Kommunikationswissenschaft. Roland Burkart
Читать онлайн книгу.Entfaltung dieser Soziabilität erscheint nicht nur im organisch-biologischen Sinn für den Menschen (über-)lebensnotwendig16 zu sein; sie stellt – zusammen mit der Ausbildung seiner erhöhten Lernfähigkeit – v. a. auch eine unabdingbare Voraussetzung für seine (spätestens) ab dem Moment der Geburt beginnende Sozialisierung dar.
4.2 Sozialisation und Kommunikation
Sozialisation (als Status) oder Sozialisierung (als Geschehen) ist der „weitgefasste Begriff für den [ontogenetischen, R.B.] Prozess der Menschwerdung des Menschen, der Vergesellschaftung und lndividuierung gleichermaßen umfasst“ (Mühlbauer 1980: 25). Sozialisationsforschung versucht nachzuweisen, dass sich die menschliche Persönlichkeit in keiner ihrer Dimensionen gesellschaftsfrei herausbildet, sondern stets in einer konkreten Lebenswelt, die gesellschaftlich-historisch vermittelt ist“ (Hurrelmann 1976: 16). Mit dem Sozialisationsbegriff wird also v. a. der „Prozess der Persönlichkeitsgenese in Abhängigkeit von der Umwelt“ (Geulen 1973: 87) umschrieben. So durchschreitet der nur mit rudimentären Instinkten geborene Säugling in seiner Entwicklung vom Kind bis zum Erwachsenen nicht nur Stadien der biologischen Reifung,17 sondern macht auch (individuelle und soziale) Lernvorgänge durch. Sowohl individuelles als auch soziales Lernen dauert jedoch im Prinzip das ganze Leben hindurch an.
Von dieser Perspektive aus erscheint Sozialisierung als ein permanenter, lebensbegleitender Prozess der Persönlichkeitsentwicklung, der erst durch den Tod abgebrochen wird (Mühler 2008: 46 ff.). Es gibt daher keine endgültige, abgeschlossene Sozialisierung, sondern nur einen jeweiligen Stand der Sozialisierung: die Sozialisation (vgl. Fuchs-Heinritz et al. 2011: 625 ff.). Der Mensch – als Produkt von (zu reifenden) Anlagen und Umwelteinflüssen – steht mit dem Akt seiner leiblichen Geburt somit erst am Beginn seines „eigentlichen“ Geborenwerdens in einem erweiterten Sinn des Wortes: Erst durch seine „zweite soziokulturelle Geburt“ (Claessens 1962) wird der Mensch zum Menschen – und in Wahrheit ist „das ganze Leben des Individuums […] nichts anderes als fortwährend an der eigenen Geburt schaffen“ (Fromm 1974: 28).
Worin besteht nun diese (eigentliche) soziokulturelle Geburt des Menschen und welchen Stellenwert besitzt Kommunikation in diesem Prozess? Eine Antwort auf diese Frage kann es immer nur aus der Perspektive des jeweiligen sozialisationstheoretischen Konzepts geben. Dazu hier ein knapper Überblick.
4.2.1 Sozialisationstheoretische Positionen
Nach Geulen (1977: 43 ff.)18 können fünf abstrakte Dimensionen sozialisationstheoretischen Zugriffs unterschieden werden, die zu fünf unterscheidbaren Modellen vom sozialisierten Menschen führen:
•Das anthropologisch-funktionalistische Modell sieht den Menschen – wie soeben besprochen – als konstitutionelles Mängelwesen (Arnold Gehlen), der nach seiner Geburt alleine gar nicht (über-)lebensfähig ist. Sozialisation wird von dieser Position aus als Notwendigkeit zur physischen Existenzsicherung gesehen (neben Gehlen sind auch Emile Durkheim und Bronislaw Malinowski dieser Position zuzurechnen).
•Im Wissensmodell gelten die gesellschaftlichen Momente als Voraussetzung für die intentionale Handlungsorientierung: Der Mensch handelt auf der Grundlage der Bedeutung, die die Dinge für ihn besitzen. Ein sozialisiertes Individuum verfügt nicht nur über ein gewisses Maß an Wissen über seine alltägliche Lebenswelt, sondern kann dieses auch sprachlich vermitteln (Mead). Sozialisation erscheint hier als der Prozess, in dem Wissen von der gesellschaftlichen Wirklichkeit über Sprache bzw. Symbolinterpretationen erworben wird (neben Mead sind auch Alfred Schütz, Peter Berger und Thomas Luckmann Vertreter dieser Position).
•Das Integrationsmodell rückt die Persönlichkeitsentwicklung in den Fokus: Der Mensch wird den gesellschaftlichen Einflüssen entsprechend gebildet; er geht – gleichsam als ein Ebenbild seiner Gesellschaft – restlos in ihr auf: Die Person erscheint als (Persönlichkeits-)System von Bedürfnisdispositionen, die sich infolge der Verinnerlichung von Wertorientierungen ausbilden, welche das Individuum im Zuge seines Rollenhandelns erwirbt. Sozialisation ist also der Prozess, in dem Menschen in die Gesellschaft integriert werden (zu den Hauptvertretern zählt Talcott Parsons).
•Der Fokus des Repressionsmodells liegt auf dem „Konflikt zwischen gesellschaftlich vermittelten und anderen Persönlichkeitsmomenten innerhalb des Individuums“ (Geulen 1977: 81). Es gibt zwei Ausprägungen des Modells: Einerseits wird Sozialisierung als „Prozess der Entpersönlichung“ gesehen, in dem die Individualität und Freiheit des Einzelnen in der Kontrolle und Allgemeinheit sozialer Rollen aufgehoben wird“ (Dahrendorf 1974: 164). Andererseits sind es – etwa bei Sigmund Freud (1856–1939) – „die im Organischen fundierten Triebe der Menschen“ (Geulen 1977: 81), von denen jede Gesellschaft nur einen recht schmalen Ausschnitt der an sich breitgefächerten Triebregungen zulässt. Sozialisation erscheint hier somit als der Prozess der Verinnerlichung gesellschaftlicher Institutionen, die zur eigentlichen Individualität des Menschen im Widerspruch stehen.
•Im Individuationsmodell wird Gesellschaft dagegen als Voraussetzung für die Menschwerdung angesehen: Nicht trotz Sozialisation, sondern erst infolge konkret ablaufender Sozialisationsvorgänge kann sich menschliche Individualität entwickeln. Neben Emile Durkheim, Georg Simmel, Helmut Plessner und Jürgen Habermas sieht Geulen auch George Herbert Mead als Vertreter dieses Modells. Sozialisation ist für diese Ansätze also der Prozess, in dem die gesellschaftliche Vermittlung von Individualität stattfindet, in dem sich Identität und „Selbst-Bewusstsein“ im Rahmen der Interaktion mit anderen Menschen (und im Rahmen von Rollenübernahme) überhaupt erst bilden kann.
Es würde Rahmen und Umfang dieses Buches sprengen, wollte man das ontogenetische Werden des Menschen aus jeder der hier angesprochenen sozialisationstheoretischen Perspektiven verfolgen und dann den Stellenwert von Kommunikation im jeweils skizzierten Prozess der Persönlichkeitsgenese orten. Vielmehr soll ein Ansatz herausgegriffen und auf seine „kommunikative Dimension“ hin befragt werden: der auf George Herbert Mead zurückgehende Ansatz des Symbolischen Interaktionismus (S.I.), der in der Einteilung von Geulen sowohl dem Individuations- als auch dem Wissensmodell zuordenbar ist.
Dieser Ansatz hat nicht nur eine Nähe zum bisherigen Denken (so ging der teilweise diesem Interaktionismus entlehnte Symbolbegriff in das hier entwickelte Kommunikationsverständnis ein), sondern er hat auch in weiten Bereichen der rezipientenorientierten Medienwirkungsforschung seine Spuren im Fach hinterlassen.19
Bevor näher auf den S.I. eingegangen wird, ist jedoch Grundsätzliches zur sozialen Rolle voranzustellen, weil der Rollenbegriff im Konzept des S.I. einen zentralen Stellenwert hat.
4.2.2 Exkurs: Die soziale Rolle
Mit dem Begriff der sozialen Rolle wird die Summe von Verhaltenserwartungen bezeichnet, die dem Inhaber einer sozialen Position von anderen Menschen entgegengebracht werden (z. B. Dahrendorf 1974: 144, Dreitzel 1980: 43, Lautmann 2011: 581). Als Position gilt dabei der Platz in einer Gesellschaft, also der Ort im Gefüge sozialer Beziehungen, der für einen Funktionsträger (ohne Rücksicht auf die jeweils konkrete Person) bestimmt ist und diesen sozial qualifiziert (Buchhofer 2011: 516). Rollen beziehen sich also immer auf Positionen und nicht auf einzelne Menschen und die Verhaltenserwartungen betreffen immer Erwartungen, die in das Verhalten von Positionsinhabern gesetzt werden. Wir bekleiden üblicherweise eine Vielzahl sozialer Positionen, in denen wir ganz unterschiedliche Rollen spielen, die verschiedene Erwartungen provozieren.
Ehemann/Ehefrau Vater/Mutter, Sohn/Tochter, Universitätsprofessor·in, Mitglied eines Sportvereines etc. Damit sind beispielhaft ausgewählte soziale Positionen in unserer Gesellschaft symbolisiert, die eine einzelne Person einnehmen kann. In jeder dieser Positionen schlüpft sie aber zugleich auch in bestimmte Rollen, d. h., sie sieht sich Erwartungen im Hinblick auf ihr Verhalten gegenüber, die ihr von