Selbstfürsorge für Dummies. Eva Kalbheim
Читать онлайн книгу.Man unterscheidet beim Thema Bedürfnisbefriedigung in der Erziehung die Vernachlässigung und die Verwöhnung. Vernachlässigen bedeutet, ein Kind mit seinen Bedürfnissen alleinzulassen und ihm dadurch zu viel und zu früh Verantwortung aufzubürden. Verwöhnen hingegen beginnt, wo jede Herausforderung fehlt und alle Bedürfnisse des Kindes sofort befriedigt werden. Und verwöhnt-verwahrloste Kinder werden emotional sich selbst überlassen, dann aber aus schlechtem Gewissen heraus mit materiellen Dingen überhäuft. Diese unterschiedlichen Erziehungsdefizite haben ähnlich schwere Folgen. Sowohl vernachlässigte als auch verwöhnte und verwöhnt-verwahrloste Kinder wachsen nicht selten zu Menschen heran, die
Angst vor neuen Anforderungen haben,
kein Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten spüren,
die Schuld für ihr Versagen auf andere schieben,
schnell resignieren,
anfällig für Suchtverhalten sind,
nur wenig Ausdauer zeigen und
alles haben wollen, und zwar am besten sofort.
Kurzum, sie werden zu Menschen mit geringer oder fehlender Frustrationstoleranz. Versuchen Sie sich zu erinnern, wie Ihre Eltern mit Ihren Bedürfnissen umgegangen sind:
Waren Ihre Eltern an Ihnen interessiert, haben gefragt und zugehört?
Waren die Entscheidungen Ihrer Eltern für Sie nachvollziehbar?
Sind Ihre Eltern bei ihrem »Ja« und »Nein« geblieben oder hieß es eigentlich immer nur »Vielleicht«?
Wurden Versprechen eingehalten und Verabredungen ernst genommen?
Gab es klare Grenzen und auch Konsequenzen für das Übertreten der Grenzen?
Haben Ihre Eltern Ihnen etwas zugetraut und Sie angespornt?
Wurden Sie getröstet, wenn etwas nicht geklappt hat?
Haben Ihre Eltern Sie gelobt?
Hatten Sie Rechte und Pflichten in Ihrer Familie?
Wurden Konflikte ausgetragen oder unter den Teppich gekehrt?
Haben Sie am Vorbild Ihrer Eltern gelernt sich zu entschuldigen, wenn Sie Fehler machen?
Viele Menschen geben den Erziehungsstil der eigenen Eltern unreflektiert an die nächste Generation weiter, obwohl sie eigentlich alles viel besser machen wollten. Reflektieren Sie Ihren Umgang mit Ihren Kindern: Wenn Sie feststellen, dass Sie Ihre Kinder verwöhnen oder vernachlässigen, denken Sie über die Gründe dafür nach und versuchen Sie, Ihren Erziehungsstil zu verändern. Lassen Sie sich dabei unterstützen, wenn Sie überfordert sind. Erziehungsberatung ist in Deutschland eine Leistung der Kinder- und Jugendhilfe.
Ich-Stärke und Frustrationstoleranz werden zwar in der Kindheit geprägt, entwickeln sich aber im Leben fortlaufend weiter. Sie können Ihre Frustrationstoleranz erhöhen, indem Sie bei zwei widerstrebenden Bedürfnissen ganz bewusst entscheiden, welchem Bedürfnis Sie Vorrang einräumen, und zu dieser Entscheidung stehen, auch wenn es sich gerade nicht besonders gut anfühlt. Beim Thema Selbstfürsorge stehen sich beispielsweise folgende Bedürfnisse gegenüber:
das Bedürfnis nach einer Ruhepause und das Bedürfnis, eine Arbeit zu Ende zu bringen oder etwas Wichtiges zu erledigen,
das Bedürfnis nach angenehmer Freizeitbeschäftigung und das Bedürfnis, sich für andere Menschen zu engagieren.
Egal wofür Sie sich entscheiden, Sie frustrieren jeweils eines der beiden Bedürfnisse. Prüfen Sie, ob sich bei Ihnen die Frustration einigermaßen gleichmäßig verteilt, ob Sie also manchmal das Bedürfnis nach Selbstfürsorge befriedigen (Ruhepause, angenehme Freizeitgestaltung) und beim nächsten Mal die fremdfürsorglichen Bedürfnisse (Arbeit erledigen, anderen Menschen helfen). Wenn Ihre jeweilige Entscheidung fundiert ist und Sie sich dazu bekennen, sinken die negativen Gefühle und Ihre Frustrationstoleranz steigt.
Besonders interessant sind die Fälle, in denen sich zwei eigene Bedürfnisse entgegenstehen, die einen unterschiedlichen Zeithorizont haben, etwa:
das Bedürfnis nach einer leckeren Mahlzeit und das Bedürfnis, einen schlanken Körper zu haben,
das Bedürfnis nach etwas Materiellem und das Bedürfnis, sein Geld zusammenzuhalten.
Hier geht es um momentane Selbstfürsorge (leckeres Essen, materielle Wünsche) und langfristige Selbstfürsorge (schlank bleiben, sparen), die sich idealerweise ebenfalls die Waage halten sollten: Lassen Sie es sich immer mal wieder im Moment gut gehen, behalten Sie aber auch Ihre mittel- und langfristigen Ziele im Blick. Führen Sie sich vor Augen, dass manche Vorhaben nur umsetzbar sind, wenn Sie Selbstdisziplin üben und kurzfristige Bedürfnisbefriedigung aufschieben oder ganz darauf verzichten. Ist das längerfristige Ziel attraktiv genug, steigt Ihre Frustrationstoleranz fast von allein.
Fällt es Ihnen oft schwer, ein kurzfristiges Bedürfnis aufzuschieben, um ein längerfristiges Bedürfnis zu befriedigen? Dann haben Sie vielleicht ein Problem mit Ihrem inneren Schweinehund, der Sie immer wieder dazu verführt, den Augenblick zu genießen und auf langfristige Ziele zu pfeifen. Lesen Sie mein Buch Den inneren Schweinehund bändigen für Dummies, um künftig eine friedliche Koexistenz mit Ihrem Bremser führen zu können.
Neinsagen lernen
Um eigene Bedürfnisse konsequent zu befriedigen, werden Sie immer wieder »Nein« sagen müssen – entweder zu anderen Menschen, die ihre Bedürfnisse für wichtiger halten, oder zu Ihren eigenen Bedürfnissen, die dem aktuellen Wunsch zuwiderlaufen. Bevor Sie heute Abend ins Bett gehen, schätzen Sie bitte einmal, wie oft Sie im Verlauf des Tages »Nein« gesagt haben und wie oft Sie »Nein« sagen wollten, dann aber doch ein »Vielleicht« oder »Ja« aus Ihrem Mund herauskam. Wenn Sie noch nicht müde sind, analysieren Sie die Situationen, die Ihnen eingefallen sind (oder verschieben Sie die Analyse auf morgen früh):
Sie wollten einen anderen Menschen nicht enttäuschen oder zurückweisen.
Sie haben es nicht gewagt, für Ihr Bedürfnis einzustehen.
Das Bedürfnis eines anderen Menschen erschien Ihnen wichtiger als Ihr eigenes.
Sie befürchteten unangenehme Konsequenzen, falls Sie »Nein« sagen würden.
Sie fühlten sich überrumpelt, erpresst oder unter Druck gesetzt.
Sie wurden manipuliert.
Ihnen fielen keine guten Gründe für Ihr »Nein« ein.
Das Wörtchen »Ja« ist Ihnen einfach so rausgerutscht.
In dem Moment war es bequemer, »Ja« zu sagen.
Sie wollten nicht ausgeschlossen werden oder etwas verpassen.
Sie sind froh, wenn Sie gebraucht werden, und stellen dafür Ihre eigenen Bedürfnisse zurück.
Ihnen war gar nicht bewusst, dass Sie eigentlich »Nein« sagen wollten.
Vermutlich fallen Ihnen noch ganz andere Gründe ein, weshalb es schwierig war, für Ihr »Nein« einzustehen. Seien Sie nicht böse auf sich, sondern nutzen Sie Ihre Analyse als Lernchance. Je besser Sie sich kennen, desto einfacher ist es abzuwägen, welche inneren und äußeren Konsequenzen das Neinsagen für Sie hat. Und je besser Sie die Konsequenzen abschätzen können, desto leichter können Sie sich für ein bewusstes »Nein« entscheiden, um Ihre Selbstfürsorge zu verbessern.