Das Tal der Angst. Sir Arthur Conan Doyle

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Das Tal der Angst - Sir Arthur Conan Doyle


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      »Haben Sie schon etwas herausgefunden?«

      War es Einbildung, dass ich aus dieser Frage eher einen besorgten als einen hoffnungsvollen Unterton herauszuhören glaubte?

      »Wir haben alle erforderlichen Schritte eingeleitet, Mrs Douglas«, antwortete der Inspektor. »Sie dürfen darauf vertrauen, dass wir nichts unversucht lassen.«

      »Scheuen Sie keine Kosten«, sagte sie mit tonloser, flacher Stimme. »Ich möchte, dass alles nur Erdenkliche getan wird.«

      »Vielleicht können Sie uns helfen, etwas Licht in die Sache zu bringen.«

      »Ich glaube kaum, aber ich stehe Ihnen mit allem, was ich weiß, zur Verfügung.«

      »Wir haben von Mr Barker erfahren, dass Sie die L … – dass Sie das Zimmer, in dem die Tragödie sich ereignet hat, nicht betreten haben.«

      »Das stimmt. Er hat mich an der Treppe aufgehalten und mich gebeten, umzukehren und wieder in mein Zimmer hinaufzugehen.«

      »Ganz recht. Sie haben also den Schuss gehört und sind sofort heruntergekommen.«

      »Ja, ich habe nur meinen Morgenrock übergeworfen und bin sogleich hinuntergegangen.«

      »Wie viel Zeit ist vergangen zwischen dem Moment, wo Sie den Schuss gehört haben, und Ihrem Zusammentreffen mit Mr Barker an der Treppe?«

      »Vielleicht ein paar Minuten. In solchen Situationen denkt man nicht an die Zeit. Er beschwor mich, nicht weiterzugehen. Er versicherte mir, dass ich nichts tun könne. Dann brachte Mrs Allen, unsere Haushälterin, mich wieder nach oben. Es war alles wie in einem schrecklichen Traum.«

      »Können Sie ungefähr sagen, wie lange Ihr Gatte sich im Erdgeschoss aufgehalten hat, bevor Sie den Schuss gehört haben?«

      »Nein, das kann ich leider nicht. Er war in seinem Ankleidezimmer, und ich habe gar nicht gehört, dass er nach unten gegangen ist. Er machte jeden Abend seine Runde durch das Haus, denn er sorgte sich wegen einer möglichen Feuergefahr. Das ist übrigens das Einzige, worüber ich ihn je besorgt gesehen habe.«

      »Das ist genau der Punkt, über den ich mit Ihnen sprechen möchte, Mrs Douglas. Sie haben Ihren Gatten in England kennengelernt, nicht wahr?«

      »Ja. Wir sind seit fünf Jahren verheiratet.«

      »Hat er Ihnen jemals von einem Vorkommnis in Amerika erzählt, das für ihn eine Gefahr sein könnte?«

      Mrs Douglas dachte eine Weile nach, bevor sie antwortete.

      »Ja«, sagte sie schließlich. »Ich habe immer gespürt, dass eine Gefahr über ihm hängt. Aber er wollte nicht mit mir darüber sprechen. Nicht etwa aus Mangel an Vertrauen – zwischen uns herrschte wahre Liebe und volles Vertrauen –, sondern weil er mir Kummer ersparen wollte. Er wusste, dass ich darüber nachgrübeln würde, deshalb sagte er lieber nichts.«

      »Wie haben Sie dann davon erfahren?«

      Ein rasches Lächeln flog über Mrs Douglas’ Gesicht.

      »Glauben Sie, ein Ehemann kann sein ganzes Leben lang ein Geheimnis mit sich herumtragen, ohne dass die Frau, die ihn liebt, es merkt? Ich habe auf viele Arten davon erfahren. Durch seine Weigerung, über bestimmte Zeiten in seinem Leben in den Vereinigten Staaten zu sprechen. Durch bestimmte Vorsichtsmaßnahmen, die er ergriff. Durch Worte, die er gelegentlich fallen ließ. Durch die Art und Weise, wie er unerwartet auftauchende Fremde beobachtete. Ich war sicher, dass er mächtige Feinde hatte und dass er glaubte, sie seien ihm auf der Spur, und dass er ständig vor ihnen auf der Hut war. Ich war mir so sicher, dass ich jahrelang vor Angst vergangen bin, wenn er einmal länger als erwartet ausblieb.«

      »Darf ich fragen«, warf Holmes ein, »welche Worte es waren, die Ihnen aufgefallen sind?«

      »Das Tal der Angst«, antwortete die Lady. »Diesen Ausdruck hat er benutzt, wenn ich ihn gefragt habe. ›Ich war im Tal der Angst. Ich bin immer noch nicht heraus.‹ – ›Werden wir diesem Tal der Angst denn niemals entkommen?‹ habe ich ihn mehrfach gefragt, wenn er mir besonders bedrückt vorkam. – ›Manchmal glaube ich, nie‹, hat er geantwortet.«

      »Sie haben ihn doch bestimmt gefragt, was es mit diesem ›Tal der Angst‹ auf sich hatte?«

      »Natürlich, aber dann wurde sein Gesicht schrecklich düster, und er hat nur den Kopf geschüttelt. ›Es ist schlimm genug, dass einer von uns in seinem Schatten leben muss‹, hat er gesagt. ›Gott gebe, dass dieser Schatten niemals auf dich fällt.‹ Es war offenbar ein wirkliches Tal, in dem er gelebt hat und in dem sich irgendetwas Schreckliches zugetragen hat – da bin ich mir ziemlich sicher, aber mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

      »Hat er denn nie irgendwelche Namen genannt?«

      »Doch. Vor drei Jahren, als er diesen Jagdunfall hatte und danach im Fieber delirierte. Da kam ein Name immer wieder über seine Lippen. Er sprach ihn zornig aus, aber auch mit einer Art von Entsetzen. McGinty war der Name – Logenmeister McGinty. Als er wieder gesund war, habe ich ihn gefragt, wer dieser Logenmeister McGinty ist und wessen Meister er sei. ›Nicht meiner, Gott sei Dank!‹ hat er geantwortet, aber mehr konnte ich nicht aus ihm herausbringen. Doch es muss eine Verbindung geben zwischen diesem Logenmeister McGinty und dem ›Tal der Angst‹.«

      »Ich möchte Sie noch zu einem anderen Punkt etwas fragen«, sagte Inspektor MacDonald. »Sie haben die Bekanntschaft von Mr Douglas in einer Londoner Pension gemacht, nicht wahr? Und Sie haben sich dort mit ihm verlobt? Hatte diese Verbindung etwas Romantisches, oder vielleicht auch etwas Verstohlenes oder Mysteriöses?«

      »Es war romantische Liebe. Das muss auch so sein. Da gab es nichts Mysteriöses.«

      »Es gab keinen Rivalen?«

      »Aber nein, ich war vollkommen ungebunden.«

      »Sie haben sicherlich erfahren, dass sein Ehering verschwunden ist. Haben Sie dazu irgendeine Vermutung? Angenommen, ein Verfolger aus seinem früheren Leben in Amerika hat ihn aufgespürt und das Verbrechen verübt – welchen Grund könnte dieser haben, den Ehering zu entwenden?«

      Ich hätte schwören können, dass für einen Augenblick ein kaum merkliches Lächeln um ihre Lippen zuckte.

      »Dazu kann ich wirklich nichts sagen«, antwortete sie. »Das ist zweifellos sehr seltsam.«

      »Gut, dann wollen wir Sie nicht länger aufhalten«, sagte der Inspektor. »Es tut uns sehr leid, Sie zu einem solchen Zeitpunkt belästigen zu müssen. Wir haben bestimmt noch ein paar weitere Fragen, damit werden wir uns zu gegebener Zeit an Sie wenden.«

      Sie erhob sich, und wieder bemerkte ich jenen raschen forschenden Blick, mit dem sie uns musterte, als wollte sie fragen: ›Welchen Eindruck hat meine Aussage auf Sie gemacht?‹ Sie hätte diese Frage genauso gut laut stellen können. Dann neigte sie anmutig den Kopf und schwebte aus dem Zimmer.

      »Eine schöne Frau – eine auffallend schöne Frau«, sagte MacDonald nachdenklich, nachdem die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte. »Dieser Barker ging hier offenbar ein und aus. Er ist genau der Typ Mann, den viele Frauen attraktiv finden. Er gibt zu, dass der Tote eifersüchtig war, und vielleicht weiß er selbst am besten, dass das nicht grundlos war. Und dann die Geschichte mit dem Ehering. Darum kommen wir nicht herum. Ein Mörder, der den Trauring von der Hand eines Toten reißt – was sagen Sie dazu, Mr Holmes?«

      Mein Freund hatte schweigend dagesessen, den Kopf in die Hände gestützt, tief in Gedanken versunken. Nun stand er auf und zog die Klingel.

      »Ames«, sagte er, als der Butler erschien, »wo ist Mr Barker momentan?«

      »Ich werde nachsehen, Sir.«

      Wenig später kehrte er zurück und meldete, Mr Barker sei im Garten.

      »Können Sie sich erinnern, Ames, was Mr Barker an den Füßen trug, als Sie ihn gestern Nacht im Arbeitszimmer angetroffen haben?«

      »Jawohl, Mr Holmes. Er trug Pantoffeln. Ich brachte ihm seine Stiefel, als er zur Polizei laufen wollte.«


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