Internationale Beziehungen. Anja Jetschke
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Die massive Expansion Frankreichs unter Napoleon ist für Europa ungewöhnlich, stellt ansonsten aber einen globalen Trend der Zeit dar, mit dem Unterschied, dass Frankreich bestehende staatliche Gebilde vereinnahmt. Dies wird auf den globalen Landkarten, Tafel IV und V (S. 424–427), deutlich. Fast alle Staaten expandierten territorial ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Russland und China weiteten ihre Territorien ab Mitte des 18. Jahrhunderts massiv aus, ab Mitte des 19. Jahrhunderts beobachten wir diesen Prozess auch für die USA, und in gewisser Hinsicht auch für Deutschland und Italien mit den Einigungsbestrebungen ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Landnahme setzt sich insbesondere ab 1850 fort mit der kolonial-überseeischen Expansion Großbritanniens und Frankreichs, gefolgt von Belgien, Deutschland, Italien in Afrika und Asien und Japan in Ostasien. Andere Staaten – wie die USA, Deutschland und Russland – expandieren kontinental. Insgesamt lässt sich eine territoriale Expansion, verbunden mit der Entstehung von FlächenstaatenEntstehung von Flächenstaaten, in einem globalen Maßstab beobachten.
Das Territorium Chinas verdoppelte sich innerhalb von 60 Jahren. Ausgehend von den Kernprovinzen des Mandschu-Reiches im 17. Jahrhundert, kamen 1697 zunächst die Mongolei, dann Tibet (1724) und schließlich Sinkiang dazu (1757). Verschiedene außerchinesische Staaten waren dem Mandschu-Kaiser gegenüber tributpflichtig, wie Korea, Annam (das heutige Vietnam), Nepal, Myanmar und sogar Teile Westindiens.
Russland erweiterte sein Territorium sukzessive in Richtung Süden und Osten. Die ersten Gebietserweiterungen bis an den Pazifik hatten sich bereits bis 1650 vollzogen. In den 100 Jahren zwischen 1720 und 1820 schob sich das russische Reich von Moskau bis ans Schwarze Meer vor und umfasste Teile Polens. Der Südosten wurde innerhalb von 70 Jahren ab 1822 nach mehreren Kriegen mit dem Osmanischen Reich in den russischen Herrschaftsbereich integriert und erstreckte sich nun bis nach Afghanistan. Die Grenzen im Südwesten bildeten Sinkiang (das heutige uighurische, autonome Gebiet Xinjiang in China), die Mongolei und die Mandschurei.
Das Territorium der USA vergrößerte sich zwischen 1815 und 1889 durch systematische Gebietserwerbungen von den ursprünglich 13 Staaten an der Ostküste bis zur Westküste. Den Startschuss für diese Expansion gab das Ende der Kriegshandlungen zwischen Großbritannien und den USA 1814. Die US-kanadische (britisch-nordamerikanische) Grenze wurde in zwei Grenzverträgen 1818 und 1846 festgelegt. Unterbrochen wurde diese Expansion lediglich durch den amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865), während dessen sich die Südstaaten über die Frage der Sklaverei von den Nordstaaten abspalteten.
Großbritannien vollzog im selben Zeitraum, begünstigt durch die Konzentration der anderen Mächte auf ihr kontinentales Umfeld, eine nahezu ungehinderte Expansion im überseeisch-kolonialen Raum. Mit der Kolonialisierung Indiens, Kanadas, Australiens und Neuseelands legte es die Grundlagen des modernen Empires. Insgesamt entstanden also nicht nur größere, sondern an den Rändern dieser Flächenstaaten auch mehr Nationen.
In Folge dieser Expansion kam es nicht nur zur Vereinnahmung ganzer Völker, sondern auch zu einer Reihe von Grenzkonflikten, die alleine dadurch entstehen konnten, dass Gemeinwesen sukzessive aneinander grenztenEntstehung neuartiger Grenzkonflikte.
NationalstaatlicheNationalstaat Entwicklung und die Verbreitung unabhängiger Verfassungsstaaten
Internationale Beziehungen waren zwischen 1815 und 1919 durch einen aufkommenden Nationalismus geprägt, der einen fundamentalen innerstaatlichen StrukturwandelInnerstaatlicher Strukturwandel: Nationalismus und Volkssouveränität innerhalb der Staatenlandschaft nach sich zog. Zwar gab es Nationalismus auch schon vor der amerikanischen und französischen Revolution, aber er war auf kleine Gruppen oder Eliten beschränkt. Jetzt nahm er Massencharakter an. Die Bedeutung des Nationalismus lag darin, dass er, so Erbe (2004: 83), alle anderen existierenden Gruppenbindungen, wie feudale Bindungen, die Bindung an einen Stand, eine Landschaft, ein Dorf oder eine Dynastie überformte. Daraus entsprang die Idee der Volkssouveränität. Die Ideen der Freiheit und bürgerlichen Rechte, der Nation und nationalen Selbstbestimmung der amerikanischen und französischen Revolutionen wirkten sich unmittelbar auf die Verfasstheit der Staaten aus. Das 19. Jahrhundert war „ausgefüllt vom Kampf zwischen den Prinzipien der VolkssouveränitätVolkssouveränität und des Selbstbestimmungsrechts auf der einen und von der Idee des Gottesgnadentums des Monarchen auf der anderen Seite“ (Erbe 2004: 84). Ausgelöst durch die Revolutionen von 1830 und 1848 in Westeuropa einerseits und als Nebeneffekt des Kampfes gegen die Napoleonische Herrschaft andererseits sind überall in Europa, an den Grenzen des Osmanischen Reichs und in Lateinamerika jeweils neue, unabhängige Staaten zu beobachten.
Die Effekte dieses Strukturwandels zeigten sich besonders in zwei Regionen: in Lateinamerika und in Europa, hier vor allem in Ost- und SüdosteuropaGeographische Ausbreitung von Verfassungsbewegungen.
In Lateinamerika führten nationalistische und verfassungsrechtliche BewegungenVerfassungsbewegung (19. Jh.) zur DekolonisationKolonialisierungLateinamerika beziehungsweise Unabhängigkeit. Nach dem Vorbild der USA emanzipierten sich die portugiesischen und spanischen Kolonien unter Führung von Simón Bolivar von ihren europäischen Herrschern.Lateinamerika: Dekolonisation Allerdings folgten die Unabhängigkeitserklärungen nicht direkt aus der amerikanischen Revolution. Erst die Machtübernahme Madrids durch Napoleon im Jahre 1808 lockerte den Zugriff Spaniens auf seine Kolonien und ermöglichte die Unabhängigkeit des südamerikanischen Kontinents. Argentinien erklärte 1810 seine Unabhängigkeit. Bis 1825 waren die ehemals spanischen und portugiesischen Kolonien des südamerikanischen Kontinents selbstständige Staaten. Großbritannien und Frankreich unterstützten die Unabhängigkeit dieser Staatengruppe aus dem Interesse heraus, die Herrschaft Spaniens auf dem Kontinent zu beenden. Ähnlich zum Wiener Kongress etablierten die neuen Regierungen in Lateinamerika 1826 den Kongress von Panama als regionale Institution zur Regelung zwischenstaatlicher Angelegenheiten.
Der Kongress von Panama
Der Kongress von Panama stellte das erste System kollektiver Sicherheit dar und von ihm gingen später wesentliche Impulse für das Prinzip der Streitschlichtung des Völkerbunds aus. Anders als der Wiener Kongress verstand sich der Kongress von Panama als ein gegen äußere Angriffe gerichtetes System, das sich dem Schutz der Demokratie gegen die Interventionspolitik des Wiener Kongresses verschrieb. Die lateinamerikanischen Staaten fürchteten, dass die in der Quadrupelallianz vereinigten Mächte die Interventionspolitik des Wiener Kongresses auch gegenüber ihren Kolonien durchsetzen würden.
In Europa fördern VerfassungsbewegungenVerfassungsbewegung (19. Jh.) die nationale Selbstbestimmung und Unabhängigkeit vieler StaatenEuropa und Balkan/Südosteuropa: Staatliche Unabhängigkeit. Belgien erlangte in dieser Zeit die Unabhängigkeit von den Vereinigten Niederlanden. In Deutschland, Polen, Ungarn und Italien entstanden Nationalbewegungen. In Polen und weiten Teilen Österreichs ging es dabei um die Befreiung von Fremdherrschaft, in Deutschland und Italien um die Gründung von NationalstaatNationalstaaten. Der Wiener KongressWiener Kongress entwickelte vor diesem Hintergrund eine Interventionspolitik, die zur Niederschlagung der meisten revolutionären Bewegungen von 1848 führte. Aber er konnte insbesondere die Einigung Deutschlands und Italiens nicht verhindern. Italien entwickelte sich zwischen 1859 und 1870 von einem „geographischen Begriff“ (Metternich, zitiert nach Rudolf/Oswalt 2010: 150) zum NationalstaatNationalstaat. Seine Herrschaftsbereiche wurden mit Unterstützung Frankreichs sukzessive vereint.
Auf dem Balkan und in Südosteuropa verbreiteten sich revolutionäre Bewegungen mit einer rasanten Geschwindigkeit. Diese stellten vor allem für das Osmanische Reich eine große Herausforderung dar, das an seiner Westgrenze deutliche Zerfallserscheinungen verzeichnete, die von den europäischen Mächten Frankreich, Großbritannien und Russland für ihre eigenen Interessen instrumentalisiert wurden. Als viraler Schwachpunkt erwiesen sich hier unter anderem die Ionischen Inseln. Diese hatten während der Napoleonischen Kriege unter britischer Besatzung 1809 eine demokratische Verfassung erhalten. 1821 rebellierten die Griechen gegen das Osmanische Reich und forderten eine mit der ionischen Verfassung vergleichbare Verfassung und ihre Unabhängigkeit. Die griechische Rebellion wiederum