenarbeit effizienter zu koordinieren“ (ebd.: 19).

      Erforderte das Verteilen der Beute „Interaktionsregeln, die auf dem Niveau sprachlicher Verständigung intersubjektiv als anerkannte Normen oder Regeln kommunikativen Handelns von einzelnen Situationen abgelöst und auf Dauer gestellt werden können“ (Habermas 1976: 146), so war bereits im Zuge des kooperativen Jagens eine Rollendifferenzierung notwendig geworden, die eine Sprengung jener eindimensionalen Rangordnung notwendig machte, in der jedem Tier nur ein einziger

      Status zukommt: Ein und dasselbe Individuum musste ja in verschiedenen Situationen (der Jagd) einen unterschiedlichen Status einnehmen können. „Zusätzlich dürfte schließlich aus der Existenz zweier sozialer Teilsysteme (egalitäre Jagdhorden der Männer und sammelnde Gruppen der Frauen und Kinder) ein Integrationsbedarf entstanden sein, der erst durch die Ausprägung der Vaterrolle befriedigt werden konnte: Dies bedeutete aber die Ersetzung des tierischen Statussystems durch ein System sozialer Normen, das Sprache voraussetzt“ (Vogt 1979: 71).

      Darauf verweist auch Habermas, für den drei Bedingungen erfüllt sein müssen, bevor ein System sozialer Normen überhaupt entstehen kann:

      Die Interaktionspartner müssen (1) die Teilnehmerperspektive gegen die Beobachterperspektive austauschen können, (2) über einen Zeithorizont verfügen und sie müssen (3) in der Lage sein, die Existenz von Sanktionsmechanismen anzuerkennen.

      „Aus verschiedenen Gründen können diese drei Bedingungen nicht erfüllt werden, bevor nicht Sprache voll ausgebildet ist. Wir dürfen annehmen, dass sich in den Strukturen von Arbeit und Sprache erst die Entwicklungen vollzogen haben, die zur spezifisch menschlichen Reproduktionsform des Lebens und damit zum Ausgangszustand der sozialen Evolution geführt haben. Arbeit und Sprache sind älter als Mensch und Gesellschaft“ (Habermas 1976a: 151).

      Die Ausbildung von Sprache – und damit der Erwerb der Fähigkeit zu symbolisch vermittelter Interaktion – wird somit als ein zentrales Fundament der Anthropogenese erkennbar. Erst Sprache schuf die Voraussetzung für das Entstehen sozialer Normen und trug damit wesentlich zur Entwicklung von Kultur9 bei: Denk- und Handlungsweisen (Wertvorstellungen und entsprechende Verhaltensformen) wurden tradierbar. Sprache ließ also „einen neuen Typ der Evolution entstehen, der sich in keiner anderen Art finden lässt“ (Berelson/Steiner 1969: 34). Folgerichtig sieht Habermas daher in der Hominisation eine organisch-kulturelle Mischform der Evolution: Der Weg vom Tier zum Menschen „ist durch das Ineinandergreifen organischer und kultureller Entwicklungsmechanismen bestimmt“ (Habermas 1976a: 147). Und man kann mit Merten ergänzen, dass Menschwerdung mithin als eine Folge (und nicht als eine Voraussetzung) kultureller Leistungen begriffen werden muss (Merten 1977: 126). Oder anders – deutlicher im Hinblick auf den vorliegenden Zusammenhang – formuliert: Menschwerdung (auch: Anthropogenese, Hominisation) ist die Jahrmillionen10 währende Konsequenz von Bewusstseinsleistungen, die auf einem Abstraktionsniveau erfolgten, welches allein durch die Erlangung jener symbolischen Kommunikationsfähigkeit möglich geworden war, die in der Sprache ihre intersubjektiv wahrnehmbare Manifestation erfuhr.

      Warum aber erlangte ausschließlich der Mensch diese spezifische Kommunikationsfähigkeit? Warum bestand (und besteht) für das Tier offenbar kein existentieller Zwang zur Ausbildung von Sprache?11

      Antwort auf diese Frage gibt uns die Anthropologie, die „Wissenschaft von den Lebens- und Äußerungsformen des Menschen“ (Fuchs-Heinritz 2011: 39).12 Sie macht den Unterschied zwischen Mensch und Tier zunächst an der Beziehung zur Umwelt fest. Für den Menschen gibt es im Unterschied zum Tier keine „artspezifische Umwelt“, in die er aufgrund seiner Sinnesausstattung verwiesen wird und in der er allein lebensfähig wäre (vgl. Griese 1976: 24). Während für das Tier aus der Fülle der in der Welt vorhandenen Gegebenheiten nur eine begrenzte Anzahl existiert, innerhalb derer es gleichsam wie ein Gefangener lebenslang bleibt und stirbt,13 hat der Mensch keine so einförmige und enge Sphäre. Dieser Umstand lässt ihn als den ersten „Freigelassenen der Natur“ (Herder) begreifen; er ist im wahrsten Sinn des Wortes „weltoffen“ (Scheler, Gehlen), denn er besitzt weder eine spezialisierte Organausstattung noch verfügt er über jene instinktiven Absicherungen, die dem Tier in seiner artspezifischen Umwelt das Überleben ermöglichen.

      Der Mensch gilt als ein „Mängelwesen“ (Herder, auch: Gehlen 1986) in der Natur: Es fehlt ihm ein natürlicher Witterungsschutz in Form eines Haarkleides, er verfügt über keine spezialisierten Angriffs- oder Verteidigungsorgane und seine Sinnesorgane werden an Leistungsfähigkeit von vielen Tieren übertroffen (Griese 1976: 16 f.). Er konnte daher nur überleben, indem er diese seine Unspezialisiertheit kompensierte: Die Ausbildung von Sprache und begrifflichem Denken, die Tradition von Erfahrungen und das Entstehen von Kultur werden (trotz vorhandener Instinktreste14) allgemein als die Antwort auf jene biologischen Mängel interpretiert: „Der Mensch kann nur überleben, wenn er sich Kultur schafft, d. h., wenn er arbeitend die Natur bewältigt und verändert, wenn er seine Mangelausstattung und Unspezialisiertheit durch soziales Handeln kompensiert. Kultur ist daher die von Menschen handelnd veränderte Natur, seine zweite ‚künstliche’ Natur, seine menschliche Welt (Griese 1976: 25). Für Arnold Gehlen (1904–1976) ist Kultur „ein anthro-biologischer Begriff, der Mensch von Natur aus ein Kulturwesen“ (Gehlen 1986: 80).

      Damit richtet sich der Blick nunmehr aber von der phylogenetischen auf die ontogenetische Perspektive der Menschwerdung. Auch hier nimmt der Mensch eine Sonderstellung in der Natur ein, auf die als erster der Zoologe Adolf Portmann (1956) hingewiesen hat. Er erkannte in einem morphologischen Vergleich mit den höheren Wirbeltieren, „dass der Mensch seiner Naturgeschichte nach zu den Nestflüchtern15 gehört, dass er aber ungefähr ein Jahr früher zur Welt kommt, als seinem Zerebralisationsgrad angemessen wäre und folglich zu einem sekundären Nesthocker wird – darin einzigartig unter allen Tieren“ (Habermas 1973a: 99). Der Mensch erscheint vom Standpunkt der Zoologie als eine physiologische Frühgeburt: Portmann hat das erste Lebensjahr des Menschen daher auch treffend als extrauterines Frühjahr bezeichnet, weil der Mensch im ersten Jahr nach seiner Geburt erst jenen Entwicklungsgrad erreicht, den ein seiner Art entsprechendes Säugetier noch im Mutterleib (im Uterus) verwirklicht (vgl. Portmann 1956: 52 ff.).

      Geradezu hilflos, kommunikations- und bewegungsunfähig wächst der Säugling in engster physischer und auch emotionaler Abhängigkeit von seinen Eltern auf; die physiologische Frühgeburt bzw. das extrauterine Frühjahr stempeln ihn zu einem Lernwesen, das auf andere Menschen angewiesen ist, um überhaupt menschlich werden zu können, ab (Griese 1976: 20).

      Aufgrund seiner Pflegebedürftigkeit benötigt jeder Säugling (über-)lebensnotwendige Hilfe und Betreuung durch Personen in seiner nächsten Umgebung; man kann darin auch eine „biologische Garantie“ für erste Sozialkontakte sehen. In diesen frühen Interaktionsprozessen entfaltet sich aber zugleich auch jenes Humanspezifikum, das als Soziabilität oder „Anlage zur Geselligkeit“ begriffen werden kann. Soziabilität ist die „Möglichkeit, Fähigkeit und Notwendigkeit des Angewiesenseins auf andere“ (Wössner 1970: 39). Dieses Angewiesen- und zugleich Ausgerichtetsein auf andere Menschen ist eine notwendige Bedingung zur Erhaltung und Entfaltung der menschlichen Existenz (ebd.). Mit dieser Soziabilität ist aber auch die grundsätzliche Formbarkeit des


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