AktenEinsicht. Christina Clemm
Читать онлайн книгу.der Lücke in der Argumentation der Anklage. Sie suchen nach Zeug*innen, die die Wahrheit der Beschuldigten bestätigen oder auch nur eine andere Version des Anklagegeschehens möglich machen. Oft stochern sie im Nebel. Sie haben nicht die Möglichkeiten der Ermittlungsbehörden und häufig wenig Kapazitäten, um aufwendig selbst zu recherchieren. Sie versuchen, irgendeine Schwachstelle zu finden, ein Geheimnis, das sich nicht gut macht vor Gericht, ein Dilemma, das eine Zeug*in partiell zu Lügen verleitet, deren sie später überführt werden kann.
Verteidiger*innen machen meist keine Supervision, denn sie lassen die Fälle gar nicht an sich herankommen. Sie lesen sich Obduktionsberichte durch, begutachten Fotos von Folterspuren, lesen Aussagen schwerster Misshandlungen allein mit dem Blick durch, wo Lücken sein könnten, Ungereimtheiten, Fehler. Erfolgreich abgeschlossen sind Fälle dann, wenn die Verteidigungsstrategie zumindest teilweise durchgesetzt werden konnte.
Die Verteidiger von Kevin bringen mehrere Zeug*innen an, die aussagen, dass Claudia S. schon länger unzufrieden gewesen sei, dass es Streit unter den beiden gegeben habe, dass sie mehr wollte, als nur Kevins Schoßhund zu sein. Als Claudia S. davon hört, muss sie lachen, nie hatte es einen solchen Streit gegeben, nie hätte sie es gewagt, vor anderen Personen Unzufriedenheit mit Kevin auszudrücken, ganz abgesehen davon, dass es diese Unzufriedenheit auch nicht gab. Der Chauffeur bestätigt die Geldsumme, die Kevin angeblich nach dem Verschwinden von Claudia S. fehlte, verweigert aber die Aussage zur Herkunft des Geldes. Er kennt angeblich auch den Wert des Schmucks, den Kevin Claudia S. geschenkt hatte, und den des Pelzmäntelchens.
Die Zeug*innen sind gut instruiert, aber nicht ausreichend, um den Fragen der Verfahrensbeteiligten schlüssig und überzeugend zu begegnen. Denn wie die Verteidigung bereiteten sich auch Staatsanwaltschaft und die Nebenklagevertreterin gut auf die Beweisaufnahme vor und bringen die Zeug*innen in Erklärungsnöte.
In dieser Instanz wird auch Tobias, der Freund aus den Kindertagen von Claudia S., als Zeuge gehört. Erst nach einem Ordnungsgeld und der Androhung von Ordnungshaft erscheint er beim Gericht, sichtlich unwillig auszusagen. Letztlich redet er aber doch und berichtet, dass er nach der Party von einem ihm fremden Mann verfolgt worden sei, ein blaues Auge davongetragen habe und die klare Anweisung, nie wieder Kontakt zu Claudia S. aufzunehmen. So etwas will er auf keinen Fall wieder erleben. Und nein – ein Verhältnis mit Claudia S. habe er nie gehabt. Sie hätten an diesem Abend über alte Zeiten gesprochen, über ihre Eltern, über seine Freundin, die auch in ihrem Abschlussjahrgang war. Er habe sicher nicht mit Claudia S. geflirtet.
Am Ende ist das Gericht von der Schuld Kevins überzeugt. Nach acht Monaten Verhandlungsdauer und kaum einem Lebensbereich von Claudia S., der nicht durchleuchtet worden wäre.
Ausschlaggebend für die Kammer ist nach der mündlichen Urteilsverkündung, dass sich niemand und kein Anhaltspunkt dafür fand, dass Claudia S. Sexualpraktiken ausführte, bei denen sie sich schlagen und verletzen ließ. SM ja, aber stets als die Überlegene, nie als Geschlagene. Kevin habe die Tat auch geplant, denn er habe, nachdem Tobias gegangen sei, gegen seine Gewohnheit getrunken, wie es mehrere Zeugen bestätigt hätten. Das passe zu den Aussagen von Claudia S. gut, füge sich ins Bild, ebenso wie die Körperverletzung und Bedrohung von Tobias.
Auch der Anlass der Anzeige spreche für die Glaubhaftigkeit von Claudia S., nicht für die von Kevin.
Aber das Gericht befindet, dass die Schuld von Kevin nicht ganz so hoch anzusiedeln sei, wie es die erste Instanz geurteilt hatte. Besonders beachtlich sei, dass es eine schwierige Vorgeschichte zwischen den beiden gegeben habe, in der sich der Angeklagte aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur als minderwertig vorgekommen sei. Die Affäre der Zeugin mit dem alten Kindheitsfreund müsse zugunsten des Angeklagten unterstellt werden, auch wenn Tobias und Claudia S. dies bestritten hätten. Zumindest müsse man zugunsten Kevins unterstellen, dass er es geglaubt haben könnte. Seine Eifersucht und Wut darüber, dass die Geschädigte dies bei der von ihm organisierten und bezahlten Feier offen zur Schau getragen habe, sei deshalb nachvollziehbar, wenn sie auch die Tat nicht vollends rechtfertigen könne. Besonders zu berücksichtigen sei auch, dass die Beteiligten eine Beziehung miteinander geführt hätten und deshalb der Unwert der Tat anders, nämlich als weniger gravierend zu bewerten sei als eine Vergewaltigung durch einen Fremdtäter. Auch müsse gesehen werden, dass die Geschädigte sich gerade von der »aggressiven Männlichkeit« des Angeklagten, die ihr letztlich zum Verhängnis wurde, angezogen gefühlt habe und sie, wenn man auch nicht von einer Mitschuld sprechen könne, doch konstatieren müsse, dass die Tat unter einem anderen Vorzeichen stünde, als wenn sie sich einen anderen Partner gesucht hätte.
Es gibt wenige Untersuchungen darüber, welche Folgen Vergewaltigungen für die Betroffenen haben. Eine wissenschaftliche Untersuchung, die vergleichend darstellt, ob eine Vergewaltigung durch einen Fremdtäter oder den aktuellen oder letzten Sexualpartner folgenschwerer ist, gibt es nicht. Dennoch wird an deutschen Gerichten der Umstand, dass die Vergewaltigung durch den Intimpartner verübt wurde, häufig strafmildernd bewertet. Dabei könnte man genau das Gegenteil annehmen. Denn es gibt Untersuchungen im Bereich der allgemeinen Gewalt, dass gerade Gewalt im sozialen Nahbereich besonders traumatisierend wirkt, weshalb in der sogenannten Istanbul-Konvention, dem Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, auch ausdrücklich aufgeführt ist, dass als strafschärfend berücksichtigt werden kann, wenn eine Tat gegen eine andauernde oder ehemalige Lebenspartnerin ausgeführt wird.14
Es gibt kaum einen anderen Deliktsbereich, in dem auf die ein oder andere Weise den Opfern direkt oder indirekt eine Mitschuld für die Tat zugeschrieben wird. Sei es der altbekannte zu kurze Rock, das zu laszive oder wahlweise zu frivole Verhalten, die Ambivalenz, der Drogenkonsum, die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von dem Täter – immer wieder werden Begründungen gesucht und gefunden, um die Schwere der Taten zu relativieren. So etwa, dass zugunsten eines Beschuldigten das Vorverhalten der Geschädigten spräche, die in der vorangegangenen Nacht auf den Beschuldigten, »den sie erst unmittelbar zuvor kennen gelernt hatte, offensiv und auch mit ihren körperlichen Attributen kokettierend zugegangen war und mit ihm einverständlich den Geschlechtsverkehr ausgeführt habe«15.
Kevin wird wegen eines minder schweren Falls der sexuellen Nötigung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Am Tag der Urteilsverkündung kommt er frei.
Claudia S. hört sich das Urteil an, auch die Anordnung, dass Kevin sofort aus der Haft zu entlassen ist. Erschrocken sieht sie sich im Gerichtssaal um und verlässt noch während der mündlichen Urteilsverkündung mit ihrer Anwältin eilig das Gebäude durch einen Hintereingang und rennt dann weg. Danach ist sie verschwunden. Sie ist nicht mehr erreichbar, nicht für ihre Anwältin, nicht für die Polizei, nicht für die Familie, nicht einmal für ihre beste Freundin Anke. Erst nach einer Woche erhält Anke ein Lebenszeichen und die Anweisung, dass sie und die Anwältin sie nicht suchen sollen.
Manchmal kommt es dazu, dass Mandant*innen viele Jahre später wieder am Tisch der Anwältin sitzen. Meist geht es dann um etwas vollkommen anderes, manchmal um Scheidungen, manchmal um Verkehrsunfälle, um neue Straftaten, die an ihnen begangen wurden, oder um Straftaten, die ihnen vorgeworfen werden.
Und so sind acht Jahre vergangen, bis Claudia S. erneut bei der Anwältin am Tisch sitzt und diese erfährt, wie es nach dem Urteil für Kevin weiterging. Damals verließ Claudia S. fluchtartig das Land, jobbte im Ausland wieder als Domina. Sie verdiente gut. Ein paar Jahre machte sie das, bis eine Freundin sie überredete, zu studieren. Sie beschaffte sich die notwendigen Papiere durch ihre Eltern, bekam im Ausland einen Studienplatz und jobbte weiter nebenbei in einem Salon. Nach ein paar Jahren und mit einem Master in Psychologie kehrte sie zurück nach Berlin. Sie hat mit ihrer Therapieausbildung begonnen, ist aktiv in einer Frauengruppe, lebt in einem Haus am Stadtrand.
Der Anwältin legt Claudia S. beim Wiedersehen eine »Vorladung zur Beschuldigtenvernehmung« auf den Tisch. Der Vorwurf: Schwerer Hausfriedensbruch unter anderem. Dazu soll sie angehört werden.
Die Anwältin rät ihr, der Vorladung nicht zu folgen und zunächst die Akteneinsicht abzuwarten. Als die Anwältin die Akteneinsicht von der Staatsanwaltschaft bekommt, ergibt sich folgendes Bild:
Dem Polizeibericht ist zu entnehmen, dass circa fünfzig