AktenEinsicht. Christina Clemm

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AktenEinsicht - Christina Clemm


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      Ein paar Tage später begegnen sie sich wieder, ganz »zufällig«, und der Kollege sagt, dass er sich umgehört habe. »Er wird nicht von einem von uns verteidigt, da muss deine Mandantin etwas falsch verstanden haben. So wichtig ist er nicht. Wenn du meine Meinung wissen willst: Für die Vergewaltigung, wenn er sie denn begangen hat, kann er verfolgt werden, da muss er selbst durch. So was macht man einfach nicht. Wenn deine Mandantin nur dazu etwas sagt und ihm nicht noch andere Sachen anhängen will, dann stellt das sicher kein Problem dar.« Dann spricht er unvermittelt weiter von seiner Haftbeschwerde, die er gerade in anderer Sache gewonnen hat.

      Das reicht zunächst für die Sicherheit von Claudia S.

      Schon zwei Monate nach der Anzeige hat die Staatsanwaltschaft die Anklage fertig. Kevin wird bei einer Schöffengerichtabteilung des Amtsgerichts wegen Vergewaltigung angeklagt.

      Eigentlich wurde mit dem StORMG (Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs) im Jahr 2013 eingeführt, dass bei Verfahren, bei denen die mehrfache Befragung der Opfer zu erheblichen Belastungen führt, nicht beim Amtsgericht, sondern erstinstanzlich bei einem Landgericht angeklagt werden soll. Damit soll den Betroffenen, insbesondere von Sexualstraftaten, erspart werden, in einer möglichen zweiten Instanz erneut befragt zu werden. In der Realität wird dies aber in zahlreichen Gerichtsbezirken nicht so gehandhabt, im Gegenteil werden dort fast alle Vergewaltigungsverfahren vor den Amtsgerichten angeklagt, da die Landgerichte kaum Ressourcen haben.9 Dies führt im Endeffekt dazu, dass die erstinstanzlichen Verfahren zwar oft innerhalb von ein bis zwei Jahren abgeschlossen sind, es aber bei Verurteilungen meist zu einer weiteren Verhandlung in der Berufung kommt, was letztlich dazu führt, dass Vergewaltigungsverfahren oft erst nach drei bis vier Jahren abgeschlossen werden und zahlreiche, häufig sehr belastende Befragungen in den Instanzen erfolgen. Anders ist dies nur bei Haftsachen, also wenn sich der Beschuldigte in Haft befindet. Dann gilt ein besonderes Beschleunigungsgebot, und die Verfahren werden sehr viel schneller und vorrangig bearbeitet.

      Die Hauptverhandlung beginnt fünf Monate nach Kevins Inhaftierung und dauert lediglich zwei Verhandlungstage. Kevin bestreitet die Tat, sagt nicht aus. Sein Verteidiger ist wenig engagiert, rechnet von vornherein mit einer Verurteilung und der zweiten Instanz und stellt weder Fragen noch einen einzigen Antrag. Claudia S. sagt sicher aus, berichtet von der Tat ausführlich. Es kommt zu keinen Widersprüchen mit ihrer polizeilichen Aussage und anderen Zeugenaussagen. Die Fotos, die ärztliche Untersuchung, die Aussage von Anke ergänzen sie. Das Gericht hat es eilig und ist offenkundig erfreut, so wenig Schwierigkeiten in dem Verfahren zu haben.

      Am Ende wird Kevin zu dreieinhalb Jahren verurteilt und tobt bei der Urteilsverkündung. Er bleibt in Untersuchungshaft und kündigt seinem Verteidiger.

      Da Kevin weiterhin in Haft bleibt, muss sich das Landgericht, bei dem die Berufungssache eingeht, beeilen. Schon vier Monate nach dem erstinstanzlichen Urteil beginnt die zweite Instanz vor der Berufungskammer.

      Er hat nun doch zwei der »richtigen« Anwälte, einer von ihnen ist der vom Kaffeeautomaten. Vor allem aber hat er jetzt mehrere neue Zeug*innen, die bereit sind, für ihn falsch auszusagen und Kübel mit Dreck über Claudia S. auszugießen. Auch die Anwälte sind dazu bereit.

      Claudia S. sagt aus, erklärt sich. Sieben lange Verhandlungstage wird sie als Zeugin vor der Berufungskammer befragt. Sie beantwortet alle Fragen, erläutert ihr Verhältnis zu ihren Eltern, zu ihren ehemaligen Freund*innen, zu Kevin. Sie stockt, als sie gefragt wird, ob ihr ihr damaliger Freund ebenbürtig gewesen sei. Sofort hakt der Verteidiger nach: »Frau S., ich will es mal so fragen: Stehen Sie darauf, sich überlegen zu fühlen? Genießen Sie das?«

      »Nein«, sagt sie. »Ich fühlte mich nie überlegen. Ich war in einer für mich vollkommen neuen Welt, in der er sich sehr viel besser auskannte und bewegte als ich.«

      Sie soll erklären, weshalb sie sich so verändert habe, von der gutbürgerlichen Lehrerstochter zur schicken Szenemieze im Pelzjäckchen, und wie schnell es ging, sich wieder zurückzuverwandeln. Wann und wie oft sie gelogen habe, will der Verteidiger wissen, im Allgemeinen, aber auch im Speziellen. »Haben Sie Schule geschwänzt, Ihre Eltern angelogen, Ihre Freunde gegeneinander ausgespielt? Was haben Sie Ihren Eltern erzählt am Anfang Ihrer Beziehung mit Kevin? Haben Sie sie angelogen? Weshalb haben Sie sich aller alten Freundinnen entledigt? Bedeuten Ihnen Beziehungen zu anderen Menschen nichts? Haben Sie auch schon andere Freunde von einem Tag auf den anderen verlassen, und wenn nein, nennen Sie uns doch bitte die Namen und Adressen der Freundinnen, die Sie nicht im Stich gelassen haben.«

      Selbstverständlich kommen auch Fragen zu Tobias – darauf ist sie vorbereitet: »Wann haben Sie Ihre alte Liebe mit Tobias wieder aufgenommen? War Tobias eifersüchtig? Wollte er, dass Sie Kevin verlassen? Wann merkten Sie, dass er besser zu Ihnen passte als Kevin?« und: »Wann wurden Sie eigentlich Kevins überdrüssig?«

      Je nach Delikt, sozialem Status, Herkunft und Geschlecht wird Zeug*innen eher geglaubt oder misstraut. So gilt bei Gericht etwa die Grundannahme, dass Polizeibeamt*innen vor Gericht nicht zu Lügen tendieren und ihnen grundsätzlich geglaubt werden könne.10 Denn man geht davon aus, dass Polizeizeug*innen kein Interesse daran hätten, die Unwahrheit zu sagen, und als quasi Berufszeug*innen einen besonders geschulten Blick für das Richtige hätten und der Wahrheit verpflichtet seien. Gleiches gilt für Angehörige von Justiz oder anderen Behörden, denen man grundsätzlich vertraut. Hingegen besteht grundsätzliches Misstrauen, wenn Frauen über Taten wie häusliche Gewalt oder Partnerschaftsgewalt, Vergewaltigung, sexuellen Missbrauch oder auch schweren Menschenhandel aussagen.

      Der Mythos der stets falsch bezichtigenden rachesuchenden Frau, die, etwa um sich einen Vorteil zu verschaffen oder um vielleicht auch nur der verflossenen Liebe zu schaden, Ermittlungsbehörden dreist belügt und Straftaten erfindet, ist hartnäckig und wirkmächtig. Es gibt unendlich viele Vorurteile, wie eine »echte Vergewaltigung« aussehen soll und wie sich ein »echtes Vergewaltigungsopfer« verhalte. Man spricht deshalb von Vergewaltigungsmythen.11 Tatsächlich gibt es keine wissenschaftlich fundierten Zahlen, die beweisen, dass Frauen überproportional Sexualdelikte oder Partnerschaftsgewalt falsch anzeigen.12

      Immer noch werden in Gerichtsverhandlungen intimste Fragen zu allen Lebensbereichen gestellt, etwa zum gesamten Vorleben, zu sämtlichen Sexualpartner*innen und -praktiken, zu Freund*innen, Verwandten und Bekannten, einfach allem Erdenklichen, was irgendwie geeignet sein könnte, Zweifel zu säen. Immer wieder kommt es vor, dass Zeug*innen als Lügner*innen beschimpft, verlacht und verunsichert werden, sie werden verächtlich und herablassend befragt, oder es werden einfach Behauptungen in den Raum gestellt, die vor allem dazu geeignet sind, die Zeug*innen aus der Fassung zu bringen, wie etwa: »Könnte es auch daran liegen, dass Sie häufig sexuelle Erlebnisse später bereuen?«, oder: »Wenn Sie schon lange keinen Sex mehr hatten, dann waren Sie womöglich einfach von der Situation überfordert, dass endlich mal einer ernst machte, oder?«

      Gern werden auch Fragen gestellt wie: »Trinken Sie häufig zu viel?« »Haben Sie sich oft nicht unter Kontrolle?« »Bereuen Sie häufig etwas, was Sie noch kurz vorher wollten?« Frauen wird unterstellt, sich durch das Verfahren das alleinige Sorgerecht erschleichen zu wollen oder endlich keinen Umgang mehr gewähren zu müssen, oder dass sie einfach mal ihren Vorgesetzten fertigmachen wollten, der sie nicht befördert habe. Auch welch unglaublichen finanziellen Vorteil die Verletzten aus der Falschbezichtigung zögen, wird behauptet.

      Dabei ist das Gegenteil der Fall. Die Regel ist, dass anzeigenden Frauen nicht geglaubt wird, dass sie einen Spießrutenlauf vor sich haben und die Wahrscheinlichkeit, dass sie am Ende eines Verfahrens ein weiteres Mal Missachtung erfahren haben, leider größer ist, als dass am Ende ein Vergewaltiger angemessen bestraft wird. Häufig ist die strafrechtliche Verfolgung ökonomisch eine Katastrophe für die Betroffenen, etwa wenn der Vergewaltiger oder Misshandler der Ehemann und Alleinverdiener war und ins Gefängnis kommt. Oder wenn der Täter etwa ein Arbeitgeber ist und besonderes Ansehen genießt. Dann wird, selbst wenn er verurteilt wird, die anzeigende Frau in dieser Branche kaum noch eine Anstellung finden, gilt sie doch als schwierig, belastet oder eben als die, die den anderen angezeigt hat. Auch die Schmerzensgeldsummen sind in Deutschland so gering, dass sie, wenn das Geld überhaupt eintreibbar ist, nicht annähernd für das Ausmaß


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