AktenEinsicht. Christina Clemm

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AktenEinsicht - Christina Clemm


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er unter sich. Er ist ein gut strukturierter Organisator, sitzt zu Hause lange am Rechner, führt Listen, die er stets im Tresor aufbewahrt.

      Seinen Führerschein hat er schon lange verloren, deshalb hat er einen Fahrer. Der bringt auch Pizza, wenn sie nicht mehr rausgehen wollen, kauft ein, macht alles, was Kevin ihm sagt. Freunde, Brüder nennen sie sich.

      Der Name Claudia befindet sich bald in seiner persönlichen Galerie. Auf seinem Bauch – als Tattoo. Ihren hat er größer tätowieren lassen als den von Leyla, mit der er immerhin zwei Jahre zusammen war. Es ist ihm sehr ernst mit ihr.

      Seine Wohnung ist groß, bald zieht sie bei ihm ein. Jede Nacht sind sie lang unterwegs, tagsüber geht Kevin seinen Geschäften nach. Die sollen sie nicht kümmern, sagt er, davon soll sie besser nichts wissen.

      Den Kontakt zu ihren Eltern bricht Claudia S. ab, nachdem diese in ihrer freundlich besorgten Art deutlich gezeigt haben, was sie von Kevin halten. Ihr waren sie schon lange zu spießig, zu brav, zu angepasst mit ihrer bildungsbürgerlichen Liberalität.

      Claudia S. lebt mit Kevin, führt seinen Haushalt, bestellt Fastfood, manchmal kocht sie für ihn die Rezepte von Koch-Internetseiten nach und freut sich, wenn es ihm gefällt. Geputzt wird die Wohnung selbstverständlich von jemand anderem. Sie ist nur noch »Süße«, »Schätzchen«, »Zuckerschnäuzchen«, »geile Prinzessin«.

      Wenn er weggeht, möchte er, dass sie zu Hause bleibt. Wenn sie doch weggeht, will er, dass der Fahrer nicht von ihrer Seite weicht. »Ich habe einfach Angst um dich, Schätzchen, die Welt ist viel schlechter, als du sie dir vorstellst. Und gerade in meinem Beruf. Da gibt es leider ein paar schlechte Menschen, die mir gerne schaden würden. Und das ginge am besten über dich. Vertraue mir. Ich beschütze dich.«

      Kontakte mit den Freundinnen von seinen Freunden sind okay, die gehen auch nicht allein aus. Andere Kontakte sieht Kevin nicht gern, »die kann ich einfach nicht einschätzen, Püppchen«.

      Claudia S. macht das nichts aus, es freut sie, dass Kevin sich Sorgen um sie macht. Sie will auch gar nichts mehr mit ihren alten Freund*innen zu tun haben, die langweilen nur.

      Spricht ein anderer Mann, ein fremder Mann sie an, kriegt er eine Warnung, dann auf die Fresse. Kevins Kumpel wissen, wie man ihr und ihm gegenüber Respekt zeigt und was es heißt, zu ihm zu gehören.

      Claudia S. liebt dieses Leben.

      Mit der Zeit weiß sie doch von seinen Geschäften und kennt seine Partner. Einmal geht etwas schief, und sie müssen sehr schnell sehr viele Pakete in die Wohnung schaffen und am nächsten Tag wieder wegbringen. Sie reden nicht darüber. Besser, wenn sie es vergisst, besser, wenn sie wegsieht.

      Alles ist wunderbar, wenn es läuft. Wenn es mal nicht so läuft, wie Kevin es will, ist es schwer. Kevin ist ruhelos, leicht kränkbar, prinzipientreu. Für ihn persönlich sind Drogen, Alkohol, Fremdgehen tabu, Diskussionen gibt es nicht. Ordnung ist wichtig, Treue und Vertrauen unabdingbar. Streit in der Beziehung ist abwegig. Ebenso Widerspruch. Er liebt es, mit ihr einzukaufen, Ketten, Ohrringe, Klamotten, Pelze.

      Abends in den Clubs ist er der große Held.

      Zu Hause mag er es, wenn sie ihn auspeitscht, ihn fesselt. Dann weint er, wimmert, jammert. Ganz klein ist er dann. Mit der Potenz ist es nicht weit her, die vielen Anabolika haben ihre Spuren hinterlassen. Claudia S. ist das nicht wichtig.

      Als Kevin eines Tages mit Pudel Cheri im Körbchen zu ihr kommt, verliebt sie sich sofort in sie.

      Fünfzehn Monate geht das so. Sie sprechen davon, eine Familie zu gründen. Ein kleiner Prinz, eine süße Prinzessin. Als es mit der Schwangerschaft nicht sofort klappt, meldet Kevin sie in einer Kinderwunschklinik an. Sie warten noch auf die Spermaanalyse, suchen schon eine größere, eine kindgerechte Wohnung. Alles läuft gut.

      Aber dann trifft Claudia S., als sie in Begleitung des Fahrers mit Cheri Gassi geht, Tobias auf der Straße. Tobias kennt sie seit der Grundschule, er hat in der gleichen Straße gewohnt. Sie haben zusammen schwimmen gelernt und das Einmaleins. Als Tobias’ Familie in einen anderen Stadtteil gezogen ist, haben sie sich aus den Augen verloren.

      Es ist der Tag ihres 22. Geburtstags. Kevin hat eine große Party für sein Schätzchen organisiert, der ganze Club über den Dächern Berlins ist nur für sie reserviert. Alle seine Freunde, all ihre gemeinsamen Bekannten werden kommen. Claudia S. erzählt Tobias von dem Fest und lädt ihn spontan ein.

      Tobias kommt.

      Auf der Party spricht sie fast zwei Stunden mit ihm über alte Zeiten, über die Grundschullehrerin mit der fiesen Stimme, über den Hausmeister, der die Kinder immer geschlagen hat, über ihre und seine Eltern. Über harmloses Zeug. Es freut sie, den alten Freund wiederzusehen, jemand aus ihrer alten Welt. Als er geht, folgt ihm der Fahrer.

      Kaum ist Tobias weg, bestellt Kevin eine Magnumflasche Champagner. Er trinkt Alkohol. Das hat sie noch nie bei ihm erlebt. Er ist lustig, küsst sie vor aller Augen, lässt sie hochleben. Ausgelassen feiern sie bis in die Morgenstunden.

      Als sie nach Hause kommen und Claudia S. gerade glücklich und etwas angetrunken die Tür hinter sich schließt, schlägt Kevin ihr ohne Vorwarnung mit der Faust ins Gesicht. Sie stürzt zu Boden, er tritt zu. Dann fesselt er sie, peitscht sie. Er penetriert sie, schlägt sie wieder, schleppt sie ins Badezimmer und uriniert auf sie. Dann penetriert er sie erneut. Er hat seinen ersten Orgasmus seit Langem. Sie schreit, sie weint. Sie fleht und wimmert. Irgendwann gibt sie auf. Er würgt sie, bis sie in Ohnmacht fällt.

      Als sie erwacht, liegt sie auf ihrem Sofa. Kevin ist weg. Alles schmerzt. Ihr ganzer Körper ist zerschunden. Sie zieht sich ihren Jogginganzug an, zieht sich wieder aus, wäscht sich, zieht sich wieder an. Zieht sich wieder aus, wäscht sich, zieht sich wieder an. Mit der Gemüsebürste schrubbt sie ihren Körper blutig.

      Als Kevin ihr schreibt, dass der Fahrer sie gleich abholen wird, nimmt sie in Panik Cheri und rennt aus der Wohnung, zieht noch schnell das Pelzjäckchen über. Rennt kopflos und ohne Gefühl durch die halbe Stadt. Ohne es zu planen, landet sie bei ihrer alten Freundin Anke. Die kennt er nicht. Von der hat sie ihm nie erzählt. Ihr kann sie vertrauen, bei ihr ist sie sicher. Anke versteht die Not sofort, als sie Claudia S. sieht.

      Eine Anzeige erstattet Claudia S. nicht. Die Polizei gibt keine Sicherheit, nicht gegen Kevin und seine Freunde. Zu oft hat sie mitbekommen, wie wenig Angst sie vor der Polizei haben, und der eine oder andere Beamte wurde ihr hin und wieder überschwänglich vorgestellt.

      Anke fotografiert sie, fragt nicht, lässt sie erzählen, kocht Tee, deckt sie zu, lässt ihr immer und immer wieder ein Bad ein. Zwei Tage später überredet Anke sie, zum Arzt zu gehen. Sie gehen gemeinsam zu Ankes Ärztin, die ihre Praxis um die Ecke hat. Sie sieht die eingerissene Scheide, die Hämatome am ganzen Körper, das dunkle Würgemal am Hals. Sie dokumentiert alles und rät ihr dringend, die Polizei einzuschalten. Sie verschreibt ihr etwas gegen die Schmerzen. Noch Tage später hat Claudia S. Schwierigkeiten beim Sprechen, beim Schlucken, Gehen, Sitzen.

      Claudia S. versteckt sich in Ankes Wohnung, sie hat große Angst.

      Ihr Handy hat sie noch während ihrer Flucht weggeschmissen, nachdem sie eine letzte Nachricht an Kevin gesandt hatte: »Wenn du mir folgst, zeige ich dich an. Lass mich in Ruhe, dann wird nichts geschehen.«

      Sie sucht keinen Kontakt zu ihren Eltern.

      Nach ein paar Wochen bringt Anke sie nach Rostock. Dort hat sie Bekannte, bei denen Claudia S. erst einmal im Gartenhaus leben kann. Sie wissen nur, dass Claudia S. ein Problem mit ihren Eltern hat und nicht gefunden werden möchte. Sie spricht kaum, liegt tagelang im Bett. Langsam, ganz langsam wagt sie es, mit Cheri den Garten zu verlassen und mit ihr spazieren zu gehen.

      Anke hat ihr etwas Geld geliehen. Aber bald geht es zur Neige. Claudia S. weiß nicht, wovon sie leben soll. Polizeilich anmelden kann sie sich unter keinen Umständen, das würde Kevin herausfinden. In einem Supermarkt arbeiten wäre auch viel zu öffentlich, dann würde sie immer nur angstvoll alle Käufer beäugen. Wochenlang denkt sie darüber nach und stöbert im Internet.

      Dann findet sie die Anzeige eines Studios, das Dominas sucht. Von


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