Kommunikationswissenschaft. Roland Burkart

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Kommunikationswissenschaft - Roland Burkart


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impliziert sein Verhältnis zu anderen, seine Identität impliziert seine Sozialität“ (Raiser 1971: 124). Stets bedarf es mithin sozialer Erfahrungen, in denen der Mensch lernt, sich selbst auf Basis seiner Interpretation der Reaktionen Anderer auf sein Verhalten zu definieren: „Er kann, mit anderen Worten, nur durch die Sozialisation zu einer Selbstdefinition gelangen“ (Cardwell 1976: 115).25

      Allerdings ist bisher nur eine Dimension des Selbst bzw. jeweils spezifischer Identitäten angesprochen, denn Mead sieht das Selbst in zwei Sphären strukturiert: in die des I und in die des Me. Letzteres repräsentiert den „internalisierten Anderen“ (Raiser 1971: 129), es entsteht (wie bisher beschrieben), wenn man sich selbst aus der Perspektive des/der Anderen betrachtet und sich auf diese Weise seiner (jeweils spezifischen) Identität bewusst wird. Das Me ist somit „dasjenige, was dem Subjekt im Selbstbewusstsein erscheint“, es ist – vermittelt über den Vorgang der Übernahme der Rolle des Anderen – „die virtuell eingenommene Perspektive Alters von Egos Handeln“ (Geulen 1977: 117). Man kann im Me auch „das Äquivalent zu den sozialen Rollen“ (Stryker 1976: 260) sehen, die ein Mensch im Verlaufe seiner Lebensgeschichte bekleidet (hat). Demgegenüber soll das I die „Reaktion des Organismus auf die Haltungen anderer“ (Mead 1968: 218) verkörpern; es stellt die Antwort des Organismus auf die Haltungen und Einstellungen der Anderen dar. „Das I ist die je spontane Instanz im Handeln. Es ist als solches nicht unmittelbar objektivierbar – weil es durch Objektivierung ipso facto schon zu einem Me würde –, und daher auch prinzipiell nicht genau vorhersagbar; es führt Neues in das Handeln ein und ist der Grund für das subjektive Bewusstsein von Freiheit“ (Geulen 1977: 117).

      Das Selbst bzw. die je spezifische Identität ist für Mead nun ein Prozess, der aus diesen beiden unterscheidbaren Phasen besteht (Mead 1968: 221). Dieser Prozess ist nie endgültig zu Ende, deshalb ist das Selbst auch nicht ein eindeutig beobachtbares Phänomen (Raiser 1971: 135), es erscheint vielmehr als ein kontinuierliches Substrat von Identitäten, die im Rahmen der (durch konkretes Handeln aktualisierten) Wechselbeziehungen von I und Me ständig erfahren werden. Damit erweist sich der Erwerb eines Selbst im Horizont des S.I. als ein lebenslang andauernder Prozess, der soziale Beziehungen zu anderen Menschen impliziert: „Selbstsein und Interaktion mit anderen Individuen bedingen sich gegenseitig“ (Raiser 1971: 124).

      An dieser Stelle passt der Hinweis auf eine nicht ganz unähnliche Forschungsperspektive, die sich Ende der 1960er Jahre in Großbritannien unter anderem um den britischen, vom Marxismus inspirierten Soziologen Stuart Hall (Winter 2011) von Birmingham aus formierte. Die Rede ist von den sogenannten Cultural Studies (Hepp/Winter 2008, Marchart 2018, Renger/Wimmer 2014), die sich ebenfalls mit dem Entstehen von Identität befassen. Auch hier ist Identität nur plural vorstellbar. Jedes Individuum wird von einer Vielzahl von Identitäten gleichsam „durchkreuzt“ (Marchart 2018: 177) und keine dieser Identitäten gehört ihm alleine – im Gegenteil: Identität ist immer kollektiv, sie ist gesellschaftlich bestimmt und sie ist immer auch umkämpft. Zwischendurch „stabilisiert sie sich durch Abgrenzung von anderen Identitäten, was unausweichlich die Frage des Ausschlusses, der Macht und des Widerstands aufwirft“ (ebd.).

      Der Cultural Studies-Ansatz ist ein politisches, „auf soziale Veränderung zielendes Projekt“ (Renger/Wimmer: 2014: 522) – nicht zuletzt vor dem biografischen Hintergrund seiner Gründer in der Tradition der 1960er Jahre in Birmingham. Damals hatten Raymond Williams und Richard Hoggart (beides britische Arbeiterkinder) sowie Stuart Hall (ein Stipendiat aus Jamaika) als „scholarship-boys“ Zugang zu den englischen Eliteuniversitäten bekommen, wo ihnen die Konfrontation mit der englischen Oberklasse ihre eigene soziale Identität bewusst machte und den Blick für die Kultur der eigenen Klasse schärfte (Marchart 2018: 29). Aus der Konfrontation zwischen proletarischer Herkunftskultur und Elitenkultur erwuchs das Ziel, die Arbeiterkultur zu rehabilitieren und die Lage der Arbeiterklasse durch Erwachsenenbildung zu verbessern.

      Cultural Studies und Symbolischer Interaktionismus berühren sich dort, wo es um das Konzept der Bedeutungskonstruktion geht. Was die Medienrezeption betrifft, so kommt dies in dem vielzitierten encoding-decoding-Modell zum Ausdruck. Danach impliziert jeder medial vermittelte Inhalt verschiedene Möglichkeiten der Dekodierung (Lesarten)26, was dem Publikum daher einen großen Interpretationsspielraum eröffnet (vgl. Marchart 2018: 143 ff., Winter 2011: 473 f.) und mannigfache Chancen zur Ausbildung bzw. Veränderung der eigenen Identität(en) bietet.27

      Versucht man nunmehr, den Stellenwert von Kommunikation bei der Genese des Selbst einzuschätzen, so wird man abermals auf die sozialen Interaktionsprozesse verwiesen, in denen derartige Identitäten entstehen: Auch Kommunikation – als ein (per definitionem) soziales Geschehen – bedarf ja stets mindestens zweier im Hinblick aufeinander (inter-)agierender Partner·innen. Es ist somit die Frage nach der Bedeutung kommunikativer Interaktionsabläufe zu stellen; es ist zu fragen, welchen Stellenwert (beim Zustandekommen jeweils spezifischer Identitäten) jene sozialen Verhaltensweisen besitzen, die auf das Mitteilen von Bedeutungsinhalten ausgerichtet sind.

      Die zentrale Bedeutung kommunikativer Interaktionsprozesse für die Genese des oben beschriebenen Selbst wird einsehbar, wenn man sich Meads Konzept der Geste vergegenwärtigt. In dieser Geste und ihrer Funktion im Rahmen der sozialen Interaktion sieht Mead nämlich „den Schlüssel zur Erklärung der Entstehung von Geist, Bewusstsein und Identität aus einfachen Prozessen der Kommunikation“ (Raiser 1971: 99). Die Geste stellt für Mead nicht nur die Anfangsstufe jeglichen Sozialverhaltens dar, er sieht in ihr auch jenes Phänomen, das später zum Symbol wird (Mead 1968: 81) und damit symbolisch vermittelte Interaktion, also – Humankommunikation – überhaupt erst möglich macht. Mittlerweile spricht Vieles dafür, dass Zeigegesten und Gebärden die entscheidenden Übergangspunkte in der Evolution von der animalischen zur menschlichen Kommunikation waren (vgl. Tomasello 2011: 68 ff.; 2020: 147 ff.).

      Unter einer Geste versteht Mead jede Regung eines Organismus, wie etwa eine Bewegung (= motorische Geste), einen Gesichtsausdruck (= mimische Geste) oder einen Laut (= vokale Geste), die als Reiz auf Andere, in den gleichen Verhaltens- oder Handlungskontext einbezogene Lebewesen wirkt (vgl. dazu Mead 1968: 52, 81).28 Eine solche Interaktion via Gesten ist (noch) auf der unbewussten Ebene anzusiedeln, sie ist daher auch für die frühen Wechselbeziehungen zwischen Eltern und Kind kennzeichnend.29 In dieser noch unbewussten Übermittlung von Gesten (seitens) des Kleinkindes sieht Mead nun aber die frühesten Anfänge von Kommunikation (ebd.: 109). Indem nämlich die Gesten des Kindes (in ihrer Funktion als Reize für die das Kind umgebenden Erwachsenen) zu Reaktionen der Erwachsenen führen, gewinnen sie Bedeutung für das Kind: Die Reaktion der Erwachsenen auf die Geste des Kindes ist die Interpretation dieser Geste für das Kind (vgl. Mead 1968: 120).

      So ist z. B. das Schreien eines Kindes normalerweise ein Auslöser für einen ermutigenden oder beruhigenden Antwortlaut der Eltern (begleitet von schützenden Bewegungen in Richtung auf das Kind). Durch diese Reaktion „definieren“ die Eltern dem Kind die Bedeutung, die sie seinem Laut beimessen; eine daraufhin folgende Veränderung bzw. Abschwächung im Schrei des Kindes bestätigt gegebenenfalls den Eltern ihre Interpretation des ursprünglichen Schreies als „Hilferuf“ oder Ähnliches. Den Vorgang, in dem die (vom Kind) noch unbewusst gesetzte Geste der Angst die entsprechende Geste der Beruhigung oder des Schutzes (seitens der Eltern) ausgelöst hat, kann man als fortlaufenden Anpassungsvorgang dieser Individuen aneinander begreifen, im Rahmen dessen die jeweiligen Gesten, infolge der wechselseitigen Reaktionen, die sie ausgelöst hatten, Bedeutung erlangten (siehe dazu: Mead 1968: 84 f. und 414 f.).

      Solcherart interpretierte Gesten können schließlich zum gezielten Ausdruck der jeweiligen Bedeutung bzw. zum gezielten Hervorrufen der erlernten Reaktion (des Anderen) verwendet werden. Löst eine verwendete Geste nun in beiden


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